Artikel 4 [Glaubensfreiheit; Gewissensfreiheit; Kriegsdienstverweigerung]
(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.
(3) 1 Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. 2 Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.
I. Überblick und Allgemeines
Art. 4 enthält mehrere Grundrechtsverbürgungen: Unterschieden werden die Glaubensfreiheit (Art. 4 I und II, auch: „Religionsfreiheit“) als einheitliches Grundrecht (Rn. 4), die Gewissensfreiheit (Art. 4 I) und das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung (Art. 4 III). Ergänzt wird die Verbürgung der Glaubensfreiheit durch die über Art. 140 als Bestandteil des Grundgesetzes geltenden Art. 136–139 und 141 WRV (s. im Einzelnen die Kommentierung zu → Art. 140). Vor allem das Grundrecht der Glaubensfreiheit steht in enger Beziehung zur Menschenwürde als oberstem Wert im System der Grundrechte (vgl. Art. 1 Rn. 1) und muss wegen seines Ranges, der sich auch in seiner vorbehaltlosen Gewährleistung manifestiert, extensiv ausgelegt werden (BVerfGE 24, 236 (246); 35, 366 (376)).
II. Glaubensfreiheit
1. Sachlicher Schutzbereich
a) „Glaube“
Das Schutzgut der durch Art. 4 I und II gewährleisteten Glaubensfreiheit, der „Glaube“, umfasst als Oberbegriff sowohl religiöse Anschauungen, dh Erklärungsmodelle vom Wesen der Welt, die insbes. durch eine Gottvorstellung und einen Jenseitsbezug geprägt sind (Dreier/Morlok Art. 4 Rn. 72), als auch Weltanschauungen, durch welche die Stellung des Menschen in der Welt auf antireligiöse oder atheistische Weise erklärt wird (Stern/Sodan/Möstl/de Wall § 111 Rn. 35; vgl. auch Hömig/Wolff/Wolff Art. 4 Rn. 5; HStR VII/v. Campenhausen § 157 Rn. 59; s. ferner BVerwGE 61, 152 (154 f.); 89, 368 (370 f.)). Eine klare Trennung zwischen Religion und Weltanschauung ist oftmals kaum möglich, praktisch aber auch nicht notwendig, da beide in gleicher Weise vom Schutz des Art. 4 I und II erfasst werden (vgl. BVerwGE 90, 112 (115 f.)). Entscheidend ist folglich die Bildung einer Wahrheitsüberzeugung betr. das Wesen der Welt und die metaphysische Stellung des einzelnen Menschen in ihr.
Der Glaubensbegriff ist dabei nicht beschränkt auf die „großen“ Weltreligionen, die sich in den einzelnen Kulturräumen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet haben (wie etwa Christentum oder Islam); er erfasst vielmehr auch deren „abweichende“ Ausprägungen oder gar „neue“ Glaubensanschauungen (vgl. BVerfGE 33, 23 (29): auch Schutz von „Außenseitern“ und „Sektierern“). Andererseits genügt nicht schon jede „Selbstberühmung“ als Glaubensgemeinschaft; vielmehr muss es sich auch „tatsächlich, nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild“ um einen Glauben bzw. eine Glaubensgemeinschaft handeln (BVerfGE 83, 341 (353)). Auf die zahlenmäßige Stärke und die soziale Relevanz einer derartigen Gemeinschaft kommt es nicht an (BVerfGE 32, 98 (106)). Dass eine Gemeinschaft bei Erfüllung dieser Voraussetzungen zugleich wirtschaftliche oder politische Ziele verfolgt, steht der Qualifizierung als „Glaubensgemeinschaft“ grds. nicht entgegen (BVerfGE 105, 279 (293)). Etwas anderes gilt aber, wenn Glaubensinhalte nur als Vorwand für eine lediglich wirtschaftliche Betätigung dienen, ausschließlich wirtschaftliche Interessen also lediglich mit ideellen Zielen „verbrämt“ werden (vgl. BVerfGE 105, 279 (293); BVerwGE 90, 112 (118); BAG NJW 1996, 143 (146 ff.)).
b) Einheitliches Grundrecht der Glaubensfreiheit
Die durch Art. 4 I geschützte Freiheit „des Glaubens“ und „des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses“ sowie die durch Art. 4 II gewährleistete „ungestörte Religionsausübung“ bilden nach der Judikatur des BVerfG ein „umfassend zu verstehendes einheitliches Grundrecht“ der Glaubensfreiheit (BVerfGE 108, 282 (297 mwN); 138, 296 (328 f.)) und stellen keine voneinander getrennten oder zu trennenden Gewährleistungen dar (aA Busse, Das Prinzip staatlicher Neutralität und die Freiheit der Religionsausübung, 2012, 36 ff.). Das Grundrecht der Glaubensfreiheit umfasst insofern nicht nur das Recht, einen Glauben zu bilden und inne zu haben („forum internum“), sondern auch – als „Bekenntnisfreiheit“ – diesen nach außen kundzutun sowie das gesamte Verhalten an den Lehren dieses Glaubens auszurichten und demgemäß zu handeln ( „forum externum“; s. etwa BVerfGE 32, 98 (106); BVerwGE 99, 1 (7); vgl. auch BVerfGE 108, 282 (297); BVerfG [K] NJW 2007, 1865 (1867)).
Neben der „positiven“ ist auch die „negative“ Glaubensfreiheit geschützt, also das Recht, keinen oder keinen bestimmten Glauben zu haben bzw. haben zu müssen (BVerfGE 41, 29 (49)). Hierunter fallen etwa der Schutz vor Zwangsmitgliedschaften in Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften und die Freiheit, sich jederzeit von der kirchlichen Mitgliedschaft mit Wirkung für das staatliche Recht durch Austritt zu befreien (BVerfGE 44, 37 (50 ff.); BVerfG [K] NJW 2008, 2978), ebenso das speziell über Art. 140 GG iVm Art. 136 III 1 WRV gewährte Recht, über den eigenen Glauben grds. die Auskunft verweigern zu dürfen, vorbehaltlich der Ausnahmeregelung des Art. 140 GG iVm Art. 136 III 2 WRV (vgl. BVerfGE 46, 266 (267); 49, 375 (376); 65, 1 (39)).
Ergänzende oder konkretisierende Regelungen, insbes. hinsichtlich der sog. kollektiven Glaubensfreiheit (Rn. 13), enthalten die über Art. 140 geltenden Art. 136 ff. WRV, welche im Zusammenhang mit Art. 4 I und II zu lesen sind (BVerfGE 99, 100 (119); auch Rn. 1).
c) Geschützte Verhaltensweisen im Einzelnen
Der grundrechtliche Schutz durch Art. 4 I und II erstreckt sich nicht nur auf die Manifestation der Glaubensinhalte durch kultische oder sakrale Handlungen und Gebräuche, wie etwa Gottesdienste, Prozessionen, Riten, Gebete, Glockengeläut oder Glaubenssymbole, sondern auch auf die religiöse Erziehung, freireligiöse und atheistische Feiern sowie andere Äußerungen des religiösen und weltanschaulichen Lebens (BVerfGE 24, 236 (246); BVerfG [K] NJW 2017, 2333 (2334)). Da dem BVerfG zufolge das „gesamte Verhalten“ an den Glaubenslehren ausgerichtet werden darf (Rn. 4), können auch äußerlich neutrale Verhaltensweisen, die lediglich in einem inneren Zusammenhang mit einem bestimmten Glauben stehen, also durch diesen veranlasst sind, in den Schutzbereich des Art. 4 fallen, wie etwa das religiös motivierte Tragen einer bestimmten Bekleidung (BVerfGE 108, 282 (298); 138, 296 (328 ff.)). Dabei genügt allerdings nicht die bloße Behauptung, dass ein äußerlich neutrales Verhalten glaubensgeleitet sei; anderenfalls würde eine objektive Begrenzbarkeit des Schutzbereichs praktisch unmöglich. Daher muss derjenige, der sich auf den Grundrechtsschutz aus Art. 4 beruft, plausibel darlegen, dass das betreffende Verhalten tatsächlich glaubensgeleitet ist (Dreier/Morlok Art. 4 Rn. 92; vgl. auch BVerfGE 47, 327 (385); 108, 282 (298 f.); Stern/Sodan/Möstl/de Wall § 111 Rn. 38). Darüber hinaus ist folgende materielle Einschränkung geboten: Das betr. Verhalten muss objektiv wesensnotwendig für den religiösen oder weltanschaulichen Auftrag sein bzw. in entspr. organisatorisch-sachlichem Zusammenhang stehen (Badura, Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz, 1989, 54 ff.). Jedenfalls nicht geschützt sind Tätigkeiten, die nur „bei Gelegenheit“ religiöser Betätigung vorgenommen werden, etwa der Verkauf von Speisen und Getränken an Teilnehmer religiöser Veranstaltungen (BVerfGE 19, 129 (133)). Ebenfalls nicht geschützt ist die Abgabenverweigerung wegen glaubens- bzw. gewissenswidriger Mittelverwendung (s. BVerfGE 67, 26 (37); BVerfG [K] NJW 1993, 455 f.).
Auch bestimmte, religiös motivierte Formen des Speisens oder Schlachtens können eine von Art. 4 I und II geschützte Glaubensausübung sein, wie das betäubungslose Ausblutenlassen von zum Verzehr bestimmten Wirbeltieren (sog. „Schächten“; vgl. BVerfGE 104, 227 (352); aA BVerwGE 99, 1 (7 f.)). Hat die Vornahme des Schächtens indes einen gewerblichen Schwerpunkt, ist nur die Berufsfreiheit des Art. 12 I bzw. für Ausländer Art. 2 I (vgl. Vor Art. 1 Rn. 36 ff.) berührt, wobei der jeweilige Schutzbereich jedoch durch Art. 4 I und II „verstärkt“ werden kann, wenn die Tätigkeit zugleich Ausdruck einer religiösen Grundhaltung ist (vgl. BVerfGE 104, 337 (346)). Ob allerdings die in BVerfGE 104, 337 (353 ff.) für erforderlich gehaltene, verfassungskonform im Lichte von Art. 4 I und II und damit weit vorzunehmende Auslegung einfachrechtlicher Genehmigungserfordernisse für das Schächten (s. insbes. § 4a II Nr. 2 TierSchG) nach der Aufnahme des Tierschutzes in Art. 20a noch in dieser Form vertreten werden kann, ist zweifelhaft (s. dazu BVerwGE 127, 183 ff.; HessVGH ESVGH 55, 129 ff.; Sachs/Kokott Art. 4 Rn. 86).
d) Pflicht des Staates zu religiös-weltanschaulicher Neutralität
Das Grundgesetz begründet in Art. 4 I und II – „ergänzt“ durch Art. 33 III und 3 III 1 – eine Pflicht des Staates zu religiös-weltanschaulicher Neutralität, denn der freiheitliche Staat des Grundgesetzes ist gekennzeichnet durch Offenheit gegenüber der Vielfalt weltanschaulich-religiöser Überzeugungen (BVerfGE 108, 282 (299 f.)). Diese Neutralitätspflicht verwehrt dem Staat die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und untersagt die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse ebenso wie die Ausgrenzung Andersgläubiger (vgl. BVerfGE 19, 206 (216); 24, 236 (246); 33, 23 (28); 93, 1 (17)). Ferner gebietet sie dem Staat, den Raum für eine aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung sowie die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern (vgl. BVerfGE 41, 29 (49); 93, 1 (16)) und dabei auf der Grundlage einer offenen und übergreifenden Haltung die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen zu fördern (BVerfGE 108, 282 (300)). Demgegenüber darf der Staat keine gezielte Beeinflussung im Dienste einer bestimmten politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Richtung betreiben oder sich durch von ihm ausgehende bzw. ihm zuzurechnende Maßnahmen ausdrücklich oder konkludent mit einem bestimmten Glauben oder einer bestimmten Weltanschauung identifizieren und dadurch den religiösen Frieden in einer Gesellschaft von sich aus gefährden (BVerfGE 108, 282 (300); vgl. BVerfGE 93, 1 (16 f.)). Die Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität gebietet dem Staat insoweit auch, die gleiche Teilhabe von Religionsgesellschaften an der Gewährung staatlicher Förderleistungen sicherzustellen (BVerfGE 123, 148 (177 ff.)). Allerdings verbietet es die Neutralität dem Staat nicht, die Öffentlichkeit über bedeutsame Vorgänge und Entwicklungen in einer Religionsgemeinschaft zu informieren (OVG Bremen NJW 2016, 823 (824)).
Von dieser Neutralitätspflicht ausgenommen ist indes ein Eintreten des Staates für die elementaren, in der Ewigkeitsklausel des Art. 79 III niedergelegten Verfassungsprinzipien sowie für die ihnen zugrunde liegenden Werte (etwa Humanität, Aufklärung, Toleranz, Friedlichkeit), da es sich bei ihnen nicht um Glaubens- oder Weltanschauungsfragen handelt, sondern um die unverzichtbaren Fundamente für ein geordnetes gesellschaftliches Zusammenleben, deren Beachtung von jedem, auch jedem Gläubigen und jeder Religionsgemeinschaft, einzufordern ist (vgl. Sachs/Thiel Art. 7 Rn. 28, der diese Prinzipien und Werte als „Verfassungsessenz“ bezeichnet; auch Art. 7 Rn. 5).
Zwar ergibt sich aus der staatlichen Neutralitätspflicht nicht, dass in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, dem Einzelnen ein Recht zukommt, von fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben (BVerfGE 108, 282 (302); 138, 296 (336); BVerwGE 141, 223 (231)). Beeinträchtigt wird die „negative“ Glaubensfreiheit des Einzelnen aber durch eine vom Staat geschaffene Lage, in welcher der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeit dem Einfluss eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen er sich manifestiert, und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt wird (BVerfGE 93, 1 (16); 138, 296 (336)). Insofern entfalten Art. 4 I und II ihre freiheitssichernde Wirkung vor allem in Lebensbereichen, die nicht der gesellschaftlichen Selbstorganisation überlassen, sondern vom Staat in Vorsorge genommen sind (BVerfGE 41, 29 (49); 108, 282 (302)). Etwa im Bereich der öffentlichen Schulen sind danach christliche Bezüge nicht schlechthin verboten; die Schule muss aber auch für andere weltanschauliche und religiöse Inhalte und Werte offen sein (vgl. BVerfGE 41, 29 (51); 52, 223 (236 f.); 108, 282 (300)). Beim Konflikt mit widerstreitenden Rechtspositionen Dritter, etwa der Glaubensfreiheit von Lehrpersonal, der (positiven wie negativen) Glaubensfreiheit der Schüler und dem auch die religiös-weltanschauliche Erziehung sichernden Elternrecht (Art. 6 II) sind die betr. Vorschriften zusammen zu sehen sowie ihre Interpretation und ihr Wirkungsbereich aufeinander abzustimmen, sodass es zu einem sachgerechten Ausgleich kommt (vgl. BVerfGE 108, 282 (302 f.)). Die Verrichtung ritueller Gebete in einer öffentlichen Schule außerhalb der Unterrichtszeit fällt in den Schutzbereich des Art. 4 I und II (BVerwGE 141, 223 (226 ff.)). Aus der „negativen“ Glaubensfreiheit von Mitschülern und Lehrern ergibt sich keine Einschränkung (BVerwGE 141, 223 (229)); ein gegenüber einem Schüler ausgesprochenes Verbot ritueller Gebete kann aber durch das aus dem Erziehungsauftrag des Staates aus Art. 7 I folgende Gebot der Wahrung des Schulfriedens gerechtfertigt sein (BVerwGE 141, 223 (235 ff.)). S. zur Frage, inwieweit der Gesetzgeber berechtigt ist, den sich aus möglichen Konflikten ergebenden Gefährdungen des Schulfriedens dadurch vorzubeugen, dass er Lehrern das Tragen religiös oder weltanschaulich motivierter Kleidungsstücke verbietet, Rn. 17.
e) Schutzpflicht des Staates
Die Religionsfreiheit des Art. 4 I und II ist nicht auf die Funktion als Abwehrrecht beschränkt, sondern enthält auch eine Schutzverpflichtung des Staates, Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugungen und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern (BVerfGE 41, 29 (49)). Diese Schutzpflicht besteht ferner gegenüber den als Körperschaften des öffentlichen Rechts verfassten Religionsgemeinschaften; jedoch resultieren aus ihr wegen des weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraums insbes. des Gesetzgebers idR keine konkreten Handlungsvorgaben, und das BVerfG kann ihre Verletzung nur im Falle offensichtlich ungeeigneter oder völlig unzulänglicher Maßnahmen feststellen (BVerfGE 125, 39 (78 f.)). Auch räumt Art. 4 I dem Einzelnen und den religiösen Gemeinschaften grds. keinen Anspruch darauf ein, „ihrer Glaubensüberzeugung mit staatlicher Unterstützung Ausdruck zu verleihen“ (BVerfGE 93, 1 (16); s. auch BVerfG [K] NVwZ 2016, 135 (136)). „Die Glaubensfreiheit ist dem Bürger nur dort gewährleistet, wo er tatsächlich Zugang findet“ (BVerwGE 141, 223 (228)), weshalb der Staat hierzu zB auch keinen Raum im wörtlichen Sinne schaffen muss. Hingegen ergibt sich aus Art. 4 I und II iVm Art. 140 GG/139 WRV ein Schutzauftrag zugunsten der Sonn- und Feiertagsruhe (BVerfGE 125, 39 (78 ff.) – betr. Ladenöffnungszeiten an Adventssonntagen; s. dazu auch Kühn NJW 2010, 2094 ff.; Mosbacher NVwZ 2010, 537 ff.; vgl. zu unzulässigen Ausnahmen für bestimmte Bereiche HessVGH NVwZ 2014, 380 ff.).
2. Personeller Schutzbereich
a) Individuelle Glaubensfreiheit
Träger des Grundrechts der Glaubensfreiheit sind zunächst alle Einzelpersonen (individuelle Glaubensfreiheit), unabhängig von deren Nationalität. Auch Kinder sind grundrechtsberechtigt, allerdings wird ihre Glaubensfreiheit bis zu ihrer „Grundrechtsmündigkeit“ (vgl. Vor Art. 1 Rn. 39) vom elterlichen Erziehungsrecht in weltanschaulich-religiösen Fragen „überlagert“ (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 4 Rn. 18).
b) Kollektive Glaubensfreiheit
Grundrechtsträgerinnen können ferner Glaubensvereinigungen sein, deren Zweck die Förderung eines religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses oder die Verkündung des Glaubens ihrer Mitglieder ist (vgl. BVerfGE 19, 129 (132); 70, 138 (160 f.)); das Grundrecht aus Art. 4 I und II ist insoweit auch gemeinschaftlich ausübbar (kollektive Glaubensfreiheit). Die Grundrechtsträgerschaft ist unabhängig vom Erwerb der Rechtsfähigkeit als juristische Person des Privatrechts (vgl. BVerfGE 102, 370 (383)). Hinsichtlich juristischer Personen (vgl. Art. 19 III) gilt sie nicht nur für solche des Privatrechts, sondern auch für Religionsgesellschaften, welche gem. Art. 137 V und VI WRV den Status öffentlich-rechtlicher Körperschaften haben (zu den Voraussetzungen und Folgen dieses öffentlich-rechtlichen Status → Art. 140 GG/Art. 137 WRV Rn. 8 ff.); denn diese sind trotz ihrer öffentlich-rechtlichen Organisationsform nicht dem Staat inkorporiert (Art. 19 Rn. 25), weswegen sie – soweit sie außerhalb des ihnen (durch Beleihung) übertragenen Bereichs hoheitlicher Befugnisse handeln – grds. auch nicht unmittelbar grundrechtsgebunden sind (vgl. BVerfGE 102, 370 (392); BVerfG [K] NVwZ 2015, 517 (518); näher Dreier/Morlok Art. 140 GG/Art. 137 WRV Rn. 81 ff.). Die bezüglich der kollektiven Glaubensfreiheit besonderen Verbürgungen der Art. 136 ff. WRV (hierzu zählt etwa die religiöse und weltanschauliche Vereinigungsfreiheit; s. näher zu deren Beeinträchtigung durch Verbote Pieroth/Kingreen NVwZ 2001, 841 ff.) kommen nur den „Religionsgesellschaften“ (besser: „Religionsgemeinschaften“) zugute. Darunter sind solche Glaubensvereinigungen zu verstehen, die allseitig die Erfüllung der durch das gemeinsame Bekenntnis gestellten Aufgaben zum Ziel haben und deren Zweck damit nicht nur auf einen religiösen Teilbereich beschränkt ist (auch → Art. 140 GG/Art. 137 WRV Rn. 3; ferner MKS/Unruh Art. 137 WRV Rn. 16; vgl. auch BVerfGE 24, 236 (246 f.)). Die kirchliche Vereinigungsfreiheit wird institutionell und korporativ gewährleistet (Sachs/Kokott Art. 4 Rn. 96). „Die Formulierung des kirchlichen Proprium obliegt […] allein den Kirchen und ist als elementarer Bestandteil der korporativen Religionsfreiheit durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verfassungsrechtlich geschützt“ (BVerfGE 137, 273 (310) – ohne die Hervorhebung). Sofern die korporative Religionsfreiheit bereits in Art. 4 I und II als garantiert angesehen wird, stellen sich Abgrenzungsfragen zu den Art. 136 ff. WRV (s. hierzu Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, 2008, Rn. 178, 186). Das Grundrecht der Glaubensfreiheit ist wegen der ausdrücklichen Regelung in Art. 19 III grds. lediglich den inländischen juristischen Personen garantiert (näher Art. 19 Rn. 18).
3. Eingriffe
Die Glaubensfreiheit wird beeinträchtigt, wenn ein in den Schutzbereich fallendes Verhalten durch staatliche Tätigkeit geregelt oder in sonstiger Weise mehr als nur unerheblich behindert wird. Als Eingriffe kommen vor allem staatliche Ge- und Verbote in Betracht, die sich auf vom Schutzbereich erfasste Verhaltensweisen negativ auswirken, ferner die Anknüpfung negativer Rechtsfolgen (etwa Sanktionen) an glaubensgeleitete Tätigkeiten. Unerheblich ist dabei grds., ob die betr. Regelung gerade zur „Eindämmung“ bestimmter glaubensgeleiteter Tätigkeiten erfolgt oder es sich um eine allgemeine Regelung handelt, die nicht primär eine solche Zwecksetzung aufweist, durch deren Befolgung aber gleichwohl bestimmte Glaubensträger ihrer Überzeugung zuwiderhandeln müssten. Eingriffe sind insofern etwa das Verbot für Lehrer, bestimmte „religiös motivierte“ Bekleidung zu tragen (s. BVerfGE 108, 282 (297); 138, 296 (330 ff.); BVerwGE 116, 359 (360) – „Kopftuchstreit“; vgl. ferner BVerwG NVwZ 1988, 937 (938); BVerwGE 121, 140 ff.; 131, 242 ff.; BVerwG NJW 2009, 1289 ff.; näher Rn. 17), die Strafsanktion für einen Ehemann, der aus religiösen Gründen nicht für die ärztliche Behandlung seiner schwerkranken Ehefrau sorgt (BVerfGE 32, 98 (106 ff.)), die Streichung von Arbeitslosenunterstützung wegen Ausschlagung einer vermittelten Arbeitsstelle aus Glaubensgründen (BSGE 51, 70 (72 ff.)), die Ablehnung einer beantragten Unterrichtsbefreiung aus religiösen Gründen für die Dauer einer Filmvorführung (BVerwG NJW 2014, 804 f.) oder die Verpflichtung einer Schülerin zum Sportunterricht, obwohl dies den sittlichen Verhaltensgeboten ihrer Glaubensrichtung zuwiderläuft (BVerwGE 94, 82 (83 ff.); vgl. ferner BVerwGE 147, 362 (364)). Auch in der gesetzlich vorgeschriebenen Anbringung von Kreuzen oder Kruzifxen in öffentlichen, bekenntnisfreien Schulen und dem damit aufgrund der allgemeinen Schulpflicht verbundenen Zwang, „unter dem Kreuz“ zu lernen, sah das BVerfG einen Eingriff in die (negative) Glaubensfreiheit der Schüler bzw. das elterliche Erziehungsrecht in religiös-weltanschaulicher Hinsicht, Art. 6 II iVm Art. 4 I (BVerfGE 93, 1 (17 ff.); aA das Sondervotum zu dieser Entscheidung, BVerfGE 93, 1 (25, 30 ff.)).
Ferner können Beeinträchtigungen, welche nicht regelnd, sondern bloß faktisch oder mittelbar wirken, Eingriffe darstellen (allg. hierzu Vor Art. 1 Rn. 48 f.), wie etwa die staatliche Subventionierung von Vereinen, welche die Eindämmung bestimmter Glaubensvereinigungen zum Ziel haben (BVerwGE 90, 112 (118 ff.)). Gleiches gilt prinzipiell für Warnungen, diffamierende, diskriminierende, verfälschende oder sonstige negative Äußerungen staatlicher Stellen hinsichtlich einzelner religiös-weltanschaulicher Vereinigungen (vgl. BVerfGE 105, 279 (294)). Der Staat und seine Organe sind aber nicht gehalten, sich mit derartigen Fragen überhaupt zu befassen; auch der neutrale Staat ist nicht gehindert, das tatsächliche Verhalten einer religiösen oder weltanschaulichen Gruppierung oder das ihrer Mitglieder nach weltlichen Kriterien zu beurteilen, selbst wenn dieses Verhalten letztlich religiös motiviert ist (BVerfGE 102, 370 (394); 105, 279 (294)).
4. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
a) Verfassungsimmanente Schranken
Die Glaubensfreiheit ist dem Wortlaut des Art. 4 I und II nach – dh vorbehaltlich der Ausnahmen, die sich insbes. für die kollektive Glaubensfreiheit aus den Art. 136 ff. WRV ergeben (Rn. 18) – vorbehaltlos gewährleistet, weist also keinen geschriebenen Gesetzesvorbehalt auf. Verfassungsimmanente Schranken können sich jedoch aus kollidierenden Grundrechten Dritter und anderen mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtswerten ergeben (s. BVerfG [K] NJW 2004, 47 f. – „Kaplan“; vgl. ferner BVerfG [K] NVwZ 2016, 1804 (1806) – Krypta im Industriegebiet; BVerwGE 147, 362 (364 f.); vgl. auch Vor Art. 1 Rn. 53). Allerdings muss der Eingriff gleichwohl auf der Grundlage eines Gesetzes erfolgen (BVerfGE 108, 282 (303); BVerwGE 141, 223 (229)); Art. 4 I und II unterliegen somit zumindest einem ungeschriebenen qualifizierten Gesetzesvorbehalt. Eine Ausnahme wird in der Rspr. jedoch beim auf die Aufgabe der Staatsleitung gestützten Informationshandeln der Bundesregierung zugelassen (vgl. BVerfGE 105, 279 (294 ff.); BVerwGE 82, 76 (79 ff.); BVerwG NJW 1991, 1770 ff.). Glaubensfreiheit und widerstreitendes Verfassungsgut sind im Wege praktischer Konkordanz in einen gerechten Ausgleich zu bringen, durch den beide möglichst weitgehend zur Geltung gelangen (vgl. Vor Art. 1 Rn. 53).
So stehen etwa der freien Glaubensausübung bei der Vornahme glaubensgeleiteter Eingriffe in die körperliche Integrität Dritter als verfassungsimmanente Schranken die in Art. 2 II 1 garantierten Grundrechte Dritter auf Leben und körperliche Unversehrtheit entgegen, deren Schutz die entsprechenden strafrechtlichen Verbots- bzw. Sanktionsnormen des StGB dienen. Die Erweiterung der Personensorge der Eltern zur Einwilligung in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen Knaben durch § 1631d BGB ist daher mit dem Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit nicht vereinbar. § 1631d BGB enthält außer der Berücksichtigung des Kindeswohls, das der einfache Gesetzgeber im Regelfall für nicht gefährdet hält, lediglich Anforderungen hinsichtlich der Befähigung des Operateurs. Es fehlen aber jegliche materiellen Kriterien zur Begrenzung der Befugnis der Eltern zur Einwilligung in den sehr intensiven, irreparablen Eingriff (vgl. Peschel-Gutzeit NJW 2013, 3617 (3619)). Zudem ist die Norm nicht auf Fälle einer Kollision mit Art. 4 I und II beschränkt; die einfachgesetzliche Befugnis der Eltern aus § 1631d BGB geht also weit über die Konkretisierung einer vermeintlichen verfassungsimmanenten Schranke hinaus. Vor allem ist ein derart schwerwiegender, medizinisch nicht notwendiger Eingriff in die wegen Art. 2 II 1 vom Gesetzgeber zu schützende körperliche Unversehrtheit des Kindes (Art. 2 Rn. 28) durch die Glaubensfreiheit und das Erziehungsrecht der Eltern nicht gerechtfertigt. Der vom LG Köln (NJW 2012, 2128 (2129)) zutr. zugunsten der körperlichen Unversehrtheit des Kindes vorgenommenen Abwägung kann sich der (einfache) Gesetzgeber nicht verschließen, weil es sich um die Anwendung von Rechtssätzen mit Verfassungsrang handelt (vgl. Peschel-Gutzeit NJW 2013, 3617 (3618)). Nur der Verfassungsgeber könnte diese Abwägung zugunsten der elterlichen Glaubensfreiheit entscheiden (vgl. dazu krit. auch Isensee JZ 2013, 317 ff.). Der Verfassungsrang genießende Schutz der „Volksgesundheit“ (vgl. Art. 2 II 1) wird zur Einschränkung von glaubensgeleitetem Drogenkonsum herangezogen (BVerwGE 112, 314 (318)). Im Hinblick auf eine dem gesetzlichen Feiertagsschutz zuwiderlaufende Veranstaltung einer Weltanschauungsgemeinschaft hat das BVerfG entschieden, dass dem gesetzlichen Feiertagsschutz uU nicht der unbedingte Vorrang gegeben, sondern zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit die Möglichkeit einer Ausnahme vorgesehen werden muss (BVerfGE 143, 161 (214 f.)).
Umstr. ist seit langem die verfassungsrechtliche Rechtfertigung eines Bedeckungsverbots (s. zu diesem sog. „Kopftuchstreit“ EGMR NVwZ 2006, 1389 ff.; BVerfGE 108, 282 (303 ff.); 138, 296 (333 ff.); BayVerfGH NVwZ 2008, 420 ff.; HessStGH NVwZ 2008, 199 ff.; BVerwGE 116, 359 (360 ff.); 121, 140 ff.; Hufen NVwZ 2004, 575 ff.; Bader NVwZ 2006, 1333 ff.; Öztürk DÖV 2007, 993 ff.; Walter/v. Ungern-Sternberg DÖV 2008, 488 ff.; Beaucamp/Beaucamp DÖV 2015, 174 ff.; Enzensperger NVwZ 2015, 871 ff.; Sacksofsky DVBl 2015, 801 ff.; vgl. auch EGMR NJW 2014, 2925 ff. zur Vereinbarkeit des Verbots der Gesichtsverschleiherung „Niqab“ mit der EMRK). Aus dem in Art. 33 II und V verankerten Grundsatz der neutralen Diensterfüllung durch Beamte – iVm dem staatlichen Neutralitätsgebot in religiös-weltanschaulicher Hinsicht (Rn. 9 ff.) – folgt ein verfassungsunmittelbarer Vorbehalt, der den Raum für eine Grundrechtsausübung des Beamten begrenzen kann, etwa im Hinblick auf das Tragen „religiös motivierter“ Bekleidung, zB eines Kopftuchs, im Dienst. Unter Berücksichtigung der sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit des Richters nach Art. 97 I und II sowie des Rechts auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 I 2 und dessen Neutralitätspflicht hat das BVerfG einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen ein Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen abgewiesen (BVerfG [K] NJW 2017, 2333 (2336)). Umstr. sind Bedeckungsverbote vor allem bei Lehrern und Erziehern. In seinem Urt. v. 24.9.2003 hat der Zweite Senat des BVerfG, dessen Entscheidung mit fünf gegen drei Stimmen ergangen ist, ein Kopftuchverbot an öffentlichen Schulen jedenfalls nicht ausgeschlossen, sondern von einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage abhängig gemacht (BVerfGE 108, 282 (309 ff.)). Vorwiegend in den sog. alten Bundesländern sind gesetzliche Regelungen geschaffen worden (Sachs/Kokott Art. 4 Rn. 63). Dem ist im Sondervotum der Richter Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff entgegengehalten worden, dass das kompromisslose Tragen des Kopftuche im Unterricht mit der Neutralitätspflicht von Beamten nicht zu vereinbaren sei (BVerfGE 108, 282 (315 ff.)). Nach einem Beschl. des Ersten Senats des BVerfG v. 27.1.2015 gewährleistet der Schutz des Grundrechts auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit „auch Lehrkräften in der öffentlichen bekenntnisfreien Gemeinschaftsschule die Freiheit, einem aus religiösen Gründen als verpflichtend verstandenen Bedeckungsgebot zu genügen, wie dies etwa durch das Tragen eines islamischen Kopftuchs der Fall sein kann“ (BVerfGE 138, 296, Ls. 1). „Ein landesweites gesetzliches Verbot religiöser Bekundungen […] durch das äußere Erscheinungsbild schon wegen der bloß abstrakten Eignung zur Begründung einer Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität in einer öffentlichen bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule ist unverhältnismäßig, wenn dieses Verhalten nachvollziehbar auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen ist. Ein angemessener Ausgleich der verfassungsrechtlich verankerten Positionen – der Glaubensfreiheit der Lehrkräfte, der negativen Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Schülerinnen und Schüler sowie der Eltern, des Elterngrundrechts und des staatlichen Erziehungsauftrags – erfordert eine einschränkende Auslegung der Verbotsnorm, nach der zumindest eine hinreichend konkrete Gefahr für die Schutzgüter vorliegen muss“ (BVerfGE 138, 296, Ls. 2; s. dazu T. Klein DÖV 2015, 464 ff.; Traub NJW 2015, 1338 ff.; krit. Rusteberg JZ 2015, 637 (641)). Dagegen wird in dem zu dieser Entscheidung ergangenen Sondervotum des Richters Schluckebier und der Richterin Hermanns argumentiert: „Die vom Senat geforderte einschränkende Auslegung […], dass nur eine hinreichend konkrete Gefahr für den Schulfrieden und die staatliche Neutralität ein Verbot religiöser Bekundungen durch das äußere Erscheinungsbild von Pädagogen zu rechtfertigen vermag, wenn es um die Befolgung eines imperativ verstandenen religiösen Gebots geht, misst den zu dem individuellen Grundrecht der Pädagogen gegenläufigen Rechtsgütern von Verfassungsrang bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu geringes Gewicht bei“ (BVerfGE 138, 296 (359); s. auch Enzensperger NVwZ 2015, 871 (872); krit. Ladeur JZ 2015, 633 (634 f.)). Zu Recht weist dieses Sondervotum darauf hin, dass es zuvörderst Sache des Landesgesetzgebers ist, im Rahmen seiner weiten Gestaltungsfreiheit für das Schulwesen einen „schonenden Ausgleich bei der Gestaltung des Erziehungsauftrags im multipolaren Grundrechtsverhältnis der Schule“ zu finden (BVerfGE 138, 296 (362)). Dieser Anforderung wird die Senatsmehrheit durch die einschränkende Auslegung der landesrechtlichen Verbotsnormen nicht gerecht (vgl. Enzensperger NVwZ 2015, 871 (872); Sachs/Kokott Art. 4 Rn. 63). Ein Kopftuchverbot für Erzieherinnen an öffentlichen Kindertagesstätten lehnt das BVerfG ebenfalls im Hinblick auf eine fehlende konkrete Gefahr ab, weil das Tragen des Kopftuchs für sich genommen noch keinen werbenden oder missionierenden Effekt habe (BVerfG [K] NJW 2017, 381 (385)). Zu den verfassungsimmanenten Schranken des Art. 4 I und II gehört auch der dem Staat in Art. 7 I erteilte Erziehungsauftrag (BVerfG [K] NJW 2015, 44 (46); BVerwGE 141, 223 (235); BVerwG NVwZ 2014, 237 (239); s. zur schulischen Integrationsfunktion als Schranke auch Uhle NVwZ 2014, 541 ff.; vgl. Rn. 11, Art. 7 Rn. 4); infolgedessen erfahren die Religionsfreiheit und ebenso das elterliche Erziehungsrecht (Art. 6 Rn. 18) durch die zur Konkretisierung dieses staatlichen Auftrags erlassene allgemeine Schulpflicht in grds. zulässiger Weise eine Beschränkung (BVerfG [K] NVwZ 2008, 72 (73) – betr. Ethikunterricht; BVerwGE 147, 362 (364 ff.) – betr. koedukativen Schwimmunterricht; BVerfG [K] NVwZ 2017, 227 (228) – betr. glaubenskonforme Badebekleidung [„Burkini“] im Schwimmunterricht; vgl. auch EGMR NVwZ 2015, 1585 (1588) – betr. Teilnahmepflicht am Religionsunterricht einer anderen Glaubensrichtung). Allerdings wird durch Art. 4 I und II kein Anspruch auf Aufnahme an einer öffentlichen Bekenntnisschule gewährt, wenn „die Grundsätze, die Unterricht und Erziehung an einer solchen Schule prägen“, nicht vorbehaltlos anerkannt werden (BVerwG NVwZ 2017, 1141 (1142)). Ein allgemeines, für den gesamten öffentlichen Raum bestehendes Burka-Verbot nach französischem Vorbild dürfte nur schwer mit Art. 4 I und II in Einklang zu bringen sein (Barczak DÖV 2011, 54 ff.). Demgegenüber soll das Verbot eines gesichtsverhüllenden Schleiers während des Schulunterrichts zulässig sein (BayVGH NVwZ 2014, 1109 ff.; s. zum Verbot der Gesichtsverhüllung im Beamtenrecht und dessen verfassungsrechtlicher Rechtfertigung Greve/Kortländer/Schwarz NVwZ 2017, 992 (997 ff.)). Immerhin hat sich eine deutliche Mehrheit im Zweiten Senat des BVerfG mit sieben Stimmen gegen eine Stimme in einem Beschl. v. 14.1.2020 („Kopftuch III“) dafür ausgesprochen, das Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen zu verteidigen. Anders als in dem von religiös-weltanschaulicher Pluralität geprägten Lebensbereich der Schule unterliegen Gerichte einem detailliert geregelten Verfahren; die Richterinnen und Richter trifft die Pflicht zur Tragung einer Amtstracht, um das Vertrauen in die Neutralität und Unparteilichkeit zu stärken (BVerfGE 153, 1 (38)). In die Abwägung mit Art. 4 I und II sei deshalb – neben den Gewährleistungen aus Art. 20 II 2, Art. 20 III, Art. 92 und Art. 101 I 2 sowie der sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit des Richters nach Art. 97 I und II auch die Funktionsfähigkeit der Rechtsprechung als verfassungsimmanente Schranke (krit. hierzu Brosius-Gersdorf/Gersdorf NVwZ 2020, 428 (430)) einzustellen (BVerfGE 153, 1 (39 f.)).
b) Geschriebene Gesetzesvorbehalte
Für spezielle Bereiche der Glaubensfreiheit finden sich in den über Art. 140 geltenden Art. 136 ff. WRV geschriebene Gesetzesvorbehalte (s. ausf. die diesbezüglichen Kommentierungen bei → Art. 140). So statuiert Art. 137 III 1 WRV im Rahmen der kollektiven Glaubensfreiheit einen Vorbehalt zugunsten des „für alle geltenden Gesetzes“ (näher → Art. 140 GG/WRV Art. 137 Rn. 5 f.; hierzu zählen etwa die Regelungen des BImSchG im Hinblick auf liturgisches Glockengeläut (s. dazu BVerwGE 68, 62 (66 ff.)). Der Vorbehalt in Art. 136 III 2 WRV gilt auch für die individuelle Glaubensfreiheit (näher → Art. 140 GG/Art. 136 WRV Rn. 5). Zunehmend wird aus Art. 136 I WRV ein umfassender Schrankenvorbehalt zugunsten der allgemeinen Gesetze hergeleitet, dh solcher Gesetze, die nicht speziell die Ausübung der Religionsfreiheit zum Gegenstand haben (BVerwGE 112, 227 (231 f.); s. aus dem Schrifttum etwa Sachs/Ehlers Art. 140 Rn. 4 sowie Art. 140 GG/WRV Art. 136 Rn. 4; Jarass/Pieroth/Jarass Art. 4 Rn. 32; MKS/Starck Art. 4 Rn. 87 f.). Diese Sichtweise deckt sich nicht nur mit der historischen Auslegung von Art. 136 I WRV (s. dazu Anschütz Art. 136 Anm. 1), sondern entspricht auch der vom BVerfG getroffenen Feststellung, dass die Art. 136–139 und 141 WRV mit dem Grundgesetz ein „organisches Ganzes“ bilden (BVerfGE 19, 226 (236)); sie wäre als Korrelat zu der vom BVerfG geforderten „extensiven“ Auslegung des Schutzbereichs von Art. 4 I (BVerfGE 24, 236 (246); 35, 366 (376)) durchaus folgerichtig. Außerdem bliebe ansonsten die eigenständige Bedeutung des vollwertig inkorporierten Art. 136 WRV in das Grundgesetz nur eine relativ geringe, da sich die in ihm aufgeführten Rechtsgarantien weitgehend auch aus Art. 3 III, 4 I und II sowie 33 III ergeben (s. Art. 140 GG/Art. 136 WRV Rn. 1; ferner v. Münch/Kunig/Mager Art. 140 Rn. 9 mwN). Das BVerfG und die Gegenmeinung im Schrifttum teilen diese Ansicht aus verfassungshistorischen und -systematischen Gründen gleichwohl nicht und sehen in Art. 136 I WRV demzufolge keinen Schrankenvorbehalt für die Glaubensfreiheit zugunsten der allgemeinen Gesetze (BVerfGE 33, 23 (30 ff.); 93, 1 (21); Dreier/Morlok Art. 4 Rn. 124; Schmahl in diesem Komm., Art. 140 GG/Art. 136 WRV Rn. 3; ausführl. zu diesem Streit auch Fischer/Groß DÖV 2003, 932 (933 ff.); Sachs/Kokott Art. 4 Rn. 132 ff.).
Das Verbot einer religiösen Vereinigung kann nicht nur auf verfassungsimmanente Schranken (Rn. 16 f.) gestützt werden (vgl. zu diesen Fragen am Bsp. des Salafismus Körting DVBl 2014, 1028 ff.), sondern auch auf die (geschriebene) Schranke des Art. 9 II (s. BVerwGE 37, 344 (358); 105, 117 (121); BVerwG NVwZ 2003, 986 (987) – zum Verbot der Vereinigung „Kalifatstaat“).
III. Gewissensfreiheit
1. Allgemeines
Art. 4 I schützt neben der Glaubensfreiheit auch die Gewissensfreiheit. Das Grundrecht enthält nicht nur ein subjektives Abwehrrecht, sondern aus ihm erwächst auch ein Anspruch gegen den Staat, den Raum für eine aktive Betätigung des Gewissens zu sichern und geeignete sowie erforderliche Maßnahmen zur Ermöglichung gewissenskonformen Verhaltens zu treffen (BVerwGE 105, 73 (78)). Zugleich ist Art. 4 I eine wertentscheidende Grundsatznorm, und zwar „höchsten verfassungsrechtlichen Ranges“, die bei Staatstätigkeit jeder Art Wertmaßstäbe setzt und Beachtung verlangt (BVerfGE 23, 127 (134)).
2. Schutzbereich
„Gewissen“ ist ein real erfahrbares seelisches Phänomen, dessen Forderungen, Mahnungen und Warnungen für den Menschen unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens darstellen; geschützt wird somit die Freiheit des Einzelnen, ernste sittliche Entscheidungen anhand der für ihn in einer bestimmten Lage als bindend und unbedingt verpflichtend erachteten Kategorien von „Gut“ und „Böse“ so vorzunehmen, dass er nicht in ernste Gewissensnöte gerät (BVerfGE 12, 45 (54 f.)). Bloße Grundsatzentscheidungen des täglichen Lebens aber, wie etwa die Entscheidung, sein Kind (nicht) auf eine schulische Förderstufe zu schicken, sind regelmäßig keine Gewissensentscheidungen (vgl. BVerfGE 34, 165 (195)). Demgegenüber kommt die Verweigerung der Teilnahme am ärztlichen Notfalldienst als Gewissensentscheidung in Betracht, wenn der Arzt sich plausibel auf seine objektive fachliche Nichteignung für den Einsatz im Notfalldienst beruft (vgl. BVerwGE 41, 261 (268)).
Obwohl das „Gewissen“ ebenso wie der „Glaube“ eine Orientierungsform menschlichen Denkens und Handelns darstellt und die Gewissensfreiheit insofern in engem Zusammenhang zur Glaubensfreiheit steht, geht die hM zu Recht davon aus, dass die Gewissensfreiheit gegenüber der Glaubensfreiheit ein eigenständiges Grundrecht darstellt (s. etwa DHS/Di Fabio Art. 4 Rn. 48; Dreier/Morlok Art. 4 Rn. 56; aA wohl HStR VII/v. Campenhausen § 157 Rn. 51 f.). Dafür spricht, dass trotz struktureller Parallelen das „Gewissen“ im Gegensatz zum „Glauben“ eine strikt individuelle Ausrichtung hat, sodass vor allem die über Art. 140 für die kollektive Glaubensfreiheit geltenden Sonderregelungen der Art. 136–139 und 141 WRV kaum sinnvoll auf den Schutz der Gewissensfreiheit übertragen werden können. Andererseits sind die Schutzreichweiten aufgrund der strukturellen Parallelen zwischen beiden Grundrechten weitgehend deckungsgleich: Auch bei der Gewissensfreiheit ist mithin nicht nur das „forum internum“, sondern auch das „forum externum“ geschützt (vgl. Rn. 4), also nicht nur die Freiheit, ein Gewissen zu haben, sondern auch diejenige, sein Handeln danach auszurichten und von der öffentlichen Gewalt nicht verpflichtet zu werden, gegen Gebote und Verbote des Gewissens zu handeln (vgl. BVerfGE 78, 391 (395)). Wie bei der Glaubensfreiheit (Rn. 7) trifft denjenigen, der sich auf eine Gewissensentscheidung beruft, eine entspr. Darlegungslast (BVerwGE 41, 261 (268); DHS/Di Fabio Art. 4 Rn. 80 f.; Dreier/Morlok Art. 4 Rn. 103).
Der personelle Schutzbereich der Gewissensfreiheit erstreckt sich auf alle Einzelpersonen. Auf Personenvereinigungen hingegen ist das Grundrecht seinem Wesen nach (vgl. Art. 19 III) nicht anwendbar (BVerfG [K] NJW 1990, 241).
3. Eingriffe und deren verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Ein Eingriff in die Gewissensfreiheit liegt vor, wenn der Staat ein in den Schutzbereich fallendes Verhalten regelt oder faktisch bzw. mittelbar nicht unerheblich beeinträchtigt (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 4 Rn. 48). Da die Gewissensfreiheit vorbehaltlos gewährleistet ist, können Eingriffe nur durch kollidierendes Verfassungsrecht (dazu Vor Art. 1 Rn. 53) gerechtfertigt werden (vgl. auch Rn. 16 f.).
So kann es etwa aufgrund der Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 III gerechtfertigt sein, dass bestimmte Studiengänge nicht unter Verzicht auf Tierversuche angeboten werden, es sei denn, der die Tierversuche aus Gewissensgründen Ablehnende vermag substantiiert darzulegen, dass gleichwertige alternative Lehrmethoden zur Verfügung stehen (vgl. BVerfG [K] NVwZ 2000, 909 f.; BVerwGE 105, 73 (79 ff.)). Der verfassungsrechtliche Belang der Funktionsfähigkeit des Berufsbeamtentums (vgl. Art. 33 V) kann es rechtfertigen, dass ein Postbeamter trotz Gewissenskonflikten Postsendungen der „Scientology“-Organisation zustellen muss, wenn der Beamte nicht zuvor vergeblich versucht hat, auf einen anderen Dienstposten umgesetzt zu werden (BVerwGE 113, 361 (363 f.)).
IV. Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung
Art. 4 III enthält ein eigenständiges, gegenüber der allgemeinen Gewissensfreiheit des Art. 4 I spezielleres Grundrecht (vgl. BVerfGE 23, 127 (132)), welches das Recht gewährleistet, aus Gewissensgründen (Rn. 21) den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern. Es ist nicht nur deutschen Staatsbürgern vorbehalten, sondern ein echtes Menschenrecht (DHS/Di Fabio Art. 4 Rn. 248; Stern/Sodan/Möstl/de Wall § 113 Rn. 8). Hierunter fallen auch der Waffendienst in Friedenszeiten, die Ausbildung an der Waffe sowie Tätigkeiten, welche die Waffenanwendung anderer unmittelbar unterstützen (vgl. BVerfGE 12, 45 (56); 69, 1 (56); 80, 354 (358)). Der BGH hat in einem Fall entschieden, dass die Auslieferung eines Ausländers zum Zwecke der Strafverfolgung unzulässig sei, „wenn sie dazu führt, daß der Verfolgte unmittelbar nach der Verbüßung der Strafe, noch ehe er das Land, an das er ausgeliefert wird, wieder verlassen kann, zum Wehrdienst mit der Waffe herangezogen wird und falls er aus Gewissensgründen diesen Dienst verweigert, Bestrafung zu gewärtigen hat“ (BGHSt 27, 191 (194 f.)). Keinesfalls gebietet Art. 4 III ein förmliches Anerkennungsverfahren des Ausländers in seinem Heimatland; daher kann es dahinstehen, ob der Schutz des Art. 4 III weiter reicht als vor der Heranziehung zu den deutschen Streitkräften (BVerwG NVwZ 2005, 464 (465)). Nach der Rspr. des BVerfG soll hingegen nicht die „situationsbedingte Kriegsdienstverweigerung“ umfasst sein (BVerfGE 12, 45 (56 ff.); aA ein Sondervotum in BVerfGE 69, 1 (57, 80 ff.); Dreier/Morlok Art. 4 Rn. 181). Ferner geht das BVerfG davon aus, dass Art. 4 III eine abschließende Regelung für die Gewissensfreiheit im Bereich der Wehrpflicht darstellt, sodass die gewissensbedingte Verweigerung des Ersatzdienstes (vgl. Art. 12a II), welche nicht unter Art. 4 III fällt, auch nicht an Art. 4 I zu messen sein soll (BVerfGE 19, 135 (138); 23, 127 (132); aA v. Münch/Kunig/Mager Art. 4 Rn. 80 mwN). Mit der zum 1.7.2011 erfolgten Aussetzung der Wehrpflicht durch das Wehrrechtsänderungsgesetz 2011 (Art. 12a Rn. 1 aE) relativiert sich auch die praktische Bedeutung des Art. 4 III.
Art. 4 III ist vorbehaltlos gewährleistet, denn Art. 4 III 2 enthält keine Beschränkungsmöglichkeit, sondern lediglich eine Ausgestaltungsbefugnis, etwa hinsichtlich des Anerkennungsverfahrens (BVerfGE 28, 243 (259)). Eingriffe können daher nur durch kollidierendes Verfassungsrecht (vgl. Vor Art. 1 Rn. 53) gerechtfertigt werden. Aus dem speziellen Schutzgehalt des Art. 4 III ergibt sich indes, dass das Verfassungsgut einer funktionsfähigen Landesverteidigung selbst in ernsten Konfliktlagen keine Eingriffe in Art. 4 III zu rechtfertigen vermag (BVerfGE 69, 1 (22 f.); vgl. auch das Sondervotum, BVerfGE 69, 1 (57, 65); einschränkend bezüglich noch nicht anerkannter Verweigerer BVerfGE 28, 243 (261 ff.); 69, 1 (54 ff.)); die Gewährleistung des Art. 4 III besteht nämlich gerade gegenüber dieser staatlichen Aufgabe.