Artikel 96 [Bundesgerichte]
(1) Der Bund kann für Angelegenheiten des gewerblichen Rechtsschutzes ein Bundesgericht errichten.
(2) 1 Der Bund kann Wehrstrafgerichte für die Streitkräfte als Bundesgerichte errichten. 2 Sie können die Strafgerichtsbarkeit nur im Verteidigungsfalle sowie über Angehörige der Streitkräfte ausüben, die in das Ausland entsandt oder an Bord von Kriegsschiffen eingeschifft sind. 3 Das Nähere regelt ein Bundesgesetz. 4 Diese Gerichte gehören zum Geschäftsbereich des Bundesjustizministers. 5 Ihre hauptamtlichen Richter müssen die Befähigung zum Richteramt haben.
(3) Oberster Gerichtshof für die in Absatz 1 und 2 genannten Gerichte ist der Bundesgerichtshof.
(4) Der Bund kann für Personen, die zu ihm in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis stehen, Bundesgerichte zur Entscheidung in Disziplinarverfahren und Beschwerdeverfahren errichten.
(5) Für Strafverfahren auf den folgenden Gebieten kann ein Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrates vorsehen, dass Gerichte der Länder Gerichtsbarkeit des Bundes ausüben:
- Völkermord;
- völkerstrafrechtliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit;
- Kriegsverbrechen;
- andere Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören (Artikel 26 Abs. 1);
- Staatsschutz.
I. Allgemeines
Art. 96 I–IV weist dem Bund die Kompetenz zu, neben den in Art. 95 I genannten obligatorischen Bundesgerichten weitere, fakultative Bundesgerichte zu schaffen. Anders als die in Art. 95 genannten obligatorischen Bundesgerichte sind die fakultativen keine letztinstanzlichen Gerichte, die den unterinstanzlichen Landesgerichten übergeordnet sind, sondern unabhängige Bundesgerichte, die schon in erster Instanz zur Entscheidung berufen sind. Rechtsmittelinstanz ist jew. ein obligatorischer oberster Gerichtshof des Bundes; eine lückenlose Kontrolle durch die obersten Gerichtshöfe muss jedoch nicht erfolgen. Art. 96 V enthält hingegen keine Grundlage für eine weitere fakultative Bundesgerichtsbarkeit, sondern erlaubt dem Bund, für die seiner Rspr.-Kompetenz unterliegenden enumerativ aufgeführten Straftatbestände des Völkerstrafgesetzbuchs sowie des Staatsschutzes zu bestimmen, dass die Bundesgerichtsbarkeit von Gerichten der Länder ausgeübt wird.
II. Fakultative Bundesgerichte
1. Bundesgericht für Angelegenheiten des gewerblichen Rechtsschutzes
Der Begriff des gewerblichen Rechtsschutzes in Art. 96 I entspricht dem des Art. 73 I Nr. 9 (Art. 73 Rn. 18). Von seiner Kompetenz nach Art. 96 I hat der Bund in §§ 65 ff. PatentG teilweise Gebrauch gemacht und das Bundespatentgericht errichtet. Es ist zuständig für bestimmte Entscheidungen in Patent-, Geschmacksmuster- und Sortensachen (vgl. etwa §§ 81, 65 PatentG, § 18 GebrMG, § 23 II GeschmMG, §§ 66 I, 133a II MarkenG, § 34 SortenschutzG). Oberstes Instanzgericht in den ihm zugewiesenen Angelegenheiten ist gem. Art. 96 III der BGH. Alle anderen Angelegenheiten des gewerblichen Rechtsschutzes, für die keine Zuständigkeit des Bundespatentgerichts besteht, fallen in die Gerichtsbarkeit der Länder.
2. Wehrstrafgerichte
Von der Ermächtigung des Art. 96 II 1 und 3 zur Errichtung von Wehrstrafgerichten hat der Bund bisher keinen Gebrauch gemacht. Die Errichtung von Gerichten für Wehrdisziplinarsachen ist nicht von Art. 96 II erfasst, sondern fällt unter Art. 96 IV. Wehrstrafgerichte gehören zum Geschäftsbereich des Bundesjustizministers (Art. 96 II 4); ihre hauptamtlichen Richter müssen die Befähigung zum Richter haben (Art. 96 II 5). Der Umfang des Wehrstrafrechts orientiert sich an dem Begriff des Strafrechts in Art. 74 I Nr. 1 (Art. 74 Rn. 3) und umfasst auch das Ordnungswidrigkeitenrecht (Sachs/Detterbeck Art. 96 Rn. 9; Dreier/Schulze-Fielitz Art. 96 Rn. 22; MKS/Voßkuhle Art. 96 Rn. 11; aA v. Münch/Kunig/Meyer Art. 96 Rn. 28). Die Wehrstrafgerichtsbarkeit erfasst sowohl dienstliche als auch außerdienstliche Tatbestände. Personell erstreckt sich die Zuständigkeit der Wehrstrafgerichtsbarkeit in Friedenszeiten gem. Art. 96 II 2 allein auf die ins Ausland entsandten oder an Bord von Kriegsschiffen eingeschifften Angehörigen der Streitkräfte (Art. 87a Rn. 2). Im Verteidigungsfall (Art. 115a Rn. 2) unterfallen ihr alle Angehörigen der Streitkräfte. Auch Kriegsgefangene, die ausländischen Streitkräften angehören, können der Wehrstrafgerichtsbarkeit unterstellt werden (vgl. Art. 84 I, III des Genfer Abkommens v. 12.8.1949 über die Behandlung von Kriegsgefangenen; BGBl. 1954 II 781), da Art. 96 II 2 allein Zivilisten von der Wehrstrafgerichtsbarkeit ausnehmen will (Sachs/Detterbeck Art. 96 Rn. 10; Dreier/Schulze-Fielitz Art. 96 Rn. 24; v. Münch/Kunig/Meyer Art. 96 Rn. 31; aA MKS/Voßkuhle Art. 96 Rn. 12). Oberstes Instanzgericht über die Wehrstrafgerichte ist der BGH (Art. 96 III).
3. Bundesdisziplinar- und Beschwerdegericht
Nach Art. 96 IV kann der Bund Bundesdisziplinar- und Bundesbeschwerdegerichte errichten. Bei Disziplinarsachen handelt es sich um Entscheidungen über Disziplinarmaßnahmen aufgrund von Dienstvergehen (BeckOK GG/Morgenthaler Art. 96 Rn. 10; Dreier/Schulze-Fielitz GG Art. 96 Rn. 28). Beschwerdeverfahren betreffen alle Klagen des Dienstnehmers gegen den Dienstherrn aus dem Dienstverhältnis (MKS/Voßkuhle Art. 96 Rn. 19). Die Gerichtsbarkeit erstreckt sich personell auf Personen, die zum Bund in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis stehen, also auf Bundesbeamte, Bundesrichter, Soldaten und Dienstpflichtige gem. Art. 12a I, II. Von seiner Kompetenz nach Art. 96 IV hat der Bund teilweise Gebrauch gemacht. Gerichte iSv Art. 96 IV sind die Truppendienstgerichte nach §§ 68 ff. WDO, die sowohl Disziplinar- als auch Beschwerdegerichte sind. Rechtsmittelinstanz für die Truppendienstgerichte sind die beim BVerwG gebildeten Wehrdienstsenate, die ihrerseits jedoch keine Bundessondergerichte iSv Art. 96 IV sind. Gleiches gilt für den in Disziplinar- und Beschwerdeangelegenheiten von Bundesrichtern eingerichteten Senat des BGH, der gem. § 61 I DriG als Dienstgericht des Bundes fungiert. Es handelt sich in beiden Fällen um unselbständige Spruchkörper von obersten Gerichtshöfen des Bundes (SHH/Heusch Art. 96 Rn. 11).
III. Ausübung der Bundesgerichtsbarkeit durch Ländergerichte
Die in Art. 96 V Nr. 1–5 aufgezählten Straftatbestände unterliegen der Zuständigkeit des Bundes und fallen grds. In den Zuständigkeitsbereich des BGH. Der Bund wird durch Art. 96 V ermächtigt, durch Gesetz, das der Zustimmung des BRats bedarf, zu bestimmen, dass diese Zuständigkeiten von Gerichten der Länder wahrgenommen werden. Der Bund kann gem. Art. 96 V seine Gerichtsbarkeit im Wege der Organleihe von den Ländern ausüben lassen. Damit werden drei Ziele verfolgt. Erstens wird dadurch ein zweizügiges Gerichtsverfahren ermöglicht. Zweitens sollen die Ermittlungsbefugnisse des Generalbundesanwalts hinsichtlich der genannten Straftaten erhalten bleiben. Drittens sollte das an sich an die erstinstanzliche Gerichtszuständigkeit anknüpfende Begnadigungsrecht des BPräsidenten hinsichtlich dieser Taten auch nach Einführung eines zweizügigen Rechtswegs erhalten bleiben.
Die Ermächtigung des Bundes erstreckt sich auf die im Völkerstrafgesetzbuch v. 26.6.2002 (BGBl. I 2254) normierten schwersten Straftatbestände sowie auf die Staatsschutzstraftatbestände (§§ 81–101a StGB). Von seiner Kompetenz hat der Bund in § 120 GVG Gebrauch gemacht und den Oberlandesgerichten die erstinstanzliche Zuständigkeit übertragen. § 142a I GVG sichert die Mitwirkungsbefugnis des Generalbundesanwalts. Das Begnadigungsrecht des BPräsidenten ergibt sich aus § 452 S. 1 StPO iVm Art. 60 II GG.