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Artikel 1 [Menschenwürde; Menschenrechte; Grundrechtsbindung]

(1) 1 Die Würde des Menschen ist unantastbar. 2 Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.

I. Grundrecht der Menschenwürde

1. Bedeutung des Grundrechts

In der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland bildet die an die Spitze gestellte und gem. Art. 79 III für unabänderlich erklärte Menschenwürde den Mittelpunkt des grundgesetzlichen Wertsystems (BVerfGE 35, 202 (225); 39, 1 (43)). Art. 1 I kann aufgrund der ausdrücklichen Anordnung in Art. 142 als eigenständiges Grundrecht aufgefasst werden (vgl. auch BVerfGE 61, 126 (137)). Gem. Art. 151 I 1 WRV stellte die „Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins“ im Rahmen des Abschnitts über das Wirtschaftsleben nur eine Zielbestimmung dar. Die grundgesetzliche Würdeverbürgung ist vor allem als Reaktion auf die nationalsozialistische Diktatur und die Vereinnahmung des Individuums zugunsten der Gemeinschaft zu verstehen. Art. 1 I des im Jahre 1948 verfassten und dem Parlamentarischen Rat als Vorlage dienenden Entwurfs des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee enthielt folgende Formulierung: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“. Im Zusammenhang mit einer von christlichen, liberalistisch-aufklärerischen und bürgerlichen Traditionen geprägten Humanität, die den Menschen als mit Vernunft und Willensfreiheit ausgestattetes einzigartiges Lebewesen versteht, soll das Menschenwürdepostulat dem Einzelnen nicht nur eine möglichst weitgehende Entfaltung seiner Persönlichkeit unabhängig von staatlichen Direktiven gewähren, sondern auch die Beachtung humanitärer Mindeststandards garantieren. Wie das BVerfG in einer seiner ersten Entscheidungen formulierte, geht es dabei um den Schutz vor „Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw.“ (BVerfGE 1, 97 (104)).

Seit Inkrafttreten des Grundgesetzes hat sich die Bedeutung der Menschenwürde ständig erweitert. Mittlerweile geht es nicht mehr nur um die Abwehr totalitärer Herrschaftsformen. Vielmehr bildet die Menschenwürde in einer pluralistischen und säkularisierten Gesellschaft einen unumstößlichen Wert und fungiert als „zivilreligiöser Anker“ (Dreier/Dreier Art. 1 I Rn. 43). „Wo alles zerbröselt, was herkömmlich der Gesellschaft Zusammenhalt bot, christliche Religion und kulturelle Überlieferung, bürgerliche Lebensform und nationale Solidarität, findet die Gesellschaft zur Einheit im Bekenntnis zur Menschenwürde und erlangt so etwas wie einen Zustand moralischer Grundsicherheit“ (Isensee AöR 131 [2006], 173 (178)). Allerdings beruht die breite Zustimmung, die das Bekenntnis zur Menschenwürde genießt, auch auf seinem hohen Abstraktionsgrad (Hilgendorf JbRuE 7 [1999], 137 (138)). Dieser und das Gewicht der Menschenwürdegarantie laden dazu ein, sich dieses Topos’ als Passepartout zur Untermauerung der eigenen Argumentation zu bedienen. Ein Beispiel für die Omnipräsenz des Menschenwürdearguments ist die gegenwärtige bioethische Diskussion. In Anbetracht der Tatsache, dass durch den biotechnologischen Fortschritt nicht nur fundamentale Rechtsgüter wie Leben und körperliche Unversehrtheit, sondern auch das Grundverständnis des Menschen von sich selbst betroffen ist, wird der Rekurs auf Art. 1 I verständlich. Zu bedenken ist jedoch, dass die Menschenwürde sich weder auf ein bestimmtes Verhalten eines Grundrechtsträgers bezieht noch in einem näher bestimmten Kontext steht (wie dies in der Weimarer Reichsverfassung der Fall war), sodass die Konkretisierung und Applikation auf konkrete Sachverhalte ein sehr schwieriges Unterfangen ist (Höfling JuS 1995, 857 (858)).

2. Sachlicher Schutzbereich

Zur positiven Konkretisierung des Menschenwürdebegriffs lassen sich zwei unterschiedliche Ansätze heranziehen: die klassischen Werttheorien und die leistungsbezogenen bzw. kommunikationstheoretischen modernen Ansätze.

a) Klassische Werttheorien

Gem. der Wert- oder Mitgifttheorie ist die Würde eine dem Menschen entweder durch Gott oder die Natur kraft seiner bloßen Existenz verliehene Eigenschaft (vgl. zum christlichen Verständnis des Menschen als „Ebenbild Gottes“ MKS/Starck Art. 1 Rn. 5 ff.). Unabhängig davon, ob Inhalt und Ursprung der Menschenwürde christlich oder naturrechtlich-idealistisch interpretiert werden, ist beiden Ansichten gemeinsam, dass die Menschenwürde weder durch politische Macht verliehen noch durch eigenes Bestreben erworben oder verloren werden kann. Ursprung der Würde ist die Existenz des Menschen selbst.

Ist die Würde dem Menschsein aufgrund der Natur (bzw. seines göttlichen Ebenbildes) verliehen, folgt daraus auch, dass sie indisponibel ist. Verständlich wird dies vor dem Hintergrund der praktischen Philosophie der Aufklärung, die zwischen Wert und Würde unterscheidet. Wert bezeichnet die Schätzung einer Sache im Vergleich zu einer anderen; mithin kann ihm ein „Marktpreis“ zuerkannt werden. Würde hingegen ist ein absoluter Wert, der sich nicht adäquat bewerten lässt und der mithin auch nicht getauscht oder über den verfügt werden kann (Graf Vitzthum JZ 1985, 201 (205)). Der Würdebegriff wird ferner in der Fähigkeit des Menschen zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung verankert. Um seiner Würde willen muss dem Menschen eine möglichst weitgehende Entfaltung seiner Persönlichkeit zuerkannt werden, was wiederum impliziert, dass diese Gewissensentscheidung auch ohne weitere Begründung als Selbstzweck respektiert werden muss. „Jeder Mensch ist Mensch kraft seines Geistes, der ihn abhebt von der unpersönlichen Natur und ihn aus eigener Entscheidung dazu befähigt, seiner selbst bewußt zu werden, sich selbst zu bestimmen und sich und die Umwelt zu gestalten“ (DHS/Dürig Erstkommentierung [1958], Art. 1 I Rn. 18). Daraus folgt, dass der Mensch kraft seiner Persönlichkeit auch immer nur Zweck, niemals aber Mittel sein darf, da dies seiner Autonomie, mithin seiner Würde, widerspräche. Die Instrumentalisierung eines Menschen zu fremden Zwecken verbietet sich daher.

Die Werttheorie überzeugt zunächst durch ihre Absolutheit und kulturhistorische Genese. Wenn es sich aber bei der Menschenwürde um eine Seinsgegebenheit (vgl. Rn. 4) handelt, ist der Menschenwürdebegriff folgerichtig ein juristisches Axiom des Verfassungsrechts, das nicht begründet oder widerlegt, sondern nur in der Kontinuität der philosophischen, ethischen und rechtlichen Überlieferungen verstanden und gehandhabt werden kann. Dies begründet eine Interpretationsoffenheit, die nicht zur Bestimmung des Schutzbereiches geeignet ist. Mithin können weder christliche noch naturrechtlich geprägte Wesensbestimmungen des Menschen taugliche Subsumtionskonzepte für die konkrete Fallentscheidung liefern (Sachs/Höfling Art. 1 Rn. 13). Die große Unschärfe des mithilfe der klassischen Werttheorie konturierten Menschenwürdebegriffs birgt zudem das Risiko, dass persönliche oder nur von partikulären Gruppen getragene Vorstellungen in den Verfassungsbegriff hineininterpretiert werden. So können vollkommen konträre Auffassungen unter den Wertbegriff subsumiert werden, was in Anbetracht des staatlichen Schutzauftrages (Art. 1 I 2) verfassungsrechtlich äußerst problematisch ist.

b) Moderne Ansätze

Einen anderen Ansatz wählen die Vertreter der Leistungs- und Kommunikationstheorien. Nach ihrem Verständnis bezeichnet die Menschenwürde keinen Wert, der dem Menschen von Natur aus zukommt. Vielmehr handelt es sich um das Ergebnis eines individuellen Identitätsbildungs- und Sozialdarstellungsprozesses (Luhmann, Grundrechte als Institution, 2. Aufl. 1974, 68) oder um das sich in Prozessen und Beziehungen sozialer Anerkennung vollziehende Postulat gegenseitiger Achtung als Grundlage der solidarischen Gemeinschaft (Frankenberg KritJ 2000, 325 (328); Hofmann AöR 118 [1993], 353 (364)). Die Menschenwürde erfährt so eine staatsstrukturelle und befriedende Funktion; sie begründet die normative Einheit des Staatsvolkes sowohl als Werte- wie auch als Willensgemeinschaft. Dieses solidaritätsorientierte Verständnis von Menschenwürde kommt etwa ausdrücklich in Art. 7 I 2, II BbgVerf. zum Ausdruck.

Nach beiden Ansätzen ist dem Geltungsanspruch ein würdekonstituierender Prozess vorgeschaltet, der das Resultat entweder eigener Leistung oder gemeinschaftlicher Anerkennung ist. Da es nach beiden Ansätzen auch nicht in der Macht des Staates steht, Würde zu gewährleisten, sondern der Mensch selber bestimmen muss, was er ist und wie er wahrgenommen werden will, ist mit diesen Theorien der Begriff der Freiheit eng verknüpft (AK/Podlech Art. 1 I Rn. 20). Der Staat wird dann in die Position zurückgedrängt, die voraussetzt, dass „der Mensch genug Verstand und Erfahrung besitzt, um seine Persönlichkeit richtig zu handhaben. Insofern ist es sinnvoll, Freiheit und Würde als vorstaatliche Rechtsgüter zu betrachten“ (Luhmann, Grundrechte als Institution, 2. Aufl. 1974, 72). Die Funktion des Staates beschränkt sich darauf, die einmal erworbene Freiheit zu achten, identitätsverletzende Handlungen zu unterlassen und ggf. Bedingungen (nach Möglichkeit) bereitzustellen, die notwendig sind, damit es dem Einzelnen gelingt, den Identitätsbildungs- und Sozialdarstellungsprozess erfolgreich zu durchlaufen. Staatliche Zwangsmaßnahmen lassen hingegen ein Verhalten nicht als Produkt einer persönlichen Identität erkennbar werden und stehen im Widerspruch zu einer von dem Individuum selbst gewählten Darstellungsleistung. Das BVerfG verfolgte diese Ansätze zur Bestimmung der Menschenwürde, als es den Schutz der sozialen Dimension des Würdeanspruchs in seinen Ausführungen zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung aufgriff (BVerfGE 54, 148 (153); 65, 1 (41)). Anklänge daran finden sich in jüngster Zeit wieder: „Dem Schutz der Menschenwürde liegt die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten“ (BVerfGE 123, 267 (413); fast wortgleich BVerfGE 133, 168 (197); 153, 182 (308); BVerfG NZV 2023, 118 (125)).

Die Problematik beider Ansätze ist jedoch offensichtlich: Leistungsbezogene Ansätze implizieren, dass es – aus welchen Gründen auch immer – misslingen kann, seine Würde zu konstituieren; kommunikationstheoretische Modelle wollen belegen, dass es ebenso schnell möglich sei, seine Würde aufgrund einer einzigen Entgleisung oder Indiskretion zu verlieren. Der Mensch ist aber allein kraft seiner Existenz in der Rechtsgemeinschaft willkommen und gehört ihr als Berechtigter an: Die Verfassung nimmt den Menschen so, wie er ist – unabhängig von seinen eigenen Leistungen und ungeachtet vermeintlich „unwürdigen“ Verhaltens (BVerfGE 87, 209 (228); 152, 68 (114); 156, 182 (209)). In der Verkennung des von anderen völlig unabhängigen Würdeanspruchs, der aus verfassungshistorischen Gründen jedem Menschen wegen seines Menschseins zukommt, liegt der grds. systematische Fehler jener Theorien (vgl. MKS/Starck Art. 1 Rn. 9).

c) Bundesverfassungsgerichtliche Negativdefinition

Das BVerfG verzichtet auf die schwierige positive Bestimmung der Menschenwürde und nähert sich dem Würdegehalt ex negativo, also vom Eingriff her. Dabei bieten sich grds. zwei Wege an: Entweder man versucht, die Würdeverletzung anhand von Regelbeispielen wie „Diffamierung, Diskriminierung, Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung“ (BayVerfGH BayVBl. 1982, 50) zu bestimmen, oder man entwickelt wiederum eine abstrakte Formel, die ein mit der Würde des Menschen nicht zu vereinbarendes Verhalten definiert. Der letztgenannte Ansatz hat sich in der Judikatur des BVerfG durchgesetzt: Ausgehend von der sog. Objektformel widerspricht es der Würde des Menschen, wenn das Individuum zum bloßen Objekt staatlichen Handelns gemacht oder einer Behandlung ausgesetzt wird, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt (stRspr, zuletzt BVerfGE 109, 133 (149 f.); 116, 69 (85 f.); 117, 71 (89); 131, 268 (286); 144, 20 (207); 153, 182 (261); 156, 63 (115)).

Damit bedient sich das BVerfG zur Feststellung einer Verletzung der Menschenwürde einer Formel, die schon seit langem Gegenstand heftiger Kontroversen ist und bisweilen als leere „Floskel“ bezeichnet wird (Hoerster JuS 1983, 93 (95)). Diese Kritik findet ihre Bestätigung in dem Umstand, dass es stets eines Rekurses auf moralische Werturteile bedarf, um unakzeptable Ergebnisse der Objektformel zu vermeiden. Schließlich käme es bei einer unreflektierten Anwendung der Objektformel zu einer Subjektivierung des Menschenwürdeschutzes: Ob eine Person eine andere „bloß als Mittel“ gebraucht oder die Interaktion mit dem Anderen Selbstzweck ist, hängt von den Zielen des Handelnden ab (Hilgendorf JbRuE 7 [1999], 137 (143)). Weiterhin widerspricht die soziale Realität der Anwendbarkeit jener Formel: Es gehört nämlich zur Lebenserfahrung, sowohl von seinen Mitmenschen als auch seitens des Staates zumindest teilweise lediglich als Mittel und nicht als Zweck behandelt zu werden (Hofmann AöR 118 [1993], 353 (360); Schreiber MedR 2003, 367 (370)). Worte wie „Humankapital“ bezeugen die Objektwerdung des Individuums in der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft. Dies hat auch das BVerfG erkannt und betont, dass der Mensch letztlich nicht nur Objekt des Rechts ist, dem er sich ohne Rücksicht auf seine individuellen Interessen fügen muss, sondern auch der sozialen Verhältnisse und gesellschaftlichen Entwicklung (BVerfGE 30, 1 (25 f.)). Letztlich können daher allgemeine Formeln nur die Richtung andeuten, in der sich Fälle der Verletzung der Menschenwürde finden lassen. Abgesehen davon stößt die Verlagerung der exegetischen Last vom Schutzbereich in die Eingriffshandlung auf ein rechtsdogmatisches Problem: Letztlich kann es nicht auf die Schwere des Eingriffs ankommen, da jedem Eingriff in die Menschenwürde – unabhängig von seiner Schwere – die Verfassungswidrigkeit innewohnt. Mithin bedarf es auch aus diesem Grund einer Korrektur.

d) Gemischte Formel

Da keine der vorangestellten Varianten zweifelsfreie Aussagen darüber erlaubt, wie der Schutzbereich der Menschenwürde und folgerichtig auch ein Eingriff in ebendiesen abstrakt formuliert werden kann, gibt es Versuche, die Modelle zu kombinieren. Ausgangspunkt bleibt dabei die Objektformel. Sie kann aber um den in den modernen Ansätzen skizzierten Subjektbegriff erweitert werden. Dieses Subjekt ist die „mit der Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung begabte ‚Persönlichkeit‘“ (BVerfGE 5, 85 (204); vgl. ferner BVerfGE 32, 98 (107 f.); 142, 123 (189)). Maßgebliches Kriterium ist, „ob der Subjektstatus eines Menschen trotz seiner Verobjektivierung in spezifischen Unterordnungs- und Abhängigkeitsverhältnissen durch Kompensationsmechanismen noch hinreichend gesichert ist“ (Sachs/Höfling Art. 1 Rn. 16 – ohne die Hervorhebung). Findet die betroffene Person trotz Verobjektivierung normativ wieder Anschluss an das Selbstverständnis als Subjekt, so entfällt nach dieser Formel die Verletzung der Würdeeigenschaft (Kersten, Das Klonen von Menschen, 2004, 479).

Mithilfe dieses, einem liberalen Grundrechtsverständnis entspr. Ansatzes, wonach sich die Demokratie zugunsten der Freiheit und nicht umgekehrt mobilisiert, können subjektiv-individuelle Vorstellungen in die Schutzbereichsbestimmung implementiert und somit auch die Frage nach einer Beeinträchtigung schneller beantwortet werden. Noch 1981 sprach sich das BVerwG gegen eine Berücksichtigung des individuellen Würdeverständnisses aus: Danach müsse die Menschenwürde „wegen ihrer über den einzelnen hinausgehenden Bedeutung auch gegenüber der Absicht des Betroffenen verteidigt werden, seine vom objektiven Wert der Menschenwürde abweichenden subjektiven Vorstellungen durchzusetzen“ (BVerwGE 64, 274 (280)). Da jedoch grds. eine Bestimmung der objektiven Werte nur mittels eines Rekurses auf kulturelle und moralphilosophische Vorstellungen beantwortet werden kann (vgl. auch EuGH Slg. 1994, I-1039 (1041 und 1096); sowie Rn. 6), drängt sich nicht zuletzt aufgrund der rechtsstaatlich geforderten Neutralitätspflicht (vgl. Huster, Die ethische Neutralitätspflicht des Staates, 2002, 93 ff. und 652 ff.) die Berücksichtigung individueller Vorstellungen zur Bestimmung des Schutzbereiches auf. Schließlich bezweckt die Menschenwürde, dass dem Menschen kraft seines Geistes und der Fähigkeit zur Selbstreflektion die Möglichkeit, ja sogar Verpflichtung obliegt, sich seiner selbst bewusst zu werden, sich zu bestimmen und sich und seine Umwelt zu gestalten (VG Berlin NJW 2001, 983 (986)). Damit unvereinbar sind alle Maßnahmen, die in den Kernbereich der menschlichen Existenz eingreifen und die Möglichkeit zur selbstbestimmten Lebensgestaltung ausschließen.

e) Konkretisierungen anhand der gemischten Formel

Mit dem sozialen Wert- und Achtungsanspruch unvereinbar sind alle staatlichen Maßnahmen, die geeignet sind, die individuelle, psychische und soziale Existenz des Menschen zu zerstören. Besondere praktische Bedeutung hat die Menschenwürde daher im Strafverfahren und Strafvollzug. Sowohl Folterungen (vgl. BVerfG [K] NJW 2005, 656 (657); ausf. zur sog. Rettungsfolter SHH/Hofmann Art. 1 Rn. 18; vgl. zur Unvereinbarkeit der Unterbringung von Angeklagten in einem Metallkäfig während der Verhandlung vor Gericht mit dem Folterverbot nach Art. 3 I EMRK EGMR NJW 2015, 3423 (3426)) als auch grausame Strafformen verstoßen eindeutig gegen die Menschenwürde (s. auch Hufen JuS 2010, 1 (10)). Ein „Täter darf nicht zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung unter Verletzung seines verfassungsrechtlich geschützten sozialen Wert- und Achtungsanspruchs gemacht werden“ (BVerfGE 45, 187 (228); 109, 133 (150)). Es gibt keine staatliche Wahrheitsfindung um jeden Preis. Da auch jeder strafgerichtlichen Verurteilung ein sozial-ethisches Unwerturteil innewohnt, das den Wert- und Achtungsanspruch des Verurteilten berührt (BVerfGE 96, 245 (249); 101, 275 (287)), haben auf dem Gebiet der Strafrechtspflege sämtliche Sanktionen in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Verschulden des Täters zu stehen (BVerfGE 45, 187 (228); 133, 168 (197 f.); vgl. auch BVerfGE 156, 63 (115)). Der in der Menschenwürde wurzelnde Schuldgrundsatz (vgl. dazu ausf. zul. etwa BVerfG NZV 2023, 118 (125 f.)) setzt sog. „Deals“ im Strafverfahren Grenzen, welche aber nach Ansicht des BVerfG durch die Regelungen über die Verständigung im Strafprozess (vgl. § 257c StPO) „zum gegenwärtigen Zeitpunkt“ noch nicht überschritten sind (BVerfGE 133, 168 (197 f. und 203 f.)). Unabhängig von der Dauer der verhängten Freiheitsstrafe muss dem Täter zumindest die Chance auf eine Wiedererlangung der Freiheit eingeräumt werden (BVerfGE 86, 288 (312)). Daher sind die Vollzugsanstalten auch bei der Vollstreckung lebenslanger Freiheitsstrafen verpflichtet, auf die Resozialisierung der Gefangenen hinzuwirken, ihre Lebenstüchtigkeit zu erhalten sowie schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzuges und damit vor allem deformierenden Persönlichkeitsveränderungen entgegenzuwirken (BVerfG NJW 2023, 2405 (2408); vgl. auch bereits BVerfGE 45, 187 (238 f.)). Für Fälle der Sicherungsverwahrung bedeutet dies, dass in regelmäßigen Abständen überprüft wird, ob die Notwendigkeit der Anordnung weiterhin besteht, mithin, ob die Gefahr vom Täter ausgehender Schädigungen seiner Mitmenschen und der Gemeinschaft noch existiert (vgl. BVerfG NJW 2023, 2405 (2408)) und die Voraussetzung zur Führung eines eigenverantwortlichen Lebens in der Freiheit erhalten bleibt (BVerfGE 109, 133 (152 f.)). Die Sicherungsverwahrung ist „so auszugestalten, dass die Perspektive der Wiedererlangung der Freiheit sichtbar die Unterbringungspraxis bestimmt“ (BVerfGE 128, 326, Ls. 3b; zur Sicherungsverwahrung ferner Vor Art. 1 Rn. 2a, Art. 1 Rn. 31, Art. 2 Rn. 39, Art. 103 Rn. 16). Im Zuge einer Identitätskontrolle in Bezug auf den europäischen Haftbefehl stellte das BVerfG klar, dass die deutsche Hoheitsgewalt anderen Staaten nicht die Hand zu Verletzungen der Menschenwürde reichen darf. Die Aussetzung der Vollstreckung des europäischen Haftbefehls sei zwar nur möglich, „wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Art. 6 Abs. 1 EUV enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV mit den Folgen von Art. 7 Abs. 2 EUV festgestellt worden ist“ (BVerfGE 140, 317 (354)). „Diese Vorgaben entbinden deutsche Behörden und Gerichte jedoch nicht von der Verpflichtung, auch bei einer Auslieferung zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls die Grundsätze des Art. 1 Abs. 1 GG sicherzustellen (Art. 23 Abs. 1 Satz 3 iVm Art. 79 Abs. 3 GG). Sie sind vielmehr gehalten, beim Vollzug des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen sicherzustellen, dass die von Art. 1 Abs. 1 GG geforderten Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten auch im ersuchenden Mitgliedstaat beachtet werden, oder – wo dies nicht möglich ist – von einer Auslieferung abzusehen. Insoweit wird der den europäischen Auslieferungsverkehr beherrschende Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens durch die Garantie der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG begrenzt“ (BVerfG 140, 317 (355); zur Annäherung der Rspr. des BVerfG und des EuGH s. Dietz NVwZ 2016, 1383 (1384 f.)). Darüber hinaus obliegt im Auslieferungsverkehr den Fachgerichten die Prüfung, ob die Auslieferung und die ihr zugrunde liegenden Akte den nach Art. 25 in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard wahren (BVerfGE 59, 280 (282 f.)).

Art. 1 I entfaltet auch innerhalb des Strafvollzugs Auswirkungen: So ist zum einen der durch Inhaftierungsbedingungen bewirkten Persönlichkeitsveränderung des Gefangenen (Haftdeprivation) entgegenzuwirken; zum anderen müssen in der Haft die „grundlegenden Voraussetzungen individueller und sozialer Existenz“ erhalten bleiben (BVerfGE 45, 187 (228)). Die Anforderungen an die Vollzugsstandards können zumeist nicht genuin aus Art. 1 I hergeleitet werden, sondern werden unter Berücksichtigung der allgemeinen Verhältnisse bestimmt. So steht der grds. Unterbringung von Gefangenen in Mehrbettzimmern die Menschenwürde nicht entgegen (BVerfG [K] EuGRZ 2008, 81 f.). Die Menschenwürde kann aber durch eine Überbelegung und das damit erzwungene Zusammenleben auf engstem Raum verletzt sein (BVerfG [K] NJW 2002, 2699; vgl. auch VerfGH Bln LVerfGE 20, 70 (79), der einen Verstoß gegen die Menschenwürdegarantie in der Unterbringung eines Gefangenen für einen Zeitraum von knapp drei Monaten in einem Einzelhaftraum von 5,25 m 2 mit räumlich nicht abgetrennter Toilette bei einer zeitweisen Verschlussdauer zwischen 15 und fast 21 Stunden sah; bestätigt durch BVerfG [K] NJW 2016, 389 (390); erst recht hält BVerfG [K] NJW 2016, 1872 (1874) einen Einzelhaftraum von etwa 4,5 m 2 für mit der Menschenwürde unvereinbar). Eine Mindestgröße von Hafträumen bzw. des einem Gefangenen in einer Gemeinschaftszelle zur Verfügung stehenden Raumes kann allerdings nicht abstrakt-generell festgestellt werden, sondern muss der tatrichterlichen Beurteilung vorbehalten bleiben (BVerfG [K] NJW 2016, 3228 (3229); BVerfGE 156, 182 (204 f.) geht in Anknüpfung an u. a. EuGH EuGRZ 2019, 498 (504) davon aus, dass bei 3 m 2 zur Verfügung stehendem Raum pro Gefangenem in einer Gemeinschaftszelle eine starke Vermutung für einen Verstoß gegen Art. 4 GRCh bzw. gegen den dem EuGH zufolge im Wesentlichen inhaltsgleichen Art. 3 EMRK und damit auch gegen Art. 1 I vorliegt, der laut dem BVerfG im Hinblick auf seine Anforderungen an Haftbedingungen inhaltlich mit Art. 4 GRCh übereinstimmen soll; bei einem persönlichen Raum zwischen 3 m 2 und 4 m 2 sollen für einen Verstoß weitere defizitäre Haftbedingungen wie zu niedrige oder zu hohe Raumtemperaturen, fehlende Intimsphäre oder schlechte Sanitär- und Hygienebedingungen hinzutreten müssen; bei mehr als 4 m 2 persönlichem Raum bleiben die weiteren Aspekte der Haftbedingungen für die erforderliche Gesamtbeurteilung relevant). Ferner berührt im „Hinblick auf die Ausstrahlungswirkung des Art. 1 I GG auf den Inhalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts […] die Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum mit permanenter Videoüberwachung und vollständiger Entkleidung die […] geschützte Intimsphäre des Betroffenen“ (BVerfG [K] NJW 2015, 2100 (2101)). Art. 1 I verbietet es grds., „Gefangene grob unhygienischen und widerlichen Haftraumbedingungen auszusetzen“ (BVerfG [K] NJW 2011, 137 (138); vgl. auch BVerfG [K] NJW 1993, 3190 f.; vgl. ferner Rixen FS Kerner, 2013, 803 ff. zur Geldentschädigung wegen menschenwürdewidriger Unterbringung und zur Kritik an der zurückhaltenden Rspr. von BVerfG und BGH). Das BVerfG hat im Falle einer Isolationshaft den sozialen Achtungs- und Geltungsanspruch des Gefangenen als nicht verletzt angesehen (BVerfGE 49, 24 (64)).

Relevant wird der Schutz der Menschenwürde aus Art. 1 I auch im Zusammenhang mit der Vergütung von Arbeit, die Gefangene im Rahmen eines Resozialisierungskonzeptes leisten. Dem Resozialisierungsgebot aus Art. 2 I iVm Art. 1 I lassen sich konkrete Anforderungen an die Vergütung von Gefangenenarbeit entnehmen: Art. 1 I gebietet zwar keine Entlohnung der Arbeit allein durch ein Arbeitsentgelt; jedoch ist auch bei einer Anerkennung der Arbeit durch nicht monetäre Vorteile zu beachten, dass der Vergütung ein „Gegenwertcharakter“ zukommt (vgl. BVerfG NJW 2023, 2405 (2411) – „Gefangenenvergütung II“). „Andernfalls bestünde die Gefahr, dass Gefangene, die sich einer Ordnung ausgesetzt sehen, in der für sie der Zusammenhang zwischen abverlangter Arbeit und angemessenem (gerechtem) Lohn prinzipiell aufgehoben ist, zu Objekten staatlicher Gewalt degradiert würden (…)“ (BVerfG NJW 2023, 2405 (2411)). Obwohl der Gesetzgeber diesbezüglich vorsehen kann, einen gewissen Teil der Vergütung zur Erreichung bestimmter Zwecke oder zur Deckung eines Teils der Vollzugskosten einzubehalten (BVerfG NJW 2023, 2405 (2411)), verletzt eine Regelung, nach der Gefangene bei unverändert gering bemessener Vergütung zusätzlich zur materiellen Schadensregulierung im Rahmen des Opferschutzes und zu Unterhaltszahlungen herangezogen sowie an den Kosten des Betriebs elektronischer Geräte, für Gesundheitsleistungen oder für Suchtmittelteste beteiligt werden (können), in Ermangelung eines vor dem Hintergrund genannter Anforderungen schlüssigen Resozialisierungskonzeptes das Resozialisierungsgebot des Art. 2 I iVm 1 I und damit das entsprechende subjektive Recht der Gefangenen (vgl. BVerfG NJW 2023, 2405 (2415 f.)).

Grds. ist zwischen Lebens- und Würdeschutz zu differenzieren (Dreier/Dreier Art. 1 I Rn. 69; widersprüchlich MKS/Starck Art. 1 Rn. 20 und 78). Während Leben und körperliche Unversehrtheit Schutzgegenstände von Art. 2 II 1 sind und mithin auch eingeschränkt werden können, hat die Menschenwürde eine andere Schutzrichtung. Zwar kommt jedem Menschen auch Würdeschutz zu (Rn. 23), aber im Gegensatz zu dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist die Menschenwürde nicht einschränkbar. Bei der Überprüfung einer staatlichen Maßnahme gegen die körperliche Integrität bzw. die physische Existenz am Maßstab des Art. 1 I kommt es maßgeblich darauf an, ob die Situation, in welcher sich der Grundrechtsträger befindet, auf ein Momentum eigenverantwortlicher Lebensgestaltung zurückzuführen ist. Während dies bspw. in Fällen der Geiselnahme der Fall ist und somit der finale Rettungsschuss (bzw. der adäquate Schusswaffengebrauch der Polizei) keine würdetangierende Wirkung hat (MKS/Starck Art. 1 Rn. 78), sind staatliche Tötungshandlungen würdewidrig, wenn die zugrundeliegenden Lebensumstände nicht dem Grundrechtsträger zuzurechnen sind. Wird die Tötung dann zur Rettung anderer benutzt, werden die betroffenen Personen verdinglicht und entrechtlicht; aus diesem Grund war die im Luftsicherheitsgesetz enthaltene Abschussermächtigung von Flugzeugen zur Bekämpfung von besonders schweren Unglücksfällen verfassungswidrig (BVerfGE 115, 118 (152 ff.)).

Unter Zugrundelegung des gemischt objektiv-subjektiven Schutzbereichsverständnisses garantiert Art. 1 I das Recht auf Festlegung eines eigenen Menschen- und Identitätsbildes. Hierzu gehört auch, dass „der Mensch über sich selbst verfügen und sein Schicksal eigenverantwortlich gestalten kann“ (BVerfGE 49, 286 (298)). Folglich darf der Mensch nicht zur Leistung einer den gesellschaftlichen Majoritätsvorstellungen entspr. Würdedarstellung gezwungen werden. Das Individuum bildet stets selbst die maßgebliche Instanz für die Bestimmung der eigenen Würde (Dreier/Dreier Art. 1 I Rn. 149). „Menschenwürde ist vielmehr auch dann vorhanden, wenn der konkrete Mensch die Möglichkeit freier Selbstgestaltung zur Selbsterniedrigung missbraucht. […] Der Schutz der Menschenwürde kann sich also nicht gegen die darin mitgeschützte Freiheit der Selbstbestimmung richten, und die staatliche Verpflichtung zum Schutz der Menschenwürde darf nicht dazu missbraucht werden, den Einzelnen durch einen Eingriff in die individuelle Selbstbestimmung gleichsam vor sich selbst zu schützen. […] Nur wenn ernsthafte Zweifel an der Fähigkeit zu einer wirklich freien Entscheidungsfindung begründet sind […], kommt unmittelbar aus Art. 1 I GG eine Schutzpflicht des Staates selbst gegen den (vordergründigen) Willen des Grundrechtsträgers in Betracht“ (VG Berlin NJW 2001, 983 (986) – ohne die Hervorhebung). In der Rspr. wurde die Teilnahme an Peep-Shows (BVerwGE 64, 274 ff.), an Laserspielen (BVerwGE 115, 189 (198 ff.); aA unter Verweis auf die insofern gewandelte allg. Rechtsansicht VG Weimar ThürVBl 2017, 21 (22 mwN)) und am Telefonsex (LG Mannheim NJW 1995, 3398 f.) als mit der Menschenwürde unvereinbar angesehen; als vereinbar wurde hingegen ein regelkonform ausgeübtes Paintball-Spiel erachtet (BayVGH BayVerfGHE 65, 246 ff.). Nicht alle Geschmacklosigkeiten, zweifelhaften Formen des Zeitvertreibs oder dem Jugendschutz unterfallenden Vergnügungen sind jedoch zugleich Würdeverletzungen (Dreier/Dreier Art. 1 I Rn. 152). Es geht dogmatisch in all diesen Fällen nicht um einen Verzicht auf individuelle Würdeanerkennung, sondern umgekehrt um die Wahrnehmung der allgemeinen Handlungsfreiheit, die nicht mittels eines Rekurses auf menschenwürdebezogene Argumente eingeschränkt werden kann. Die Menschenwürde ist Schutz- und nicht Eingriffsnorm; eine andere Auffassung würde gerade umgekehrt unter der Ägide einer Majoritätsethik die betreffende Person vom selbstbestimmten Subjekt zum Objekt erzieherisch-fürsorglicher Maßnahmen machen und die Selbstbestimmung in fürsorglicher Absicht dekonstruieren (Frankenberg KritJ 2000, 325 (330 f.); Ziekow, Über Freizügigkeit und Aufenthalt, 1997, 592). Insofern stellt das kontrovers diskutierte „Realitätsfernsehen“ trotz dessen weitgehender Tendenz zur Selbstpreisgabe der Akteure keinen Verstoß gegen die Menschenwürde dar (Dreier/Dreier Art. 1 I Rn. 151; Hufen JuS 2010, 1 (4)). Allerdings ist strikt zwischen einer subjektive Vorstellungen berücksichtigenden Auslegung des Schutzbereiches und unerlaubter Würdeveräußerung (Rn. 5) zu trennen. So bestehen etwa im Falle des „Zwergenweitwurfs“ begründete Zweifel an der subjektiven Kompensation des Verobjektivierungsvorgangs. Solche Vorgänge werden als würdewidrig angesehen (vgl. VG Neustadt NVwZ 1993, 98 (99)). Bei der Ableistung von Wehrdienst ist entspr. der Befehl, Regenwürmer zu essen, entwürdigend (BVerwG NJW 1992, 587 f.), nicht aber die militärische Grußpflicht (BVerwGE 43, 312 (314 f.)).

Zur Menschenwürde gehört ferner, dass dem Individuum ein von den Zwängen der sozialen Realität entzogener Freiraum verbleibt, in dem sich ein jeder nach selbstgesetzten Maßstäben frei entfalten kann. Deshalb ist auch die Privatwohnung als letztes Refugium ein Mittel zur Wahrung der Menschenwürde. „Dabei führt ein heimliches Vorgehen des Staates an sich noch nicht zu einer Verletzung des absolut geschützten Achtungsanspruchs. Wird jemand zum Objekt einer Beobachtung, geht damit nicht zwingend eine Missachtung seines Wertes als Mensch einher. Bei Beobachtungen ist aber ein unantastbarer Kernbereich privater Lebensgestaltung zu wahren […]. Würde der Staat in ihn eindringen, verletzte dies die jedem Menschen unantastbar gewährte Freiheit zur Entfaltung in den ihn betreffenden höchstpersönlichen Angelegenheiten. Selbst überwiegende Interessen der Allgemeinheit können einen Eingriff in diesen absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht rechtfertigen“ (BVerfGE 109, 279 (313)).

Aus Art. 1 I iVm dem Sozialstaatsprinzip lässt sich das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums herleiten (BVerfGE 40, 121 (133); 45, 187 (228); 82, 60 (85); 113, 88 (108 f.); 123, 267 (363); 125, 175 (222); 137, 34 (72); 142, 353 (369 f.); 152, 68 (112 f.); 163, 254 (277)). Während Art. 1 I diesen Anspruch begründet, erteilt das Sozialstaatsgebot „dem Gesetzgeber den Auftrag, jedem ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern, wobei dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum bei den unausweichlichen Wertungen zukommt, die mit der Bestimmung der Höhe des Existenzminimums verbunden sind“; dieses Grundrecht aus Art. 1 I iVm Art. 20 I „ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat“ (BVerfGE 125, 175 (222); vgl. auch BVerfGE 152, 68 (113); Wallrabenstein JZ 2016, 109 (115)). Die konkrete Höhe des Leistungsanspruchs hängt also auch „vom schwankenden allgemeinen Lebensstandard und dem gesamtgesellschaftlichen Wohlstand“ ab (Dreier/Dreier Art. 1 I Rn. 155). So kann etwa „bei einer Verschlechterung der Verhältnisse […] der bisher erreichte Standard, der als Minimum einer menschenwürdigen Existenz angesehen wurde, wieder unterschritten werden“ (OVG Bln NJW 1980, 2484 (2485)). „Ein Abbau von Sozialleistungen mit der Folge einer Einkommensminderung“ ist jedenfalls „bis zur Grenze des Existenzminimums des Berechtigten zulässig“ (BSG NJW 1987, 463). „Der unmittelbar verfassungsrechtliche Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich nur auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind“ (BVerfGE 125, 175 (223)) und der „Sicherung eines Mindestmaßes an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“ dienen (BVerfGE 137, 34 (72); 142, 353 (370); 152, 68 (113) – jew. ohne die Hervorhebungen; s. auch Voelzke NJW 2017, 1867 (1872)). Das Grundgesetz „gebietet nicht die Gewährung von bedarfsunabhängigen, voraussetzungslosen Sozialleistungen“ (BVerfG [K] NJW 2010, 2866 (2867)). Der Anspruch auf Sicherung des Existenzminimums wird durch das Zweite Buch Sozialgesetzbuch für erwerbsfähige Hilfebedürftige (Grundsicherung für Arbeitsuchende/sog. „Arbeitslosengeld II“) sowie das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch für nichterwerbsfähige oder ältere Hilfebedürftige (Sozialhilfe) näher ausgeformt; so bezeichnet § 1 S. 1 SGB XII es als Aufgabe der Sozialhilfe, „den Leistungsberechtigten die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht“ (vgl. auch § 9 S. 1 SGB I, § 1 I SGB II). Der Gesetzgeber hat zur Ermittlung des Anspruchsumfangs „alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen“ (BVerfGE 125, 175, Ls. 3; vgl. BVerfGE 137, 34 (100 f.)). Dabei „schlagen Bedenken hinsichtlich einzelner Berechnungspositionen nicht ohne Weiteres auf die verfassungsrechtliche Beurteilung durch“ (BVerfGE 137, 34 (101)). Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums führt etwa auch zu Konsequenzen für die steuerrechtliche Behandlung von Krankenversicherungsbeiträgen (s. dazu näher BVerfGE 120, 125 (155 ff.); Sodan/Sodan, Handbuch des Krankenversicherungsrechts, 3. Aufl. 2018, § 2 Rn. 54 f.).

Problematisch ist der Verweis auf die Menschenwürdegarantie im Bereich der sog. Neulandmedizin. Häufig wird in den Problemstellungen auf die Menschenwürde rekurriert, um vermeintlich zwingende verfassungsrechtliche Aussagen zu Fragestellungen betr. Reproduktionsmedizin, Gentechnik oder Arzneimittelforschung zu generieren. In den meisten Fällen stellt die Menschenwürdegarantie allerdings kein probates Lösungskonzept für solche Fragestellungen dar.

Zwar können die meisten sich im Bereich der Arzneimittelerprobung ergebenden Probleme noch mit der gemischten Formel gelöst werden. Die aus methodischen Gründen (randomisierte Vergleichsstudie, Doppelblindstudie) zwingend erforderliche Verobjektivierung des Probanden lässt sich durch das subjektive Einverständnis nach dem Grundsatz „volenti non fit iniura“ kompensieren. Dieser Grundsatz versagt jedoch bei fehlender Einwilligungsfähigkeit. Konsequenterweise müsste dann auf die Erprobung und entspr. auch auf die Zulassung (vgl. § 25 II 1 Nr. 2, 4 AMG) verzichtet werden; die Betroffenen wären auf den sog. Off-label-Gebrauch von für sie nicht zugelassenen Medikamenten angewiesen. Mithin führt der streng normative Rückgriff auf den Menschenwürdebegriff in ein klassisches Dilemma. Entweder hält man am Primat des Vorrangs der Selbstbestimmung vor jeder Inpflichtnahme des Menschen zu medizinischer Forschung fest, oder man gibt das bisher entwickelte Würdeverständnis auf und erkennt in „zu fixierenden Grenzen den Vorrang des Gemeininteresses vor dem absoluten Integritätsinteresse des Individuums an“ (Picker JZ 2000, 693 (704)).

Auch Fragen zur Zulässigkeit von gentechnischen Eingriffen in die Keimbahn des Menschen können nicht mittels eines Rekurses auf Art. 1 I gelöst werden. Es fehlt nämlich an einem Grundrechtsträger; schließlich setzt die Keimbahntherapie vor jedem Reproduktionsakt präventiv an Ei-, Samen- und deren Vorläuferzellen an. Überwiegend wird daher von den Gegnern gentechnischer Maßnahmen die Menschenwürde gattungsspezifisch verstanden (Isensee FS Hollerbach, 2001, 243 (261 ff.)). Kennzeichnend für die Ausdehnung der Würdeträgereigenschaft auf die gesamte Menschheit ist hier der Gedanke, dass nur eine den Resultaten eines zufälligen Schöpfungsaktes entspr. Menschheit dem Würdegebot gerecht wird. Zu dieser Würde gehört demnach auch eine von Gott (oder der Natur) verliehene biologische Ausstattung, in die einzugreifen verboten ist. Dabei wäre „der neue Mensch, dessen naturgegebene Unvollkommenheit durch [gentechnische] Eingriffe aufgehoben werden würde, nicht mehr der uns heute bekannte Mensch und nicht der, von dem das Grundgesetz ausgeht“ (Benda NJW 1985, 1730 (1732)). Hierbei wird jedoch übersehen, dass die Verfassung für ein gattungsspezifisches Verständnis der Menschenwürde nichts hergibt. Der Wortlaut spricht weder von der „Würde der Menschheit“ noch von der „menschlichen Würde“, sondern besagt, dass die „Würde des Menschen“ gewährleistet ist (vgl. Dreier/Dreier Art. 1 I Rn. 115 f.). Wenn bisweilen als Anknüpfungspunkt für ein grundgesetzlich gefordertes überkommenes Menschenbild die Formulierung des BVerfG herangezogen wird, dass die Würde auch den „Menschen als Gattungswesen“ schütze (BVerfGE 87, 209 (228)), so wird verkannt, dass das Gericht in diesem Zusammenhang nicht von einer vom Individuum abstrahierten Menschenwürde spricht, sondern den Schutz des Individuums stärken wollte (Dreier/Dreier Art. 1 I Rn. 115). Im folgenden Satz heißt es nämlich: „Jeder besitzt sie, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status“ (BVerfGE 87, 209 (228)). Auch das objektiv-rechtliche Geltungssystem der Grundrechte kann zur Untermauerung des gattungsspezifischen Verständnisses nicht herangezogen werden, da es rechtsdogmatisch dazu dient, dem Individuum zur Stärkung seiner Würde einen entspr. Freiheits- und Lebensrahmen zu geben (s. zum Vorrang des subjektiv-rechtlichen Charakters der Grundrechte MKS/Starck Art. 1 Rn. 171 ff.). Zudem liegt dem Heranführen des gattungsspezifischen Würdeverständnisses eine Überführung von individualethischen Glaubensinhalten in das Recht zugrunde.

Sinngemäß lassen sich diese Überlegungen auch auf die meisten Problemstellungen im Zusammenhang mit der Reproduktionsmedizin übertragen. Zwar kann bspw. die Präimplantationsdiagnostik als Würdeverstoß verstanden werden, wenn die Zeugung eines Embryos unter dem Vorbehalt erfolgt, ihn bei Vorliegen einer entspr. genetischen Erkrankung zu verwerfen. Allerdings hängt diese Bewertung maßgeblich von der Frage ab, ob die befruchtete Eizelle vor der Einnistung in die Gebärmutterschleimhaut Trägerin der Menschenwürde sein kann. Dies ist jedoch eine Frage des personellen Schutzbereichs (Rn. 23 ff.). Nach Auffassung des Zweiten Senats des BVerfG verbietet Art. 1 I, die Unterhaltspflicht für ein Kind als Schaden zu begreifen (BVerfGE 88, 203 (296); 96, 409 ff.). Demgegenüber verstößt nach Ansicht des Ersten Senats des BVerfG die Judikatur der Zivilgerichte zur Arzthaftung bei fehlgeschlagener Sterilisation und fehlerhafter genetischer Beratung vor Zeugung eines Kindes nicht gegen Art. 1 I (BVerfGE 96, 375 (399 ff.); s. näher zum Unterhalt für ein Kind als Schaden G. Müller NJW 2003, 697 ff.).

Als Ausfluss des allg. Persönlichkeitsrechts (Art. 2 I iVm Art. 1 I; s. dazu Art. 2 Rn. 5 f.) unmittelbar in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 I GG verwurzelt ist nach der Rspr. des BVerfG das Recht auf selbstbestimmtes Sterben bzw. das Recht zur Selbsttötung. Danach gehört die „Selbstbestimmung über das eigene Lebensende (…) zum ‚ureigensten Bereich der Personalität‘ des Menschen, in dem er frei ist, seine Maßstäbe zu wählen und nach ihnen zu entscheiden“ (BVerfGE 153, 182 (263 mwN)). Das BVerfG sieht dabei im Akt der Selbsttötung nicht die Aufgabe der eigenen Würde durch den Suizidenten, im Zuge derer „er mit seinem Leben zugleich die Voraussetzung seiner Selbstbestimmung und damit seine Subjektstellung aufgibt“, sondern fasst die selbstbestimmte Verfügung über das eigene Leben als unmittelbaren und letzten Ausdruck „der der Menschenwürde innewohnenden Idee autonomer Persönlichkeitsentfaltung“ auf (BVerfGE 153, 182 (263 f.)). Das Recht, sich selbst zu töten, soll dabei auch die Freiheit umfassen, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und diese Hilfe in Anspruch zu nehmen (BVerfG 153, 182 (264)).

3. Personeller Schutzbereich

Art. 1 I nennt als Grundrechtsberechtigten schlicht den Menschen. Nach unbestrittener Auffassung sind Menschen iSd Art. 1 I alle sich im Geltungsbereich des Grundgesetzes aufhaltenden natürlichen Personen. Die Menschenwürde besitzt jeder, „ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status. Sie ist auch dem eigen, der aufgrund seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht sinnhaft handeln kann. Selbst durch ,unwürdiges‘ Verhalten geht sie nicht verloren“ (BVerfGE 87, 209 (228); s. auch BVerfGE 152, 68 (114)). Die dargestellten Ausführungen zur Bestimmung von Schutzbereich und Eingriff sind nicht ohne weiteres auf die Beurteilung der Behandlung von psychisch und geistig Kranken zu übertragen. Zu berücksichtigen ist, dass Personen, die zur eigenverantwortlichen Lebensführung nicht oder nicht vollständig fähig sind, aufgrund der dringend benötigten staatlichen Fürsorgemaßnahmen ohne spezifisches Einverständnis zwar objektiv verdinglicht, aber grds. nicht in ihrer Menschenwürde verletzt werden (vgl. Kloepfer FS 50 Jahre BVerfG, Bd. II, 2001, 77 (95)).

Zum Schutz des ungeborenen Lebens zog das BVerfG bei der Überprüfung der gesetzgeberischen Maßnahmen den objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte heran, der die Pflicht der staatlichen Organe umfasst, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Art. 2 II 1 zu stellen und sie insbes. vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren (BVerfGE 39, 1 (41 f.); 88, 203 (255 ff.); zur Schutzpflicht näher Vor Art. 1 Rn. 25 ff., Art. 2 Rn. 23 ff.). Nach der Judikatur des BVerfG hat diese Schutzpflicht ihren Grund in Art. 1 I (BVerfGE 88, 203 (251)). Die objektiv-rechtliche Schutzverpflichtung besteht jedenfalls ab dem Zeitpunkt der Nidation, denn von diesem Zeitpunkt an handelt es sich „um individuelles, in seiner genetischen Identität und damit in seiner Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit bereits festgelegtes, nicht mehr teilbares Leben, das im Prozeß des Wachsens und Sich-Entfaltens sich nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch entwickelt“ (BVerfGE 88, 203 (251 f.)).

Überträgt man die bundesverfassungsgerichtliche Systematik auf die Untersuchung der Grundrechtsfähigkeit befruchteter, aber nicht in der Gebärmutter eingenisteter Eizellen, so ergibt sich, dass der Einsatz nidationshemmender Verhütungsmethoden (Spirale, „Pille danach“) sowie Präimplantationsdiagnostik, therapeutisches Klonen oder „verbrauchende Embryonenforschung“ keine Tötungshandlungen grundrechtsberechtigter Menschen sind (vgl. Dreier/Dreier Art. 1 I Rn. 84; HGR/Huber § 49 Rn. 12). Zwar mögen solche Methoden auf moralische Bedenken stoßen, die den Gesetzgeber zu gegensteuernden, grundrechtlich jedoch nicht geforderten Maßnahmen veranlassen können. Hintergrund des Fehlens der Grundrechtsträgereigenschaft bzw. der Erstreckung der objektiv-rechtlichen Geltung der Grundrechte auf pränidatives Leben ist der gegenwärtige Stand der naturwissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnisse. Dem Zellverband, der sich in den ersten Tagen nach der Befruchtung der Eizelle entwickelt, fehlt es an einer Individualisierung. Wenn noch eine Mehrlingsbildung möglich ist, dann mangelt es an einer Konkretisierung des Würdeschutzes, die aufgrund der Individualbezogenheit der Grundrechte erforderlich ist (vgl. Dreier/Dreier Art. 1 I Rn. 84). Darüber hinaus ist bekannt, dass den meisten Zellverbänden überhaupt das Potential fehlt, sich zum Menschen entwickeln zu können, weshalb der überwiegende Teil vom Körper der Mutter auch nicht angenommen wird. Handelt es sich um einen in-vitro gezeugten Embryo, dann ist die Nidation ohnehin von der Einnahme nidationsfördernder Medikamente abhängig; dies stellt aber eine Entwicklung zum Menschen und nicht als Mensch dar (vgl. BVerfGE 88, 203 (252); Dederer AöR 127 [2001], 1 (10 ff.); HGR/Huber § 49 Rn. 11).

Unzweifelhaft kommt auch dem Verstorbenen ein Würdeschutz zu. Das BVerfG geht davon aus, dass „die in Art. 1 Abs. 1 GG aller staatlichen Gewalt auferlegte Verpflichtung, dem Einzelnen Schutz gegen Angriffe auf seine Menschenwürde zu gewähren, nicht mit dem Tode“ endet (BVerfGE 30, 173 (194); s. ferner BVerfG [K] NVwZ 2008, 549 (550) sowie BVerfG NJW 2023, 755 (756) („Kohl-Protokolle I“) und BVerfG NJW 2023, 757 (758) („Kohl-Protokolle II“); s. speziell zum Schutz sog. menschlicher Plastinate BayVGH NJW 2003, 1618 (1620); Finger/Müller NJW 2004, 1073 ff.). Allerdings kann daraus nicht gefolgert werden, dass Tote Grundrechtsberechtigte sind. Denn der Wortlaut „Mensch“ steht einer Ausstrahlung des Würdeschutzes über den Tod hinaus entgegen. Daher liegt es nahe, die zu schützenden Grundrechtsträger in den Überlebenden zu erkennen. Der Respekt ihnen gegenüber gebietet es, die Würde des Verstorbenen nicht zu missachten. Darüber hinaus wäre die Anerkennung eines graduell verblassenden Würdeschutzes (so BVerfGE 30, 173 (196)) der Verfassung fremd (vgl. Friauf/Höfling/Enders Art. 1 Rn. 120 f.; HGR/Huber § 49 Rn. 24). Juristische Personen sind jedoch nicht geschützt (BeckOK GG/Hillgruber Art. 1 Rn. 6; Jarass/Pieroth/Jarass Art. 1 Rn. 7).

4. Eingriffe und verfassungsrechtliche Rechtfertigung

Wenn sich in einer Sachverhaltskonstellation ein Eingriff in die Würde des Menschen feststellen lässt, kommt eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung nicht in Betracht. Die Menschenwürde ist „als Wurzel aller Grundrechte“ auch „mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig“ (BVerfGE 93, 266 (293)). Jeder Eingriff impliziert zugleich einen verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigenden Verstoß gegen das Grundgesetz. Nicht zuletzt aus diesem Grunde sollte das Menschenwürdepostulat in der juristischen Argumentation mit besonderer Sorgfalt verwendet werden.

5. Verhältnis zu anderen Grundrechten

Die Freiheits- und Gleichheitsgarantien der anderen Grundrechte konkretisieren zahlreiche Ausschnitte der Menschenwürde und stehen im Dienste dieses höchsten Grundrechts. Wegen dessen Unantastbarkeit und der „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 III muss die Gewährleistung der Menschenwürde von den Schutzbereichen anderer Grundrechte abgegrenzt werden (s. zu einer Übersicht Höfling JuS 1995, 857 (861 f.)). Soweit der Schutzbereich eines anderen Grundrechts betroffen ist, kommt dieses vorrangig zur Anwendung. Vorrangigkeit meint hier jedoch keine strenge Subsidiarität des Art. 1 I (so aber Graf Vitzthum JZ 1985, 201 (203)). Vielmehr kann in der Verletzung eines sonstigen Grundrechts zugleich ein Verstoß gegen Art. 1 I liegen (Höfling JuS 1995, 857 (861)). Im Rahmen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Rn. 5 f.) steht die Menschenwürde in einem besonderen Verhältnis zu Art. 2 I.

II. Bekenntnis zu den Menschenrechten

Das in Art. 1 II enthaltene Bekenntnis zu den Menschenrechten entspricht dem Wunsch des Parlamentarischen Rates, Deutschland wieder in die Gemeinschaft freier Völker einzugliedern (vgl. Dreier/Dreier Art. 1 II Rn. 3). Art. 1 II stellt den Verfassungsinterpreten vor die schwierige Entscheidung, den Absatz entweder als unverbindlichen Programmsatz oder als direkten Normbefehl zu verstehen. Wählt man letzteren Ansatz, so stellt sich die Frage, auf welche „unverletzlichen und unveräußerlichen“ Menschenrechte das Grundgesetz Bezug nimmt; immerhin hat dieser Rechtsbegriff keine scharfen Konturen (v. Münch/Kunig/Kunig Art. 1 Rn. 59 ff.; MKS/Starck Art. 1 Rn. 131). Zwar legt die Verknüpfung mit Art. 1 I („darum“) nahe, dass nur solche Menschenrechte gemeint sind, die im Zusammenhang mit der Menschenwürde stehen. Dabei handelt es sich jedoch um einen hochabstrakten Rechtsbegriff; überdies gibt es keinen klar begrenzten Kernbereich von Menschenrechten mit Würdebezug. Im Schrifttum wird deshalb vorgeschlagen, Art. 1 II nur dann eine eigenständige normative Bedeutung beizumessen, „wenn die positive Grundrechtsordnung an ihre Grenzen stößt“ (Dreier/Dreier Art. 1 II Rn. 14). Typischerweise sei dies bei einer Beurteilung von Sachverhalten außerhalb des zeitlichen und räumlichen Geltungsbereiches des Grundgesetzes der Fall. Ein Beispiel für eine unmittelbare Anwendung des Menschenwürdebekenntnisses findet sich in einer Entscheidung des BSG zur Entschädigungsrente bei Verstößen gegen die Grundsätze der Menschlichkeit. Darin heißt es: „Der Rechtsgrund, den Versuch der – objektiv unmöglichen – Wiedergutmachung durch Gewährung von Rechten auf Entschädigung zu unternehmen, ergibt sich […] aus den in Art 1 Abs 1 und Abs 2 GG eingegangenen ,Selbstverpflichtungen‘ der Bundesrepublik Deutschland zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde sowie der unveräußerlichen Menschenrechte“ (BSGE 80, 72 (83)). Beachtung verdient auch der Ansatz, Art. 1 II im Zusammenhang mit einer Begründung zur Unwirksamkeit positiven Rechts im Sinne der Radbruch’schen Formel (s. dazu BVerfGE 95, 96 (134)) heranzuziehen. Mithin würde Art. 1 II den Weg für eine Implementierung „grundlegender Gerechtigkeitspostulate“ (Denninger JZ 1998, 1129 (1133)) eröffnen.

Sofern man in Art. 1 II einen Verweis auf internationale Rechtsabkommen erkennt, stellt sich die Frage, ob diese Norm einen Inkorporationsautomatismus auslöst. Dies ist nach ganz hM auch bei Bezügen zu Menschenrechten abzulehnen. Zum einen unterliegen völkerrechtliche Abkommen einem besonderen verfassungsrechtlich speziell geregelten Transformationsprozess (Art. 59 II). Soweit es sich um allgemeine Regeln des Völkerrechts handelt, ordnet Art. 25 an, dass sie „Bestandteil des Bundesrechtes“ sind. Allenfalls kann aus Art. 1 II die grds. völkerrechtsfreundliche Tendenz des Grundgesetzes (vgl. dazu Vor Art. 1 Rn. 2a) herausgelesen werden. Unzweifelhaft folgt aber weder aus dieser Grundeinstellung noch aus dem Bekenntnis eine „Verpflichtung zur uneingeschränkten Anwendung fremden Rechts durch inländische Hoheitsträger […]. Das in der Verfassung vorangestellte Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als der Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt […] ist nicht zu vereinbaren mit der Vorstellung, die mit den Grundrechten aufgerichtete Wertordnung, besonders die dadurch gewährte Sicherung eines Freiheitsraums für den Einzelnen, könne oder müsse allgemein außer Funktion treten, um der Rechtsordnung anderer Staaten den Vorrang zu lassen“ (BVerfGE 31, 58 (76)). Vielmehr beschränkt sich das Bekenntnis auf ein Verbot, „den Grundrechtsbestand in einer Weise abzusenken, dass der menschenrechtliche Mindestgehalt […] unterschritten wird“ (Sachs/Höfling Art. 1 Rn. 79).

Ggf. sind die allgemeinen Regeln des Völkerrechts, insbes. aber die EMRK, die 1950 als multilateraler Vertrag von den Mitgliedern des Europarats geschlossen wurde, bei der Auslegung des Grundgesetzes zu berücksichtigen. Die Art. 19 ff. EMRK eröffnen jedem Bürger eines Vertragsstaates die Möglichkeit, mittels einer Individualbeschwerde (Art. 34 EMRK) nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges den EGMR um Hilfe zu ersuchen. Grds. sind die Vertragsstaaten nach Art. 46 I EMRK verpflichtet, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen. Die Bindungswirkung einer Entscheidung des EGMR erstreckt sich auf alle staatlichen Organe und verpflichtet diese, einen fortdauernden Konventionsverstoß zu beenden (BVerfG [K] NJW 2005, 1105 (1107)). Insbes. wenn „im Rahmen geltender methodischer Standards Auslegungs- und Abwägungsspielräume eröffnet sind, trifft deutsche Gerichte die Pflicht, der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Beachtung der Entscheidung des Gerichtshofs […] gegen eindeutig entgegenstehendes Gesetzesrecht oder deutsche Verfassungsbestimmungen, namentlich auch gegen Grundrechte Dritter verstößt“ (BVerfGE 111, 307 (329); vgl. ferner BVerfGE 151, 1 (28); s. auch Ludwigs/Sikora JuS 2017, 385 (387)). Damit werden die Grenzen der Bindungswirkung deutlich: Der Vorrang des Grundgesetzes bleibt bestehen, wenn ein Urteil des EGMR eine Änderung dieser Verfassung erfordert, mithin eine völkerrechtliche Auslegung des Grundgesetzes nicht möglich ist und dessen Änderung noch aussteht (Meyer-Ladewig/Petzold NJW 2005, 15 (20)). Im Zusammenhang mit der Sicherungsverwahrung (auch Vor Art. 1 Rn. 2a, Art. 1 Rn. 14, Art. 2 Rn. 39, Art. 103 Rn. 16) weist das BVerfG darauf hin, die „inhaltliche Ausrichtung des Grundgesetzes auf die Menschenrechte“ komme insbes. in dem Bekenntnis des Art. 1 II zum Ausdruck, und führt im Anschluss daran aus: „Das Grundgesetz weist mit Art. 1 Abs. 2 GG dem Kernbestand an Menschenrechten einen besonderen Schutz zu. Dieser ist in Verbindung mit Art. 59 Abs. 2 GG die Grundlage für die verfassungsrechtliche Pflicht, auch bei der Anwendung der deutschen Grundrechte die Europäische Menschenrechtskonvention in ihrer konkreten Ausgestaltung als Auslegungshilfe heranzuziehen. Art. 1 Abs. 2 GG ist daher zwar kein Einfallstor für einen unmittelbaren Verfassungsrang der Europäischen Menschenrechtskonvention, die Vorschrift ist aber mehr als ein unverbindlicher Programmsatz, indem sie eine Maxime für die Auslegung des Grundgesetzes vorgibt und verdeutlicht, dass die Grundrechte auch als Ausprägung der Menschenrechte zu verstehen sind und diese als Mindeststandard in sich aufgenommen haben“ (BVerfGE 128, 326 (369); vgl. auch BVerfGE 152, 152 (176); 158, 1 (36) sowie bereits BVerfGE 74, 358 (370); 111, 307 (329)).

III. Grundrechtsbindung

Art. 1 III bindet alle staatlichen Gewalten (Legislative, Exekutive und Judikative) bei der Ausübung ihrer Funktionen an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht. Die Bindungswirkung erstreckt sich auch auf die Träger mittelbarer Staatsgewalt, also Gemeinden, Beliehene, berufsständische Kammern, Selbstverwaltungseinrichtungen etc. (v. Münch/Kunig/Kunig Art. 1 Rn. 73). Erfasst ist „jedes Handeln staatlicher Organe oder Organisationen, weil es in Wahrnehmung ihres dem Gemeinwohl verpflichteten Auftrags erfolgt“; dazu gehören neben imperativen Maßnahmen auch „Entscheidungen, Äußerungen und Handlungen, die – auf den jeweiligen staatlichen Entscheidungsebenen – den Anspruch erheben können, autorisiert im Namen aller Bürger getroffen zu werden“ (BVerfGE 128, 226 (244); vgl. ferner BVerfGE 154, 152 (218)). Für die Grundrechtsbindung der öffentlichen Verwaltung kommt es nicht auf deren Organisations- oder Handlungsform an. Die öffentliche Verwaltung kann sich in bestimmten Fällen entscheiden, ob sie öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich tätig werden will. Erfüllt ein öffentlich-rechtlicher Verwaltungsträger unmittelbar hoheitliche Aufgaben in privatrechtlicher Form, so befreit dieses Vorgehen jedoch nicht von der Grundrechtsbindung; dies „gilt sowohl für die Verwendung von zivilrechtlichen Handlungsformen als auch für den Einsatz privatrechtlicher Organisations- und Gesellschaftsformen“ (BVerfGE 128, 226 (244)). Dem Staat ist also eine „Flucht aus der Grundrechtsbindung in das Privatrecht“ verwehrt (BVerfGE 128, 226 (245); s. näher zum Verwaltungsprivatrecht und der dortigen Grundrechtsbindung Sodan/Ziekow/Sodan § 40 Rn. 312 ff., insbes. 314 ff.). Nicht nur öffentliche Unternehmen in Privatrechtsform, welche vollständig im Eigentum der öffentlichen Hand stehen, sondern auch gemischtwirtschaftliche Unternehmen, an denen sowohl private als auch öffentliche Anteilseigner beteiligt sind und die von letzteren beherrscht werden, unterliegen einer unmittelbaren Grundrechtsbindung; eine solche Beherrschung ist gegeben, wenn sich mehr als die Hälfte der Anteile im Eigentum der öffentlichen Hand befinden (BVerfGE 128, 226 (246 f.); vgl. auch BVerfG [K] NJW 2016, 3153 (3154)). Nach der Rspr. des BVerfG sind die Auswirkungen dieser Grundrechtsbindung „jedoch begrenzt. Insbesondere wird die öffentliche Hand hierdurch nicht grundsätzlich daran gehindert, in adäquater und weithin gleichberechtigter Weise wie Private die Handlungsinstrumente des Zivilrechts für ihre Aufgabenwahrnehmung zu nutzen und auch sonst am privaten Wirtschaftsverkehr teilzunehmen“ (BVerfGE 128, 226 (248)). Vor allem verbietet auch Art. 3 I „Differenzierungen nicht, die an marktrelevante Kriterien wie Produktqualität, Zuverlässigkeit und Zahlungsfähigkeit anknüpfen, um ein wettbewerbliches Wirtschaften des Unternehmens zu ermöglichen“; öffentliche einschließlich der öffentlich beherrschten Unternehmen sind jedoch bei der Gestaltung ihrer Vertragsbeziehungen zu „rechtsstaatlicher Neutralität“ verpflichtet, sodass es ihnen nicht freisteht, „ihre wirtschaftliche Tätigkeit nach Belieben mit subjektiv weltanschaulichen Präferenzen oder Zielsetzungen und hierauf beruhenden Differenzierungen zu verbinden“ (BVerfGE 128, 226 (248 f.)). Die vorgenannten Maßstäbe gelten nicht nur für erwerbswirtschaftliche Betätigungen der öffentlichen Hand, sondern auch für sog. Hilfsgeschäfte der Verwaltung (allg. Bedarfsdeckung). Denn der Staat handelt hier ebenfalls funktional nicht wie ein grundrechtsberechtigter Privater, sondern wird im Rahmen seiner Tätigkeit als Sachwalter der Allgemeinheit tätig (Sachs/Höfling Art. 1 Rn. 107).