Artikel 103 [Rechtliches Gehör; Gesetzlichkeit der Strafe; Verbot mehrmaliger Strafverfolgung]
(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.
(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.
(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.
I. Anspruch auf rechtliches Gehör
1. Allgemeine Bedeutung
Art. 103 I enthält die grundrechtsgleiche Garantie rechtlichen Gehörs vor Gericht, die als „das prozessuale Urrecht des Menschen“ (BVerfGE 55, 1 (6); s. ferner BVerfGE 107, 395 (408)) gewährleisten soll, dass der Einzelne nicht bloßes Objekt eines gerichtlichen Verfahrens ist, sondern vor einer seine Rechte betreffenden Entscheidung zu Wort kommen und so auf das Verfahren sowie dessen Ergebnis Einfluss nehmen kann (BVerfGE 9, 89 (95); 84, 188 (190); vgl. ferner BVerfGE 109, 13 (38 f.); BVerfG [K] NJW 2007, 1670 (1671); 2007, 3486 (3487); 2012, 2262; 2017, 318; NVwZ-RR 2017, 81 (82)). Insoweit stellt Art. 103 I nicht nur ein Abwehrrecht dar, sondern auch ein Leistungs- und Teilhaberecht (Jarass/Pieroth/Kment Art. 103 Rn. 1, 3). Der Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht ist gleichzeitig ein objektiv-rechtliches Prinzip (s. dazu Stern/Sodan/Möstl/Rixen § 133 Rn. 19).
2. Art. 103 I und einfachgesetzliches Verfahrensrecht
Die grundgesetzliche Gewährleistung rechtlichen Gehörs konkretisiert das Rechtsstaatsprinzip mit weitreichenden Folgen für das gerichtliche Verfahren und bedarf in hohem Maße einer Ausgestaltung durch den Gesetzgeber (BVerfGE 9, 89 (95 f.); 89, 28 (35)). Die nähere Ausgestaltung des rechtlichen Gehörs ist daher den einzelnen Verfahrensordnungen überlassen (BVerfGE 69, 145 (148)). Der Gesetzgeber muss eine wirksame Verfahrensordnung schaffen, welche das rechtliche Gehör vor Gericht in hinreichendem Maße gewährleistet (hierzu auch Rn. 13). Art. 103 I ist darüber hinaus nicht nur Maßstab für die Auslegung des geltenden Verfahrensrechts, sondern zugleich unmittelbar geltendes Recht, aus welchem bei Fehlen entspr. einfach-rechtlicher Verfahrensvorschriften konkrete Anhörungspflichten hergeleitet werden können (vgl. BVerfGE 9, 89 (96)). Die Auslegung des einfachen Verfahrensrechts bleibt jedoch zuvörderst Sache der Fachgerichte; nicht jede objektiv fehlerhafte Anwendung oder Auslegung einer Verfahrensvorschrift, welche sich auf rechtliches Gehör bezieht, ist zugleich ein Verstoß gegen Art. 103 I (BVerfGE 89, 28 (36 f.)). Vielmehr bedarf es hierzu einer Verletzung spezifischen Verfassungsrechts, dh einer grdl. Verkennung von Bedeutung und Tragweite des Art. 103 I; dies ist insbes. dann der Fall, wenn die Auslegung durch die Gerichte zu einem Ergebnis führt, das nicht einmal der Gesetzgeber anordnen könnte (BVerfGE 74, 228 (234 f.)). Auch die offenkundig unrichtige oder die missbräuchliche Anwendung einer Verfahrensvorschrift können zu einem Verstoß gegen Art. 103 I führen (s. BVerfGE 75, 302 (312 f.)).
3. Sachlicher Schutzbereich
a) Rechtliches Gehör
Erschöpft sich nicht nur in der bloßen Äußerungsmöglichkeit des Betroffenen. Vielmehr muss das Gericht den Prozessbeteiligten Kenntnis hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen und Ansichten verschaffen (vgl. BVerfGE 89, 28 (35)) sowie deren Vorbringen bei der Entscheidungsfindung berücksichtigen, dh zur Kenntnis nehmen und in Erwägung ziehen (BVerfGE 42, 364 (367 f.); 58, 353 (356)). Damit lassen sich grds. drei Stufen unterscheiden, die zum „rechtlichen Gehör“ iSv Art. 103 I zu rechnen sind: erstens die Information des vom Verfahren Betroffenen durch das Gericht (Rn. 4), zweitens die Möglichkeit des Betroffenen zur Äußerung (Rn. 5) und drittens die Berücksichtigung von dessen Vorbringen durch das Gericht (Rn. 6 f.).
aa) Pflicht zur Information
Damit der vom Gerichtsverfahren Betroffene sich sachgemäß hierzu äußern kann, muss das Gericht ihn über die rechtlich erheblichen Umstände, auf die es für die Entscheidung ankommen kann, informieren (vgl. BVerfGE 89, 28 (35)). Hierzu zählen vor allem der maßgebliche Tatsachenvortrag (BVerfGE 89, 28 (35); 109, 13 (38)), Beweismittel, und zwar ohne Rücksicht auf ihre Quelle (BVerfGE 17, 86 (95); 109, 279 (370 f.)), gerichtliche Entscheidungen sowie verfahrensbezogene Handlungen anderer Beteiligter und deren Schriftsätze (vgl. BVerfGE 50, 280 (284); 55, 95 (98)). Der Hinweis auf eine bestimmte Rechtsauffassung des Gerichts ist indessen nur dann geboten, wenn das Gericht auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellen will, mit dem ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte (BVerfGE 86, 133 (144 f.)). Die Informationspflicht umfasst auch die Benachrichtigung über das gerichtliche Verfahren und die Zustellung von Schriftstücken (vgl. BVerfGE 36, 85 (88); 67, 208 (211); 81, 123 (126)). Soweit das Recht auf Gehör durch einen Rechtsanwalt ausgeübt wird, muss das Gericht ihm gegenüber die Pflichten erfüllen (BVerfG [K] NJW 2017, 318 (319)). So ist die Zustellung durch öffentliche Bekanntmachung nur dann mit Art. 103 I vereinbar, wenn eine andere Art der Zustellung aus sachlichen Gründen nicht oder nur schwer durchführbar ist; sei es wegen des unbekannten Aufenthalts des Zustellungsempfängers, sei es wegen der Vielzahl oder der Unüberschaubarkeit des Kreises der Betroffenen (BVerfGE 61, 82 (109 ff.); BVerfG [K] NJW 1988, 2361). Ferner resultiert aus der Informationspflicht ein grds. Recht auf Akteneinsicht (BVerfGE 63, 45 (59 ff.); näher MKS/Nolte/Aust Art. 103 Rn. 32 ff.), nicht aber auf Erweiterung des gerichtlichen Aktenbestandes (BVerfGE 63, 45 (60)).
bb) Recht zur Äußerung
Art. 103 I gibt den Verfahrensbeteiligten das Recht, sich zu dem für die jeweilige gerichtliche Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt sowie zur Rechtslage zu äußern (BVerfGE 98, 218 (263); BVerfG [K] NVwZ-RR 2017, 81 (82)). Nur Tatsachen und Beweisergebnisse, zu denen der Beteiligte vorher Stellung nehmen konnte, dürfen einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde gelegt werden (BVerfGE 6, 12 (14); 50, 280 (284); 101, 106 (129)). Dabei begründet Art. 103 I keinen Anspruch auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung (BVerfGE 36, 85 (87); 89, 381 (391)). Wird ein schriftliches Verfahren angestrebt, folgt unmittelbar aus der Norm jedoch die Pflicht, den Parteien die Absicht sowie den Zeitpunkt mitzuteilen, bis zu dem sie ihr Vorbringen in den Prozess einführen können (BVerfG [K] NJW-RR 2009, 562; BFH NVwZ-RR 2016, 796 (797)). Gelegenheit zur Stellungnahme muss auch zu jedem dem Gericht unterbreiteten Vortrag der Gegenseite gegeben werden (BVerfGE 89, 381 (392)), ebenso zu Tatsachen und Beweismitteln, die das Gericht von Amts wegen in den Prozess einführt (BVerfGE 101, 106 (129)), auch wenn es sich hierbei um gerichtsbekannte Tatsachen handelt (BVerfGE 10, 177 (182)). Zu gerichtlichen Sachverständigengutachten muss ein Verfahrensbeteiligter ebenfalls Stellung nehmen dürfen (BVerfG [K] NJW 1998, 2273 f.). Die Stellungnahme muss grds. unmittelbar erfolgen, nicht aber zwingend mündlich oder durch eine persönliche Anhörung (BVerfGE 89, 381 (391)). Ein Dritter kann Gehör nur vermitteln, wenn er das Vertrauen des Berechtigten genießt oder einer besonderen rechtsstaatlichen Objektivitätspflicht unterworfen ist; der Berechtigte muss außerdem von der stellvertretenden Entgegennahme von Informationen und der Abgabe von Erklärungen in seinem Namen wissen (BVerfGE 83, 24 (36)). Wählt der Beteiligte einen Verfahrensbevollmächtigten, ist dem Äußerungsrecht – ebenso wie dem Recht auf Information (Rn. 4) – genügt, wenn dem Bevollmächtigten gegenüber die aus Art. 103 I resultierenden Pflichten erfüllt werden (BVerfGE 81, 123 (126)). Das Recht auf Zuziehung eines Rechtsanwalts ist nach der Rspr. des BVerfG jedoch nicht in Art. 103 I verankert (BVerfGE 9, 124 (132)), sondern allenfalls für einzelne Verfahrensarten wie etwa das Strafverfahren im rechtsstaatlichen Grundsatz des fairen Verfahrens (BVerfGE 66, 313 (318 f.)). Gegen diese Sichtweise wird im Schrifttum zu Recht eingewandt, dass die Wahrnehmung der Rechte aus Art. 103 I angesichts der für den Laien nur schwer zu erfassenden Komplexität rechtlicher Zusammenhänge jedenfalls in rechtlich schwierigen Fällen nur sachgemäß unter Zuziehung eines rechtskundigen Beistandes erfolgen kann (DHS/Remmert Art. 103 I Rn. 68). Auch die Zuziehung eines Dolmetschers im Falle unzureichender Deutschkenntnisse des Verfahrensbeteiligten ergibt sich nach Ansicht des BVerfG nicht aus Art. 103 I, sondern aus dem rechtsstaatlichen Grundsatz des fairen Verfahrens (BVerfGE 64, 135 (144 f.)).
cc) Berücksichtigung durch das Gericht
Zur Gewährleistung eines wirksamen rechtlichen Gehörs muss das Gericht die Äußerungen des Verfahrensbeteiligten bei der Entscheidungsfindung berücksichtigen, dh zur Kenntnis nehmen und in Erwägung ziehen (BVerfGE 11, 218 (220); 36, 92 (97); 42, 364 (367 f.); 58, 353 (356); 96, 205 (216); BVerfG [K] NVwZ-RR 2014, 1 (2 f.); NZS 2014, 539 (540); NJW 2015, 1746; NVwZ 2016, 1475 (1476) – stRspr). Daher ist Art. 103 I bspw. verletzt, wenn das Gericht einen zulässig eingereichten Schriftsatz übersieht (BVerfGE 70, 288 (295)). Beweisangebote eines Beteiligten dürfen jedenfalls nicht aus Gründen abgelehnt werden, die im Prozessrecht keine Stütze finden (BVerfGE 50, 32 (36); 105, 279 (311); BVerfG [K] NJW 2009, 1585 ff.). Indes schützt Art. 103 I nicht dagegen, „dass das Vorbringen der Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts unberücksichtigt bleibt“ (BVerfGE 105, 279 (311) – stRspr). Gemeint ist hiermit, dass das einfache Verfahrensrecht Regelungen vorsehen darf, nach denen das Vorbringen unberücksichtigt bleiben kann, wenn diese Regelungen ihrerseits mit Art. 103 I vereinbar sind, die Beschränkung also aus sachgemäßen Gründen, etwa zur Verfahrensbeschleunigung, ergangen ist und das rechtliche Gehör nicht in unzumutbarer Weise unterbindet (vgl. BVerfGE 36, 92 (98); vgl. ferner Rn. 13).
Da Kenntnisnahme und Berücksichtigung von Äußerungen als innere Vorgänge schwer zu überprüfen sind, geht das BVerfG grds. davon aus, dass ein Gericht das von ihm entgegengenommene Vorbringen der Beteiligten auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat, sodass sich Verstöße gegen diese Pflicht nur aus besonderen Umständen herleiten lassen (BVerfGE 96, 205 (216 f.) – stRspr). Solche Umstände liegen etwa vor, wenn das Gericht zu einer auffälligen Diskrepanz zwischen mehreren Aussagen desselben Zeugen keine Stellung bezieht (s. BVerfGE 47, 182 (188 ff.)). Flankiert wird die Kenntnisnahme- und Berücksichtigungspflicht von einer gerichtlichen Begründungspflicht: Zwar hat das Gericht nicht jedes Vorbringen eines Beteiligten ausdrücklich in seiner Entscheidungsbegründung aufzugreifen (BVerfGE 80, 366 (375)); jedenfalls die wesentlichen, der Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung dienenden Tatsachenbehauptungen müssen aber in den Entscheidungsgründen verarbeitet werden (BVerfGE 47, 182 (189); 54, 43 (46)). Gegen die Kenntnisnahme- und Berücksichtigungspflicht verstößt es, wenn das Gericht ein Vorbringen, das für die Entscheidung von zentraler Bedeutung ist, von vornherein unberücksichtigt oder als unsubstantiierte und offensichtlich haltlose Behauptung unbeachtet lässt (BVerfGE 94, 166 (221)).
b) Vor Gericht
Nur vor Gericht vermittelt Art. 103 I Anspruch auf rechtliches Gehör. „Gerichte“ sind alle staatlichen Gerichte iSd Art. 92 (BVerfGE 101, 397 (404 f.)); hierzu zählen auch die LVerfGe (vgl. BVerfGE 13, 132 (140)). Art. 103 I gilt für alle gerichtlichen Verfahren und Instanzen (vgl. BVerfGE 7, 53 (57)) und umfasst auch die freiwillige Gerichtsbarkeit (BVerfGE 19, 49 (51)), die Truppendienstgerichte (BVerfGE 32, 195 (197)), die Berufsgerichtsbarkeit (Sachs/Degenhart Art. 103 Rn. 8), den Haftrichter sowie andere Fälle eines Richtervorbehalts (vgl. BVerfGE 9, 89 (93); 18, 399 (404)), das Vormundschaftsgericht (BVerfGE 92, 158 (160)) und das gerichtliche Zwangsversteigerungsverfahren (BVerfG [K] NJW 1993, 1699), nicht jedoch den Rechtspfleger (BVerfGE 101, 397 (404 f.)). Im Verwaltungsverfahren, vor der Staatsanwaltschaft oder in anderen förmlichen Verfahren vor staatlichen Stellen, die keine Gerichte iSd Art. 92 sind, gilt Art. 103 I auch nicht analog; indes können sich hier vergleichbare Rechte aus dem Rechtsstaatsprinzip oder der Menschenwürdegarantie ergeben (Sachs/Degenhart Art. 103 Rn. 8; vgl. BVerfGE 101, 397 (405 f.)).
4. Personeller Schutzbereich
Der Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht steht „jedermann“ zu, dh jedem, der an einem gerichtlichen Verfahren als Partei oder in ähnlicher Stellung beteiligt ist oder unmittelbar rechtlich von dem Verfahren betroffen wird (BVerfGE 101, 397 (404)). Damit besteht die Anhörungsberechtigung nicht nur für denjenigen, der nach den einfachgesetzlichen Verfahrensordnungen die förmliche Stellung einer Partei oder eines Beteiligten innehat, sondern auch für Personen, für welche die betr. Gerichtsentscheidung unmittelbar rechtsgestaltende Wirkung aufweist, wie etwa den Vater eines nicht-ehelichen Kindes, der durch eine gerichtliche Adoptionsentscheidung seine Stellung als Vater mit allen Rechten und Pflichten verliert (BVerfGE 92, 158 (183 f.)).
Art. 103 I gilt für alle natürlichen Personen, und zwar unabhängig von deren Prozessfähigkeit (BVerfGE 75, 201 (215)), sowie aus vergleichbaren Gründen wie im Falle des Art. 101 (Art. 101 Rn. 8) für alle juristischen Personen einschließlich ausländischen (BVerfGE 64, 1 (11)) und solchen des öffentlichen Rechts (BVerfGE 6, 45 (49 f.); 61, 82 (104); 138, 64 (83)).
5. Eingriffe in den Schutzbereich
Eingriffe durch die Gerichte sind alle Beeinträchtigungen des rechtlichen Gehörs, auf denen eine Entscheidung beruht, bei denen also nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Entscheidung bei ordnungsgemäßer Anhörung anders ausgefallen wäre (BVerfGE 7, 95 (99); 60, 313 (318); 62, 392 (396); 81, 123 (131); 86, 133 (147); BVerfG [K] NJW 2015, 1166 f.). Allerdings kann der Eingriff durch Nachholung der gebotenen Anhörung im selben Verfahren oder in der Rechtsmittelinstanz geheilt werden (BVerfGE 5, 22 (24); 62, 392 (397); s. zur Heilung auch BVerfG [K] NJW 2009, 1584 f.; NVwZ 2009, 580 f.), nicht allerdings durch Nachholung in einem anderen Verfahren (BVerfGE 42, 172 (175)).
Eingriffe durch den Gesetzgeber sind vor allem Verfahrensregelungen, die den aus Art. 103 I resultierenden Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht verkürzen. Besonders schwerwiegende Eingriffe sind insoweit etwa Präklusionsvorschriften (s. zu deren verfassungsrechtlicher Perspektive näher Lenz NJW 2013, 2551 ff.): Solche sind zwar – gemessen an Art. 103 I – nicht schlechthin unzulässig, sondern dürfen das rechtliche Gehör, etwa im Interesse der Verfahrensbeschleunigung, begrenzen (vgl. auch Rn. 13). Allerdings müssen sie wegen der einschneidenden Folgen für die Prozessbeteiligten strengen Ausnahmecharakter haben und der betroffenen Partei vor Einsetzen der Präklusion ausreichende Gelegenheit zur Stellungnahme einräumen (vgl. etwa BVerfGE 36, 92 (97); 69, 145 (149)).
6. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Art. 103 I ist vorbehaltlos gewährleistet und unterliegt daher grds. nur verfassungsimmanenten Schranken (vgl. Vor Art. 1 Rn. 53). Als solche in Betracht kommt etwa auch die durch Art. 19 IV gebotene Effektivität des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 101, 106 (129 f.)). Die vollständige Versagung rechtlichen Gehörs kann aber idR selbst über verfassungsimmanente Schranken nicht gerechtfertigt werden. Allerdings ist der Gesetzgeber innerhalb der Verhältnismäßigkeitsgrenze zur Verfahrensausgestaltung befugt (Rn. 2) und kann daher in sachangemessener Weise, insbes. zur Effektuierung oder Beschleunigung des gerichtlichen Verfahrens, für Begrenzungen des rechtlichen Gehörs sorgen, etwa durch Präklusionsvorschriften (Rn. 12). Die Gerichte haben bei der Auslegung des Prozessrechts Art. 103 I zu berücksichtigen, so dass auch in Fällen, in denen – wie etwa bei äußerungsrechtlichen Angelegenheiten – aus Dringlichkeit regelmäßig ohne mündliche Verhandlung entschieden werden soll, nur in Ausnahmefällen von der Gewährung rechtlichen Gehörs abgesehen werden kann (BVerfG [K] NJW 2023, 759 (760)).
7. Rechtsschutz bei Verstößen gegen Art. 103 I
Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist als grundrechtsgleiches Recht verfassungsbeschwerdefähig (s. Art. 93 I Nr. 4a). In einem Beschl. v. 30.4.2003 hatte das Plenum des BVerfG allerdings festgestellt, dass das zu diesem Zeitpunkt bestehende Rechtsschutzsystem außerhalb der Verfassungsbeschwerde keinen hinreichenden Rechtsschutz iS einer fachgerichtlichen Abhilfemöglichkeit bietet, wenn ein Fachgericht in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt (BVerfGE 107, 395 (408 ff., 411 ff. und 416 ff.); s. ferner BVerfGE 108, 341 (345 ff.)). Zur Beseitigung dieses vom BVerfG festgestellten Missstandes wurde das Gesetz über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Anhörungsrügengesetz) v. 9.12.2004 (BGBl. I 3220) erlassen. Die Unstatthaftigkeit der sog. „sekundären Gehörsrüge“ verstößt hingegen nicht gegen Art. 103 I (BVerfG [K] NJW 2008, 2635 f. mit Anm. von Zuck).
II. Gesetzlichkeitsprinzip hinsichtlich Strafen
1. Allgemeines
Wegen der Erwähnung von Art. 103 in Art. 93 I Nr. 4a wird die in Art. 103 II enthaltene Garantie gemeinhin als grundrechtsgleiches Recht betrachtet, obwohl die Regelung systematisch auch als Schranken-Schranke angesehen werden könnte (s. näher DHS/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rn. 42 ff.; Kingreen/Poscher Rn. 1415). Art. 103 II konkretisiert das Rechtsstaatsprinzip im Hinblick auf die besondere Eingriffsintensität staatlicher Strafen, indem er hierfür besondere materielle Voraussetzungen und Verbote aufstellt. Sein Sinn besteht vor allem darin, dem Bürger die Grenze des straffreien Raums klar vor Augen zu halten, damit der Einzelne sein Verhalten daran orientieren kann (BVerfGE 32, 346 (362); ausf. BVerfGE 126, 170 (194 ff.)). Die Vorschrift gilt nicht nur für den Gesetzgeber, sondern auch für Exekutive und Judikative (DHS/Remmert Art. 103 Abs. 2 Rn. 47 f.).
2. Sachlicher Schutzbereich
a) Keine Strafe ohne Gesetz
In sachlicher Hinsicht ist die Kernaussage des Art. 103 II, dass keine Strafe ohne Gesetz (nulla poena sine lege) ergehen darf (Stern/Sodan/Möstl/Rixen § 133 Rn. 32). Strafe iSd Vorschrift ist eine staatliche Maßnahme, die eine missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein rechtswidriges, schuldhaftes Verhalten darstellt und wegen dieses Verhaltens ein Übel verhängt, das dem Schuldausgleich dient (BVerfGE 109, 133 (167)). Erfasst sind nicht nur Kriminalstrafen (BVerfGE 26, 186 (203)), sondern auch Ordnungswidrigkeiten bzw. Bußgelder (BVerfGE 97, 399 (411); BVerfG [K] NJW 2010, 754; 2014, 1431 f.; 2016, 1229) sowie – mit gewissen Einschränkungen, die sich aus der Natur des Rechtsgebietes ergeben – ehrengerichtliche und Disziplinarstrafen (BVerfGE 26, 186 (203 f.)). Art. 103 II bezieht sich sowohl auf den Straftatbestand als auch auf die Strafandrohung (BVerfGE 25, 269 (286); 86, 288 (311)), wobei auch persönliche Strafaufhebungsgründe erfasst sind (BVerfG [K] NVwZ 2015, 361 (362)). Nach Auffassung des BVerfG fallen hingegen Maßnahmen mit präventivem Charakter, wie etwa die Maßregeln der Besserung und Sicherung nach den §§ 61 ff. StGB und damit insbes. die Sicherungsverwahrung, nicht unter Art. 103 II, da sie keine „Strafen“ seien (BVerfGE 109, 133 (167 ff.); BVerfG [K] NJW 2010, 1514 (1515)), wohingegen der EGMR in der Sicherungsverwahrung eine Maßnahme sieht, die als „Strafe“ einzustufen sei (EGMR NJW 2010, 2495 (2497 ff.) im Hinblick auf Art. 7 I EMRK; zust. Möllers ZRP 2010, 153 ff.). Auf diese Kritik des EGMR hat das BVerfG in einem Urt. v. 4.5.2011 dergestalt reagiert, dass es zwar an seiner Auslegung des Strafbegriffes in Art. 103 II ausdrücklich festhält, die Sicherungsverwahrung also nach wie vor nicht hierunter fallen lässt, jedoch die nachträgliche Anordnung oder Verlängerung der Sicherungsverwahrung wegen des hierdurch bewirkten schwerwiegenden Eingriffs in das durch Art. 2 II 2 geschützte Grundrecht der Freiheit der Person verfassungsrechtlich nur noch „nach Maßgabe strikter Verhältnismäßigkeitsprüfung und zum Schutz höchster Verfassungsgüter“ für zulässig erachtet, dh wenn „der gebotene Abstand zur Strafe gewahrt wird, eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist“ und die Voraussetzungen des Art. 5 I 2 lit. e EMRK (insbes. psychische Störung) erfüllt sind (BVerfGE 128, 326 (388 ff.); vgl. ferner BVerfGE 129, 37 (45 ff.); Peglau NJW 2011, 1924 ff.; Windoffer DÖV 2011, 590 ff.; auch Vor Art. 1 Rn. 2a, Art. 1 Rn. 31, Art. 2 Rn. 39). Ferner nicht an Art. 103 II zu messen sind die Strafverfolgungsvoraussetzungen wie etwa die Verjährung (BVerfGE 25, 269 (286 ff.)), das Strafverfahrensrecht (BVerfGE 112, 304 (315)) oder vollstreckungsrechtliche Beuge- und Ordnungsmittel (vgl. BVerfGE 84, 82 (87 ff.)). Ebenfalls nicht erfasst sind zivilrechtliche Pflichten, die an ein Verschulden anknüpfen, wie zB die Pflicht zum Schadensersatz (BVerfGE 34, 269 (293); vgl. auch BVerfGE 84, 82 (89)); etwas anderes kommt allerdings in Betracht, soweit Schadensersatzansprüche nicht nur der Vermögensrestitution dienen, sondern echten Sanktionscharakter aufweisen sollen (sog. punitive damages ).
Zumindest indirekt kann Art. 103 II entnommen werden, dass Strafen nur für Taten, also Handlungen, ausgesprochen werden dürfen, nicht hingegen für eine bloße Gesinnung (Verbot des Gesinnungsstrafrechts; vgl. Kingreen/Poscher Rn. 1420). Im Übrigen lassen sich die nachfolgend (Rn. 18 ff.) dargestellten Teilgehalte aus der Norm extrahieren:
b) Gesetzlichkeitsprinzip
Art. 103 II stellt zunächst ausdrücklich klar, dass das rechtsstaatliche Prinzip des Gesetzesvorbehalts gerade auch im eingriffsintensiven Bereich staatlicher Strafgewalt gilt; hierbei handelt es sich zudem um einen besonders „strengen“ Gesetzesvorbehalt (BVerfGE 73, 206 (235)). Notwendig ist die Strafanordnung bzw. -androhung durch ein formelles Gesetz. Gewohnheits- oder richterrechtliche Strafbegründungen sind ausgeschlossen. Allerdings können auch RVOen oder sonstiges untergesetzliches Recht Strafbestimmungen enthalten, wenn sie im Rahmen von formell-gesetzlichen Ermächtigungen ergangen sind, die den Voraussetzungen des Art. 80 I genügen (BVerfGE 14, 175 (185); 32, 346 (362); 143, 38 (54)). Für diesen Fall resultieren aus Art. 103 II (iVm Art. 80 I) aber hohe Anforderungen an die Regelungsdichte des formellen Gesetzes (s. BVerfGE 95, 96 (131): „strenger Parlamentsvorbehalt“): Schon aus der formellgesetzlichen Ermächtigung und nicht erst aus der auf sie gestützten RVO oder Satzung müssen die Grenzen der Strafbarkeit und die Art der Strafe für den Bürger voraussehbar sein; hinsichtlich der möglichen Straftatbestände einschließlich der Schuldform sowie der Art und des Höchstmaßes der Strafe soll es dabei genügen, wenn diese sich nach den anerkannten Regeln juristischer Auslegung hinreichend deutlich bestimmen lassen (BVerfGE 32, 346 (362 f.); 75, 329 (342); zur Bestimmtheit auch Rn. 19). Insgesamt dürfen dem Verordnungsgeber lediglich gewisse Spezifizierungen des Straftatbestandes überlassen bleiben (BVerfGE 75, 329 (342)), etwa wenn der Gesetzgeber wie in § 1 II und III BtMG die Exekutive ermächtigt, im Wege der RVO Stoffe in die Anlagen zum BtMG mit der Folge aufzunehmen, dass der unerlaubte Umgang mit ihnen den Straftatbeständen des BtMG unterfällt (BVerfG [K] NJW 1998, 669 (670)).
c) Bestimmtheitsgebot
Da gerade im strafrelevanten Bereich die Grenze des straffreien Raums für die Bürger klar ersichtlich sein muss (Rn. 15), resultiert aus Art. 103 II ein strenges Bestimmtheitsgebot, welches über die Anforderungen des allgemeinen, aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleiteten Bestimmtheitsgebots (Vor Art. 1 Rn. 59, Art. 20 Rn. 55) hinausgeht (BVerfGE 49, 168 (181); 143, 38 (53 ff.); Stern/Sodan/Möstl/Rixen § 133 Rn. 40 ff.). Gleichzeitig soll durch dieses Bestimmtheitserfordernis gewährleistet werden, dass im Bereich des Strafrechts mit seinen weitreichenden Folgen für den Einzelnen nur der Gesetzgeber abstrakt-generell über die Strafwürdigkeit eines Verhaltens entscheidet, nicht hingegen Judikative oder Exekutive (BVerfGE 92, 1 (12); 105, 135 (153)). Art. 103 II verpflichtet den Gesetzgeber, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände sich aus dem Wortlaut ergeben oder jedenfalls durch Auslegung ermitteln lassen (BVerfGE 92, 1 (12)). Die Verwendung unbestimmter, auslegungsbedürftiger Rechtsbegriffe ist dabei nicht ausgeschlossen, sondern kann wegen der Vielgestaltigkeit des Lebens, der Allgemeinheit und Abstraktheit von Strafnormen sowie der Unmöglichkeit, jeden Straftatbestand starr und kasuistisch bis ins letzte Detail auszuführen, unvermeidlich sein (BVerfGE 73, 206 (235); 75, 329 (342 f.); 143, 38 (54 f.); BVerfG [K] NJW 2007, 1666). In Grenzfällen muss für den Rechtsunterworfenen aber wenigstens das Risiko einer Bestrafung erkennbar bleiben (BVerfGE 71, 108 (115)). In besonderer Weise markiert daher der mögliche, aus Sicht des Bürgers betrachtete Wortsinn des Gesetzes die äußerste Grenze für die richterliche Interpretation (s. BVerfGE 71, 108 (115)). Die Anforderungen an die Bestimmtheit sind umso strenger, je intensiver der Eingriff wirkt (BVerfGE 105, 135 (155)). Außerhalb des allgemeinen Strafrechts ist das Bestimmtheitsgebot indes gelockert. So genügen etwa in Sanktionsnormen des ärztlichen Berufsrechts Generalklauseln, da es nicht möglich ist, jeden einzelnen missbilligten Verstoß gegen Berufspflichten separat zu normieren (BVerfG [K] NJW 2014, 2019 (2020)). Setzt ein Bußgeldtatbestand als sog. Blankettvorschrift eine ausfüllende Behördenentscheidung voraus, muss sich die Rechtsfolge aus dem Zusammenwirken von gesetzlichem Tatbestand und ausfüllender Verwaltungsentscheidung hinreichend bestimmt ergeben (BVerfG [K] NVwZ 2012, 504 (505)). Gegen Art. 103 II verstößt indes eine Rechtsanwendung (durch ein Gericht), bei der die Beantwortung der Frage, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Sanktionsnorm erfüllt sind, weitgehend von Spielräumen abhängig gemacht wird, welche einer Behörde eingeräumt sind (BVerfG [K] NJW 2010, 754 (756) – betr. Ordnungswidrigkeit wegen „erheblicher Ruhestörung“ durch Klavierspiel in der eigenen Wohnung). Auch im Hinblick auf die Strafandrohung, die sich regelmäßig innerhalb eines abstrakt-generellen Strafrahmens bewegt, muss der Gesetzgeber dem Richter (wie dem Bürger) Leitlinien an die Hand geben, anhand derer die Bewertung der tatbestandlich beschriebenen Delikte so deutlich wird, dass der Betroffene das Maß der drohenden Strafe abschätzen kann und dem Strafrichter die Bemessung einer schuldangemessenen Reaktion möglich ist (BVerfGE 105, 135 (155)).
d) Analogieverbot
Eng mit dem an den Gesetzgeber gerichteten Bestimmtheitsgebot hängt das vor allem gegenüber der Judikative bestehende Analogieverbot einschließlich des Verbots erweiternder Auslegung zusammen: Straftatbestände dürfen nicht in einer Weise angewendet bzw. ausgelegt werden, die nicht mehr hinreichend bestimmt ist und die Vorhersehbarkeit von Strafe für den Bürger beseitigt (s. zuletzt etwa BVerfGE 126, 170 (194 ff.)). Äußerste Grenze der zulässigen Auslegung ist der aus Sicht des Bürgers betrachtete Wortsinn des Gesetzes (BVerfGE 71, 108 (115); auch Rn. 19). Damit verbietet sich nicht nur jede strafbegründende Analogie im engeren rechtstechnischen Sinne, sondern auch jede den Straftatbestand erweiternde Auslegung, welche über die äußerste Grenze des möglichen Wortsinns hinausgeht (BVerfGE 92, 1 (12); 126, 170 (197); BVerfG [K] NJW 2008, 3346) oder die ein Tatbestandsmerkmal so allg. interpretiert, dass sein Sinngehalt vollkommen entgrenzt wird (BVerfG [K] NJW 2013, 365 (366)).
Im Hinblick auf Art. 103 II beanstandet wurde insoweit etwa die Subsumtion menschenähnlicher Wesen („Zombies“) unter den Begriff „Mensch“ iSd § 131 StGB (BVerfGE 87, 209 (225 f.)), die Erfassung von Sitzblockaden als „Gewalt“ iSv § 240 StGB (BVerfGE 92, 1 (14 ff.); vgl. aber auch BVerfGE 104, 92 (101 ff.)), die Gleichsetzung von unvorsätzlichem Entfernen vom Unfallort mit „berechtigtem oder entschuldigtem“ iSd § 142 II Nr. 1 StGB (BVerfG [K] NJW 2007, 1666) oder die Annahme, auch nicht-existente Personen könnten „nahestehende Personen“ iSv § 241 StGB sein (BVerfG [K] NJW 1995, 2776). Gebilligt wurde etwa die Subsumtion des „Drängelns“ im Straßenverkehr unter den Gewaltbegriff des § 240 StGB (BVerfG [K] NJW 2007, 1669), die weite Auslegung des „Erschleichens“ iSd § 265a StGB (BVerfG [K] NJW 1998, 1135) oder die Erfassung schadensgleicher Vermögensgefährdungen als Vermögensnachteil iSd § 266 I StGB (BVerfG [K] NJW 2009, 2370 ff.). Auch generell ist der Untreuetatbestand des § 266 I StGB mit dem Bestimmtheitsgebot „noch zu vereinbaren“ (BVerfGE 126, 170 (200)). Ebenso ist § 130 IV StGB (Billigung, Verherrlichung oder Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft) hinreichend bestimmt (BVerfGE 124, 300 (338 ff.); vgl. dazu auch Art. 5 Rn. 29 und 32).
e) Rückwirkungsverbot
Art. 103 II besagt ausdrücklich, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit vor Begehung der Tat gesetzlich bestimmt war. Dieses Rückwirkungsverbot ist – anders als das allgemeine rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot (Art. 20 Rn. 59 ff.) – ein absolutes, der Abwägung nicht zugängliches (BVerfGE 30, 367 (385); 95, 96 (131); 109, 133 (172)). Es schließt nicht nur eine rückwirkende Strafbegründung, sondern auch eine rückwirkende Strafverschärfung aus (BVerfGE 25, 269 (285 f.); 81, 132 (135)). Maßgebliche Zeitpunkte sind das Inkrafttreten des Gesetzes und der Zeitpunkt der begangenen Tat (vgl. BVerfGE 81, 132 (135)). Da Art. 103 II insoweit davor schützt, dass die Bewertung der Tat nachträglich zum Nachteil des Täters geändert wird, gilt das Rückwirkungsverbot auch im Hinblick auf gesetzliche Rechtfertigungsgründe bzw. deren nachträgliche Beseitigung (BVerfGE 95, 96 (132 f.)). Zur nachträglichen Sicherungsverwahrung Rn. 16.
Problematisch ist, ob oder inwiefern eine rückwirkende Änderung jedenfalls der höchstrichterlichen Rspr. am Rückwirkungsverbot des Art. 103 II zu messen ist. Eine Kammer des BVerfG hat dies zumindest dann verneint, wenn die Entscheidung nur auf einer Änderung der Erkenntnisgrundlagen, nicht auf einem geänderten strafrechtlichen Unwerturteil beruht (BVerfG [K] NJW 1990, 3140 – zur Herabsetzung der strafbaren Promillegrenze). Ob daraus aber der Umkehrschluss gezogen werden kann, dass den Gerichten eine nachträgliche Änderung des strafrechtlichen Unwerturteils verwehrt ist, erscheint zweifelhaft: Zum einen ist eine Grenze zwischen „Erkenntnisgrundlagen“ und „Unwerturteil“ praktisch kaum zu ziehen (vgl. Sachs/Degenhart Art. 103 Rn. 73); zum anderen begründete dies die Gefahr, dass die Gerichte an eine einmal feststehende Rspr. gebunden wären, auch wenn diese sich im Lichte geläuterter Erkenntnis oder angesichts des Wandels der gesellschaftlichen Verhältnisse als nicht mehr haltbar erweist (vgl. BVerfGE 18, 224 (240 f.)). Im Ergebnis dürften wohl allenfalls völlig unvorhersehbare Änderungen einer gefestigten Rspr. dem Art. 103 II entgegenstehen (vgl. MKS/Nolte/Aust Art. 103 Rn. 120). Vorzugswürdiger ist hingegen eine Auslegung des § 17 StGB im Lichte des Art. 103 II zur Vermeidung verfassungsrechtlich bedenklicher Härten. Im Übrigen lassen sich sachgemäße Ergebnisse eher durch einen Rückgriff auf Art. 3 I (ggf. iVm Art. 103 II) sowie die allgemeinen Grundsätze des Vertrauensschutzes (BVerfGE 122, 248 (277 f.); BVerfG [K] NJW 2013, 523 (524)) erzielen.
Obwohl Art. 103 II den möglichen Konflikt zwischen materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit zugunsten Letzterer löst, wurden in BVerfGE 95, 96 (130 ff.) für Fälle „extremen Unrechts“ doch Durchbrechungen des in Art. 103 II verankerten, an sich absoluten Rückwirkungsverbotes anerkannt: Die strafgerichtlichen Verurteilungen der sog. Mauerschützen an der innerdeutschen Grenze sind danach mit Art. 103 II vereinbar, weil die im Tatzeitpunkt geltenden Rechtfertigungsgründe des „DDR-Rechts“ in offensichtlicher, unerträglicher Weise gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und Menschlichkeit verstießen und daher der strikte Vertrauensschutz sowie das Rückwirkungsverbot des Art. 103 II hinter das Gebot materieller Gerechtigkeit zurücktreten müssen.
3. Personeller Schutzbereich
Träger der aus Art. 103 II resultierenden Rechte sind alle Personen, die von staatlicher Seite bestraft werden können (MKS/Nolte/Aust Art. 103 Rn. 162).
4. Eingriffe und deren Rechtfertigung
Soweit man Art. 103 II nicht als reine Schranken-Schranke, sondern als eigenständiges grundrechtsgleiches Recht prüft (vgl. Rn. 15), stellt jede staatliche Maßnahme, die hinter den im Rahmen des Schutzbereichs dargestellten Anforderungen (Rn. 16 ff.) zurückbleibt, einen Eingriff dar (Kingreen/Poscher Rn. 1428). Die aus Art. 103 II resultierenden Rechte sind nicht nur vorbehaltlos gewährleistet, sondern angesichts seiner strikten Fassung („[…] kann nur bestraft werden, wenn […]“) auch im Übrigen einer relativierenden Abwägung, etwa im Hinblick auf verfassungsimmanente Schranken (vgl. Vor Art. 1 Rn. 53), nicht zugänglich (vgl. BVerfGE 109, 133 (172)). IE führen damit Eingriffe in Art. 103 II stets zu seiner Verletzung (Kingreen/Poscher Rn. 1429).
III. Verbot mehrmaliger Strafverfolgung
1. Allgemeines
Art. 103 III verbietet die mehrmalige Bestrafung aufgrund der allgemeinen Strafgesetze (ne bis in idem) und löst damit das Spannungsfeld zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit zugunsten der Rechtssicherheit (BVerfG NJW 2023, 3698 (3701)). Die Norm ist vor allem eine Reaktion auf die Erfahrungen mit einem Unrechtsregime, das vor erneuter Strafverfolgung schon abgeurteilter Taten nicht zurückschreckte und uferlose Durchbrechungen der Rechtskraft zum Zwecke härterer Bestrafungen ermöglicht hatte (BVerfGE 56, 22 (32)). Systematisch handelt es sich bei der Regelung in Art. 103 III – ebenso wie bei Art. 103 II (Rn. 15) – eher um eine Schranken-Schranke (Jarass/Pieroth/Kment Art. 103 Rn. 95); gleichwohl wird das darin enthaltene Verbot gemeinhin, auch wegen der Erwähnung des Art. 103 in Art. 93 I Nr. 4a, als eigenständiges grundrechtsgleiches Recht geprüft (als spezielles Rückwirkungsverbot: Stern/Sodan/Möstl/Rixen § 133 Rn. 44). Das Verbot der Doppelbestrafung (einschließlich insoweit bestehender Durchbrechungen) wurde als vorgefundenes Prinzip des Strafprozessrechts in das Grundgesetz übernommen (BVerfGE 3, 248 (252)). Dennoch darf man bei der Auslegung des Art. 103 III nicht außer Acht lassen, dass dieses bestehende ältere Recht mit Inkrafttreten des Grundgesetzes inhaltlich auf dessen Werteordnung ausgerichtet wurde (BVerfGE 23, 191 (202 f.); s. auch Sachs/Degenhart Art. 103 Rn. 76; gleichwohl Rn. 32).
2. Schutzbereich
Nach Art. 103 III darf niemand wegen derselben Tat mehrmals aufgrund der allgemeinen Strafgesetze bestraft werden. „Tat“ ist der geschichtliche Vorgang, auf welchen Anklage sowie Eröffnungsbeschluss hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte als Täter oder Teilnehmer einen Straftatbestand verwirklicht haben soll (BVerfGE 23, 191 (202)). Da dieser verfassungsrechtliche Tatbegriff des Art. 103 III die Grenzen der materiellen Rechtskraft abstecken soll, ist er von dem andere Zwecke verfolgenden, materiellen Tat- bzw. Handlungsbegriff in den §§ 52 f. StGB sowie dem prozessualen Tatbegriff aus § 264 I StPO zu unterscheiden (ausf. BVerfGE 45, 434 (435); 56, 22 (29 ff.)). Auch wenn später erschwerende Umstände hinzutreten, bleibt es bei ein und derselben Tat (BVerfGE 56, 22 (31)).
Unter die „allgemeinen Strafgesetze“ iSd Art. 103 III fällt jedenfalls das Kriminalstrafrecht, nicht aber das Dienst-, Ordnungs- und Polizeistrafrecht (BVerfGE 27, 180 (185)), ebensowenig das Berufsstrafrecht und das Disziplinarrecht (BVerfGE 66, 337 (357)) sowie präventive Maßnahmen, etwa Maßregeln der Besserung und Sicherung (vgl. Rn. 16). Das Ordnungswidrigkeitenrecht ist hingegen nach zutr. Auffassung unter Art. 103 III zu fassen, nicht zuletzt weil es sich vom Strafrecht eher quantitativ als qualitativ unterscheidet (MKS/Nolte/Aust Art. 103 Rn. 215; systematisch auf Art. 74 I Nr. 1 stellen ab: Kingreen/Poscher Rn. 1440; krit. DHS/Remmert Art. 103 III Rn. 58). Im Hinblick auf Maßnahmen, die nicht unter Art. 103 III fallen, lassen sich Grenzen für Mehrfachsanktionen aus dem Rechtsstaatsprinzip herleiten (s. etwa BVerfGE 21, 378 (388)).
Über seinen Wortlaut hinaus umfasst Art. 103 III nicht nur ein Verbot mehrmaliger Bestrafung, sondern insgesamt ein Verbot mehrmaliger Strafverfolgung, dh auch ein rechtskräftiger Freispruch steht einer Bestrafung bzw. einer erneuten Strafverfolgung entgegen (BVerfGE 12, 62 (66); BVerfG NJW 2023, 3698 (3699)). Insoweit ergibt sich aus Art. 103 III ein Verfahrenshindernis (BVerfGE 56, 22 (32); BVerfG NJW 2023, 3698 (3699)). Der durch Art. 103 III vermittelte Strafklageverbrauch eines rechtskräftigen Strafurteils (BVerfGE 94, 351 (364)) gilt auch hinsichtlich später eintretender erschwerender Folgen der Tat (BVerfGE 65, 377 (381)). In Bezug auf Strafbefehle ging das BVerfG zunächst wegen des bloß summarischen Charakters des Strafbefehlsverfahrens von einer nur beschränkten Rechtskraftwirkung des Strafbefehls aus (BVerfGE 3, 248 (251 ff.)), revidierte diese Sichtweise später allerdings jedenfalls für diejenigen Fälle, in denen der bei der Entscheidung unberücksichtigte Umstand erst nachträglich eingetreten ist und lediglich die Verurteilung wegen eines schwereren Vergehens begründen könnte (BVerfGE 65, 377 (385)). Für gerichtliche Einstellungsbeschlüsse wird nur eine eingeschränkte Rechtskraft angenommen (s. näher DHS/Remmert Art. 103 III Rn. 67). Zur Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten Rn. 32. Art. 103 III gilt grds. nur hinsichtlich mehrmaliger Strafverfolgung durch deutsche Gerichte (s. näher BVerfGE 75, 1 (15 f.)).
3. Eingriffe und deren Rechtfertigung
Eingriffe in das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 III sind grds. sämtliche Maßnahmen, die zu einer erneuten Strafverfolgung führen (vgl. Rn. 28 ff.). Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Eingriffen in den vorbehaltlos gewährleisteten Art. 103 III kann sich aufgrund dessen strikter Fassung („Niemand darf […] mehrmals bestraft werden“) nicht einmal aus verfassungsimmanenten Schranken (vgl. Vor Art. 1 Rn. 53; aA SB/Brüning Art. 103 Rn. 115 mwN; indes auch Rn. 32) ergeben.
Sieht man in der Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten nach § 362 StPO einen Eingriff in das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 III (so zu Recht BVerfG NJW 2023, 3698 (3708 f.); MKS/Nolte/Aust Art. 103 Rn. 222; Kingreen/Poscher Rn. 1447; aA wohl Hömig/Wolff Art. 103 Rn. 21), ist dieser folglich nicht zu rechtfertigen, auch nicht im Falle eines „schlechthin unerträglichen Ergebnisses“ (so aber die hM, s. etwa Jarass/Pieroth/Kment Art. 103 Rn. 106; SHH/Schmahl Art. 103 Rn. 88 mwN; Dreier/Schulze-Fielitz Art. 103 III Rn. 32; für einen absoluten Schutz DHS/Remmert Art. 103 III Rn. 62 f.). Denn dass auch ein solches Ergebnis im Interesse der Rechtssicherheit „ertragen“ werden muss, ist gerade die Kernaussage des absoluten und abwägungsfesten Verbotes (BVerfG NJW 2023, 3698 (3703)) aus Art. 103 III. Die Zulässigkeit der Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten ließe sich allenfalls daraus herleiten, dass das vorgefundene (Rn. 27) Verfahrensprinzip des Verbots der Mehrfachbestrafung bereits ein Institut der Wiederaufnahme kannte, welches der Grundgesetzgeber durch Art. 103 III nicht modifizieren wollte (v. Münch/Kunig/Kunig/Saliger Art. 103 Rn. 78; Dreier/Schulze-Fielitz Art. 103 III Rn. 32; s. ferner MKS/Nolte/Aust Art. 103 Rn. 222 f.), womit gleichsam eine „immanente Schranke“ des Art. 103 III bestünde (so nunmehr BVerfG NJW 2023, 3698 (3706) für die Wiederaufnahmegründe aus § 362 Nr. 1–4 StPO; vgl. zu „immanenten Schranken“ BVerfGE 3, 248 (252 f.)). Erkennt man die Rechtfertigung durch eine solche Schranke an, verstieße jedenfalls die Erweiterung der Wiederaufnahmegründe zuungunsten des Angeklagten gegen Art. 103 III (so auch MKS/Nolte/Aust Art. 103 Rn. 223; Dreier/Schulze-Fielitz Art. 103 III Rn. 32; für eine „restriktive Handhabung“ Sachs/Degenhart Art. 103 Rn. 84). Der Gesetzgeber hatte als weiteren Wiederaufnahmegrund neue Tatsachen oder Beweismittel in § 362 Nr. 5 StPO einzufügen versucht. Da dieser Wiederaufnahmegrund dem Schutzgehalt von Art. 103 III diametral entgegenläuft, ist diese Erweiterung mit der Verfassung nicht zu vereinbaren (BVerfG NJW 2023, 3698 (3707 ff.); s. auch die abw. Meinung: BVerfG NJW 2023, 3698 (3712 ff.)).