Artikel 11 [Freizügigkeit]
(1) Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet.
(2) Dieses Recht darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes und nur für die Fälle eingeschränkt werden, in denen eine ausreichende Lebensgrundlage nicht vorhanden ist und der Allgemeinheit daraus besondere Lasten entstehen würden oder in denen es zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes, zur Bekämpfung von Seuchengefahr, Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen, zum Schutze der Jugend vor Verwahrlosung oder um strafbaren Handlungen vorzubeugen, erforderlich ist.
I. Bedeutung des Grundrechts
Die Freizügigkeit ist eines der ältesten Grundrechte überhaupt und fand schon in der englischen Magna Charta Libertatum von 1215 Erwähnung. Von besonderer Bedeutung war sie im Zeitalter von Reformation und Restauration. Andersgläubigen wurde durch das Recht auf Wohnortwechsel die Möglichkeit gegeben, dem Verdikt des „cuius regio, eius religio“ und den damit verbundenen Verfolgungen zu entgehen (Sachs/Pagenkopf Art. 11 Rn. 1). Auch die Bauernbefreiung sowie die damit verbundene Auflösung der rechtlichen und ökonomischen Bindung an ein Territorium haben einen deutlichen Bezug zur Freizügigkeit. Das Streben nach individueller Selbstbestimmung bedingt auch die autonome Wahl des Aufenthaltsortes. Damit wird zugleich die enge Verknüpfung von Freizügigkeit und Berufsfreiheit deutlich: Ein auf private Initiative angewiesenes Wirtschaftssystem kann sich nur bei größtmöglicher Freizügigkeit und damit verbundenen Mobilitätsgarantien erfolgreich entwickeln (v. Münch/Kunig/Kunig/Graf von Kielmansegg Art. 11 Rn. 1). Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges stellte die Übernahme der Freizügigkeitsgarantie in das Grundgesetz die Verfassungsgeber vor Probleme. In dem Entwurf des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee wurde vor dem Hintergrund der realpolitischen Gegebenheiten (Besatzung, Flüchtlingsströme) auf eine Inkorporation des Freizügigkeitsrechts verzichtet. Insofern stellt die Ausformulierung der besonderen Gesetzesvorbehalte in Art. 11 II eine das Grundrecht überhaupt erst ermöglichende Reaktion des Verfassungsgebers auf jene Umstände dar. Eine weitergehende Einschränkungsmöglichkeit erfuhr die Freizügigkeitsgarantie erst 1968 im Zuge der Notstandsgesetzgebung. Diese bei besonderen staatlichen Situationen gebotene Möglichkeit zur Eingrenzung der Freizügigkeit steht nicht im Widerspruch zu der naturrechtlich begründeten Bestrafung der „Mauerschützen“ (so aber Hufen § 18 Rn. 2). Denn sämtliche Einschränkungsmöglichkeiten eines Grundrechts sind nach den Maßstäben des Grundgesetzes an besondere rechtfertigende Situationen geknüpft, während in der DDR „die Gesetzeslage von Befehlen überlagert war, die für eine Eingrenzung des Schußwaffengebrauchs nach den Maßstäben des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes keinerlei Raum ließen und den Angehörigen der Grenztruppen vor Ort die Auffassung ihrer Vorgesetzten […] vermittelten, Grenzverletzer seien zu ,vernichten‘“ (BVerfGE 95, 96 (136)). Kein Ausdruck von genuinen Menschenrechten, sondern zweckgebundene Freiheiten mit wirtschaftspolitischem Bezug sind im Gegensatz zur grundgesetzlichen Freizügigkeit die entspr. Verbürgungen des europäischen Unionsrechts (Arbeitnehmerfreizügigkeit, Art. 45 ff. AEUV; Niederlassungsfreiheit, Art. 49 ff. AEUV; Dienstleistungsfreiheit, Art. 56 ff. AEUV). Davon zu unterscheiden ist das in Art. 21 AEUV verankerte allgemeine Freizügigkeitsrecht für den Unionsbürger. Dieses Recht ist nicht an wirtschaftliche Voraussetzungen geknüpft, kann allerdings auch Gegenstand beschränkenden Sekundärrechts sein (Sachs/Pagenkopf Art. 11 Rn. 9). Inhaltlich identisch wurde in Art. 45 GRCh die Freizügigkeit eines jeden Unionsbürgers als Grundrecht verankert, welche nach den Maßgaben des Art. 52 GRCh beschränkt werden kann.
II. Schutzbereich
Art. 11 I gewährt allen Deutschen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet, dh die Freiheit, im gesamten Bundesgebiet Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen (BVerfGE 2, 266 (273); 80, 137 (150); 110, 177 (190 f.); 134, 242 (323)), einschließlich des Rechts, an dem gewählten Wohnsitz zu bleiben (BVerfGE 134, 242 (324 f.); BVerwG DVBl 2008, 1509). Unter Wohnsitz versteht man die ständige Niederlassung an einem Ort mit dem Willen, nicht nur vorübergehend zu bleiben und den Ort zum Mittelpunkt der Lebensverhältnisse zu machen (Sachs/Pagenkopf Art. 11 Rn. 15). Demgegenüber bezeichnet der Aufenthalt nur das vorübergehende Verweilen an einem Ort. In Abgrenzung zu der durch Art. 2 I geschützten Fortbewegungsfreiheit (Art. 2 Rn. 3) und der in Art. 2 II 2 gewährleisteten Freiheit der Person (Art. 2 Rn. 32 ff.) ist angesichts der engen Schrankenziehung in Art. 11 II für einen „Aufenthalt“ zu fordern, dass das Verweilen mehr als nur flüchtig sowie durch eine gewisse Dauer und soziale Relevanz gekennzeichnet ist. Vom Normzweck geschützt sind mithin solche Verhaltensweisen, die sich „als Fortbewegung im Sinne eines Ortswechsels qualifizieren lassen und dadurch eine über die insbesondere in Art. 2 GG geschützte körperliche Bewegungsfreiheit hinausgehende Bedeutung für die räumlich gebundene Gestaltung des alltäglichen Lebenskreises haben“ (BVerfG [K] BeckRS 2008, 142691 Rn. 21). Geschützt sind auch die Fortbewegung zur Wohnsitz- bzw. Aufenthaltsnahme sowie die Einreise (zum Zweck der Aufenthaltsnahme) und die Einwanderung (zur Wohnsitznahme) in das Bundesgebiet (BVerfGE 134, 242 (323 f.)). Schon aus dem Wortlaut des Art. 11 I („im Bundesgebiet“) ergibt sich dagegen, dass Ausreise und Auswanderung nicht vom Schutzbereich umfasst sind (BVerfGE 6, 32 (34); vgl. auch BVerfGE 72, 200 (245); Stern/Sodan/Möstl/Friehe § 106 Rn. 37). Zwar entspricht die Freiheit der Ausreise „dem Konzept des offenen Verfassungsstaates und den Bedürfnissen einer freien, mobilen Gesellschaft“ (Dreier/Pernice, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 11 Rn. 15); die Auslegung des Art. 11 I durch das BVerfG hat aber nicht zur Folge, dass die Ausreise ohne verfassungsrechtlichen Schutz ist. Schließlich verbleibt der grundgesetzliche Schutz durch Art. 2 I, der ggf. über Art. 21 AEUV verstärkt werden kann (für eine europarechtskonforme Auslegung des Art. 11 I plädiert dagegen Sachs/Pagenkopf Art. 11 Rn. 9, 18). Nach der Rspr. des BVerfG gewährleistet Art. 11 I kein „eigenständiges Recht auf Heimat im Sinne des mit dem gewählten Wohnsitz dauerhaft verbundenen städtebaulichen und sozialen Umfelds“ (BVerfGE 134, 242 (328)).
Die Freizügigkeit würde leer laufen, wenn sie nicht auch vor Nachteilen schützen würde, die mit der Ausübung des Grundrechts verbunden sind. Daher gewährleistet Art. 11 I, dass Eigentum und Vermögen bei der Ausübung der Freizügigkeit mitgenommen werden dürfen. „Soweit der betreffende Mobilitätssachverhalt im Zusammenhang mit einer beruflichen Tätigkeit im Sinne des Art. 12 Abs. 1 GG steht – sei es zur Ermöglichung der Aufnahme der Tätigkeit, sei es in deren Ausübung – ist der sachliche Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG eröffnet. Als historischer Kern des Rechts auf innere Freizügigkeit wird die wirtschaftliche Freizügigkeit gleichzeitig von Art. 11 Abs. 1 GG geschützt“ (Ziekow, Über Freizügigkeit und Aufenthalt, 1997, 472 f.). Nicht in den Gewährleistungsgehalt von Art. 11 I fällt aber die Möglichkeit, aufgrund eines Rückgriffs auf das Mobilitätselement an jedem Ort der Bundesrepublik Deutschland die Zulassung zu einem Beruf zu verlangen und jeden Beruf nach freiem Belieben ausüben zu können.
Nach Ansicht des BVerfG ist die Benutzung eines bestimmten Beförderungsmittels oder die Bereitstellung dafür geeigneter Wege nicht vom Schutzbereich umfasst (BVerfGE 80, 137 (150)). Überhaupt ist Art. 11 I nach hM kein zur Ableitung von Leistungsansprüchen geeignetes Grundrecht (Sachs/Pagenkopf Art. 11 Rn. 22). Dem lässt sich allerdings entgegenhalten, dass jedenfalls dort, „wo der Staat […] ein faktisches, nicht beliebig aufgebbares Monopol für sich in Anspruch genommen hat und wo […] die Beteiligung an staatlichen Leistungen zugleich notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung von Grundrechten ist“ (BVerfGE 33, 303 (331 f.)), die freie Entscheidung über die Gewährung nicht zur Disposition der staatlichen Organe steht. Ein solches für die Verwirklichung von Grundrechten unabdingbares staatliches (faktisches) Monopol besteht in der Bereitstellung von Verbindungswegen, insbes. bei der Überbrückung längerer Strecken. Eine funktionierende Verkehrsinfrastruktur ist zur Wahrnehmung eines grundrechtlich gesicherten Freiheitsraumes (vor allem im Hinblick auf die Berufsfreiheit) unerlässlich. Mithin ergibt sich aus dem Grundrecht auf Freizügigkeit „ein Recht auf Einrichtung eines Minimalstandards von Verbindungswegen“ (Ziekow, Über Freizügigkeit und Aufenthalt, 1997, 597).
Neben der positiven ist auch die negative Dimension der Freizügigkeit in Form des Rechts, Aufenthalt oder Wohnsitz nicht aufzugeben oder wechseln zu müssen, vom Schutzbereich umfasst (BVerfGE 134, 242 (324)). Bspw. wäre im Falle eines Zwanges zur Umsiedlung aufgrund eines vordringenden Tagebaus Art. 11 I betroffen (dagegen für eine Anwendbarkeit des Art. 14 BVerwG DVBl 2008, 1509). Gleiches gilt für präventivpolizeiliche Maßnahmen, die Platzverweise (aA BVerfG [K] BeckRS 2008, 142691 Rn. 21 f.), Aufenthaltsverbote oder Wohnungsverweise zum Gegenstand haben (vgl. zum Kriminalvorbehalt Rn. 14).
Die Freizügigkeit ist als Deutschengrundrecht konzipiert. Vor dem Hintergrund der unionsbürgerlichen Freizügigkeit (Art. 21 AEUV) und des in Art. 18 AEUV enthaltenen Verbots jeder Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit muss auch Bürgern anderer Mitgliedstaaten der EU als der Bundesrepublik Deutschland ein Schutz der Freizügigkeit gewährt werden. Dieser erfolgt jedoch angesichts des eindeutigen Wortlautes von Art. 11 I nicht über diese Norm, sondern durch die Anwendung von Art. 2 I als sog. Auffanggrundrecht (Vor Art. 1 Rn. 36 ff.; aA Stern/Sodan/Möstl/Friehe, § 106 Rn. 31).
Die Freiheit, Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen, entspricht der grundrechtstypischen Gefährdungslage (Art. 19 Rn. 19) des durch die Freizügigkeit gewährten Schutzgehaltes und steht der durch Art. 12 I gewährleisteten Freiheit nahe, so dass sich auch inländische juristische Personen des Privatrechts auf den Schutzgehalt des Art. 11 I berufen können (zur Frage der Erstreckung des Grundrechtsschutzes auf juristische Personen des Privatrechts aus dem EU-Ausland durch eine „Anwendungserweiterung“ des Art. 19 III Art. 19 Rn. 18). Mithin werden sowohl Verlagerung als auch Beibehaltung des Unternehmenssitzes sowie die Gründung von Zweigniederlassungen durch Art. 11 I geschützt. Für wirtschaftlich tätige juristische Personen stellt Art. 12 I jedoch häufig eine lex specialis dar (HStR VIII/Breuer § 170 Rn. 93 f., 127; Jarass/Pieroth/Jarass Art. 11 Rn. 6; Dreier/Wollenschläger Art. 11 Rn. 43, 67; hinsichtlich natürlicher Personen BVerwGE 12, 140 (162); aA Ziekow, Über Freizügigkeit und Aufenthalt, 1997, 529 f.; Friauf/Höfling/Ziekow Art. 11 Rn. 51 ff.; vgl. auch Art. 12 Rn. 14).
III. Eingriffe
Eingriffe in das Grundrecht auf Freizügigkeit sind vor allem imperative Einwirkungen auf die geschützten Verhaltensweisen, also etwa staatliche Verbote (typisch: Aufenthaltsverbote), Genehmigungserfordernisse oder Bedingungen. Auch bloß mittelbare bzw. faktische Beeinträchtigungen, welche in ihrer Intensität jenen Wirkungen gleich- oder zumindest nahekommen, können Eingriffe darstellen (vgl. Vor Art. 1 Rn. 48 f.). Dann allerdings muss das staatliche Vorgehen geeignet sein, „einen gewichtigen Einfluss auf die Willensentscheidung des Bürgers auszuüben“ (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 11 Rn. 8). Ausschlaggebend ist eine dem klassischen Eingriff vergleichbare Zwangswirkung, „die bei objektiver Betrachtung eine andere Entscheidung unzumutbar macht und insofern zum Ziehen oder Nichtziehen zwingt“ (Ziekow, Über Freizügigkeit und Aufenthalt, 1997, 545). Eine solche „mittelbare zielgerichtete Beeinträchtigung des Grundrechts“ stellt etwa ein wirtschaftlich spürbarer Nachteil durch eine von einer Zuweisung abweichende Wohnortwahl dar (BVerfGE 110, 177 (191)). Indes wird die Meldepflicht keinen Eingriff darstellen, zumindest sofern als Sanktion keine Aufenthaltsverweigerung angeknüpft ist. Ebenfalls nicht als Eingriffe können die Regelung des Verkehrs durch Verkehrszeichen oder Parkverbotszonen, die Sperrung einzelner Verbindungswege, die Anknüpfung der Wahlberechtigung an den Hauptwohnort oder – mangels Intensität – die Zweitwohnungsteuer qualifiziert werden. Wenn jedoch etwa alle die Benutzung eines Beförderungsmittels ermöglichenden Verbindungswege zu einem (im ländlichen Raum gelegenen) Ort gekappt würden, so ließe sich die Isolierung trotz faktisch vorhandener, aber nicht angemessener Fortbewegungsmöglichkeit als ein mittelbarer Eingriff qualifizieren.
IV. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Art. 11 II statuiert einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt (Vor Art. 1 Rn. 52) für Einschränkungen der Freizügigkeit: In diese darf nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes und nur aus den näher bezeichneten Gründen eingegriffen werden.
Den ersten Anknüpfungspunkt für freizügigkeitsbeschränkende Eingriffe bildet der Vorbehalt der Fürsorgelast. Voraussetzung ist zunächst, dass dem Grundrechtsträger eine ausreichende Lebensgrundlage fehlt und dadurch besondere Lasten für die Allgemeinheit entstehen. Eine ausreichende Lebensgrundlage fehlt, wenn der Lebensmindestbedarf nicht aus eigener Kraft sichergestellt werden kann und dieser Zustand nicht nur vorübergehend ist. Grds. verbieten aber das Sozialstaatsprinzip und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland, dass die Wahrnehmung persönlicher Grundrechte unter Hinweis auf finanzielle Lasten der Allgemeinheit beschränkt werden kann (Sachs/Pagenkopf Art. 11 Rn. 24). Kommt es dagegen zu außergewöhnlichen Flüchtlings- und Aussiedlerströmen, so können die durch die Aufnahme entstehenden Lasten für die Gemeinden eine Einschränkung der Grundrechtswahrnehmung notwendig machen. Solche besonderen Lasten sind der Allgemeinheit durch den Zuzug von insgesamt drei Millionen Spätaussiedlern (vgl. § 4 III 1 BVFG) ab 1987 in die Bundesrepublik entstanden (vgl. hierzu die Statistik in BVerfGE 110, 177 (180)), die seinerzeit in aller Regel sozialhilfebedürftig waren. Zu den zuzugsbedingten Lasten gehörten „insbesondere die Bereitstellung von Wohnraum, infrastrukturelle Folgelasten wie die Herstellung und Erweiterung von Einrichtungen der Betreuung von Kindern, der schulischen Ausbildung, von Kultur und Sport sowie von Anlagen der öffentlichen Versorgung und Entsorgung. Hinzu kommen in Fällen der in Rede stehenden Art Maßnahmen der Integration wie das Angebot von Sprachkursen, Eingliederungshilfen und Vorsorge dafür, dass die eingesessene Bevölkerung die zugewanderten Menschen aufnimmt und in die örtliche Gemeinschaft einbezieht. Art. 11 Abs. 2 Variante 1 GG gibt unter diesen Voraussetzungen dem Gesetzgeber die Befugnis, unter Einschränkung des Grundrechts der Freizügigkeit die Lasten auf Länder und kommunale Gebietskörperschaften zu verteilen und damit insbesondere einer Überlastung einzelner Gemeinden entgegenzuwirken“ (BVerfGE 110, 177 (192 f.)).
Einen weiteren qualifizierten Gesetzesvorbehalt statuiert der in Art. 11 II Var. 2 geregelte sog. innere Notstandsvorbehalt (vgl. DHS/Durner Art. 11 Rn. 165). Danach kann zur Abwehr einer Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes eine Einschränkung der Freizügigkeit geboten sein, um bspw. inneren Unruhen oder terroristischen Aktivitäten entgegenzutreten. Unter Bestand des Bundes oder eines Landes sind die drei Elemente der Staatlichkeit – Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt (s. dazu Sodan/Ziekow § 4 Rn. 1 ff.) – zu subsumieren. Die freiheitliche demokratische Grundordnung umfasst „zentrale Grundprinzipien, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich sind“ (BVerfGE 144, 20 (205); näher Art. 21 Rn. 36 f.). „Sie ist das Gegenteil des totalen Staates, der als ausschließliche Herrschaftsmacht Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit ablehnt“ (BVerfGE 2, 1 (12); 144, 20 (203)). Der Begriff der drohenden Gefahr kennzeichnet einen Zustand, in dem eine hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintrittes besteht. Als staatliche Maßnahmen, die zur Bekämpfung eines inneren Notstandes geeignet sind, kommen Ausgangssperren oder Evakuierungsmaßnahmen in Betracht.
Einen geradezu klassischen Sicherheitsvorbehalt enthält Art. 11 II Var. 3, der sich in ähnlicher Formulierung auch in Art. 13 VII findet. Es ist allgemein anerkannt, dass im Falle von Seuchengefahren, Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen die Sicherheit der Allgemeinheit den Vorrang vor der individuellen Freizügigkeit verdient (DHS/Durner Art. 11 Rn. 173 ff.). Der Begriff der Seuche nimmt Bezug auf übertragbare medizinisch fassbare Massengefahren (DHS/Durner Art. 11 Rn. 175). Zur Konkretisierung wurden im früheren Bundesseuchengesetz „übertragbare Krankheiten“ definiert. Das IfSG (s. zu einem Überblick über das Infektionsschutzrecht Ehlers/Fehling/Pünder/Sodan, Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. 2, 4. Aufl. 2020, § 56 Rn. 2 ff.) differenziert zwischen „übertragbaren Krankheiten“, die „durch Krankheitserreger oder deren toxische Produkte, die unmittelbar oder mittelbar auf den Menschen übertragen werden“, verursacht werden (§ 2 Nr. 3 IfSG), und „bedrohlichen übertragbaren Krankheiten“, „die auf Grund klinisch schwerer Verlaufsformen oder ihrer Ausbreitungsweise eine schwerwiegende Gefahr für die Allgemeinheit verursachen“ können (§ 2 Nr. 3a IfSG). Verfassungsrechtlich ist diese Differenzierung für die Bestimmung einer Seuche iSv Art. 11 II freilich unbeachtlich; Auswirkungen kann dies ggf. für das Vorliegen einer Gefahr haben. Der Begriff der Seuche umfasst neben Human- auch Tierkrankheiten. Diese können Beschränkungen des Personen- und Fahrzeugverkehrs notwendig machen (vgl. § 6 I Nr. 17 lit. a TierGesG). Nicht unter den Begriff der Seuche fallen dagegen allgemeine Umweltverseuchungen, wie sie durch Naturkatastrophen oder Unglücksfälle entstehen können. Eine Gefahr liegt vor, wenn eine Sachlage bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens in absehbarer Zeit und mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu Schäden an geschützten Rechtsgütern führt. Naturkatastrophen sind durch Naturgewalten hervorgerufene, plötzliche Ereignisse, die für viele Personen schädliche Folgen herbeiführen können (Überschwemmungen, Erdbeben, länger andauernde Sturmwetterlagen). Unglücksfälle sind dagegen technischen Ursprungs; sie können für große Personenkreise und weite Gebiete verheerende Folgen haben (zB Tankschiffhavarien, Unfälle in Kernkraftwerken).
Eingriffe in das Grundrecht auf Freizügigkeit von Kindern und Jugendlichen können, vorbehaltlich der Einhaltung weiterer Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen, aus Gründen des Schutzes vor Verwahrlosung gem. Art. 11 II Var. 4 gerechtfertigt sein. Verwahrlosung bezeichnet allgemein einen Zustand, in dem gesellschaftliche Mindesterwartungen an ein soziales Zusammenleben nicht erfüllt werden und der für die Entwicklung des Minderjährigen zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit schädlich ist (zu jugendgefährdenden Medien vgl. § 18 JuSchG). Auf den individuellen Hintergrund der Verwahrlosung kommt es nicht an. Aus Gründen des Schutzes vor Verwahrlosung kann es geboten sein, den Minderjährigen aus seinem bisherigen sozialen Umfeld zu entfernen. Beispiele für solche Freizügigkeitsbeschränkungen finden sich in § 42 SGB VIII (Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen) oder § 10 I 3 Nr. 1 und 2 JGG (Weisungen des Jugendrichters); beide Maßnahmen lassen sich allerdings auch als Konkretisierung des Kriminalvorbehalts (Rn. 14) verstehen.
Der Kriminalvorbehalt (Art. 11 II Var. 5) ermöglicht freizügigkeitsbeschränkende Maßnahmen zur Verhinderung von Straftaten. Dieser Gesetzesvorbehalt hat eine eindeutig präventive Prägung; für die Vollstreckung und den Vollzug von Freiheitsstrafen (repressives Handeln) ist dagegen Art. 2 II 2 einschlägiger Grundrechtsmaßstab. Um dem qualifizierten Gesetzesvorbehalt und der hohen Bedeutung des Grundrechts gerecht zu werden, ist eine Einschränkung aufgrund des Kriminalvorbehalts nur möglich, wenn im konkreten Fall mit hinreichender Wahrscheinlichkeit mit der Begehung von Straftaten zu rechnen ist oder eine Dauerstraftat bereits eingetreten ist. Art. 11 II Var. 5 ist restriktiv auszulegen. Diesem Rechtsstaatlichkeitsanspruch ist durch eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung (Vor Art. 1 Rn. 62 ff.) nachzukommen (vgl. DHS/Durner Art. 11 Rn. 187). Während bei einem polizeilichen Platzverweis kein Eingriff in den Schutzgehalt vorliegt (da flüchtiges Verweilen nicht vom Schutzbereich umfasst ist), muss jedenfalls bei einer Beschränkung des Zugangs zu einem Platz, der länger als 24 Stunden andauert, von einem Aufenthaltsverbot ausgegangen werden (Schenke Rn. 145), welches einen Eingriff in Art. 11 I darstellt. Die Ordnungsbehörden können sich aber nicht auf die öffentliche Ordnung berufen, da diese gem. Art. 11 II keine Einschränkung des Grundrechts rechtfertigt (DHS/Durner Art. 11 Rn. 185). Vielmehr muss das Aufenthaltsverbot der Verhütung strafbarer Handlungen dienen; idR wird es sich um Maßnahmen zur Bekämpfung einer offenen Drogenszene handeln. Eine unbegrenzte Verhängung eines Aufenthaltsverbots verstößt allerdings gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Als Höchstgrenze werden sechs Monate vorgeschlagen (Hecker NVwZ 2003, 1334 (1336)). Für die Wohnungsverweisung ist zu beachten, dass auch diese nur zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten (DHS/Durner Art. 11 Rn. 188), nicht aber zur Vorbeugung eines Suizides zulässig ist. Insbes. am Kriminalvorbehalt zeigt sich, dass die ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für die Ausgestaltung der Freizügigkeit nach Art. 73 I Nr. 3 nicht die Regelungszuständigkeit der Länder im Gefahrenabwehrrecht verdrängen kann und die diesbezüglichen Normen zu einer Einschränkung des Grundrechts ebenfalls herangezogen werden können (vgl. BVerwGE 129, 142 (144 f.)).
Eingriffe in das Grundrecht der Freizügigkeit sind auch außerhalb des Gesetzesvorbehalts von Abs. 2 möglich, etwa wenn sie der Verteidigung dienen (Art. 17a II) oder aus kollidierendem Verfassungsrecht (Vor Art. 1 Rn. 53) gerechtfertigt werden können (Stern/Sodan/Möstl/Friehe § 106 Rn. 96 f.). So darf die Polizei etwa minderjährige „Ausreißer“, die sich auf Art. 11 I berufen können, in Gewahrsam nehmen und sie den sorgeberechtigten Eltern zuführen. Der Eingriff ist hier durch Art. 6 I gerechtfertigt (DHS/Durner Art. 11 Rn. 194).