Zur Startseite navigieren

Artikel 93 [Bundesverfassungsgericht, Zuständigkeit]

(1) Das Bundesverfassungsgericht entscheidet:

  • über die Auslegung dieses Grundgesetzes aus Anlaß von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch dieses Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind;
  • bei Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht oder Landesrecht mit diesem Grundgesetze oder die Vereinbarkeit von Landesrecht mit sonstigem Bundesrechte auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Viertels der Mitglieder des Bundestages;
  • bei Meinungsverschiedenheiten, ob ein Gesetz den Voraussetzungen des Artikels 72 Abs. 2 entspricht, auf Antrag des Bundesrates, einer Landesregierung oder der Volksvertretung eines Landes;
  • bei Meinungsverschiedenheiten über Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder, insbesondere bei der Ausführung von Bundesrecht durch die Länder und bei der Ausübung der Bundesaufsicht;
  • in anderen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten zwischen dem Bunde und den Ländern, zwischen verschiedenen Ländern oder innerhalb eines Landes, soweit nicht ein anderer Rechtsweg gegeben ist;
  • über Verfassungsbeschwerden, die von jedermann mit der Behauptung erhoben werden können, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Artikel 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 enthaltenen Rechte verletzt zu sein;
  • über Verfassungsbeschwerden von Gemeinden und Gemeindeverbänden wegen Verletzung des Rechts auf Selbstverwaltung nach Artikel 28 durch ein Gesetz, bei Landesgesetzen jedoch nur, soweit nicht Beschwerde beim Landesverfassungsgericht erhoben werden kann;
  • über Beschwerden von Vereinigungen gegen ihre Nichtanerkennung als Partei für die Wahl zum Bundestag;
  • in den übrigen in diesem Grundgesetze vorgesehenen Fällen.

(2) 1 Das Bundesverfassungsgericht entscheidet außerdem auf Antrag des Bundesrates, einer Landesregierung oder der Volksvertretung eines Landes, ob im Falle des Artikels 72 Abs. 4 die Erforderlichkeit für eine bundesgesetzliche Regelung nach Artikel 72 Abs. 2 nicht mehr besteht oder Bundesrecht in den Fällen des Artikels 125a Abs. 2 Satz 1 nicht mehr erlassen werden könnte. 2 Die Feststellung, dass die Erforderlichkeit entfallen ist oder Bundesrecht nicht mehr erlassen werden könnte, ersetzt ein Bundesgesetz nach Artikel 72 Abs. 4 oder nach Artikel 125a Abs. 2 Satz 2. 3 Der Antrag nach Satz 1 ist nur zulässig, wenn eine Gesetzesvorlage nach Artikel 72 Abs. 4 oder nach Artikel 125a Abs. 2 Satz 2 im Bundestag abgelehnt oder über sie nicht innerhalb eines Jahres beraten und Beschluss gefasst oder wenn eine entsprechende Gesetzesvorlage im Bundesrat abgelehnt worden ist.

(3) Das Bundesverfassungsgericht wird ferner in den ihm sonst durch Bundesgesetz zugewiesenen Fällen tätig.

I. Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts

1. Gericht

Das GG gestaltet das BVerfG als Gericht aus, dem die Ausübung rechtsprechender Gewalt übertragen ist (BVerfGE 104, 151 (196)). Das BVerfG darf nur auf Antrag tätig werden und entscheidet in einem gerichtsförmigen Verfahren. Die Bundesverfassungsrichter sind gem. Art. 97 I sachlich und persönlich unabhängig und unterliegen den grundgesetzlichen Anforderungen des gesetzlichen Richters gem. Art. 101 I 2. Als Gericht ist es an die ihm zugewiesenen Zuständigkeiten gebunden und darf sich selbst keine neuen Zuständigkeiten zulegen (BVerfGE 1, 396 (408)) oder die gegebenen Zuständigkeiten im Wege der Analogie ausweiten (BVerfGE 2, 143 (150); 117, 277 (376)). Art. 93 I, II benennt die dem BVerfG zugewiesenen Verfahrensarten, begründet seine Zuständigkeit und eröffnet den Rechtsweg zum BVerfG. Art. 93 III normiert eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes, den Rechtsweg zum BVerfG in anderen Fällen zu eröffnen.

2. Hüter der Verfassung

Das BVerfG ist „Hüter der Verfassung“ (BVerfGE 1, 184 (195); 40, 88 (93)). Mit der Entscheidung über seine Einrichtung hat der Verfassunggeber die materielle Verfassungsbindung aller staatlichen Gewalt (Art. 1 III, Art. 20 III) mit einer gerichtlichen Überprüfung am Maßstab der Verfassung abgesichert. Das BVerfG ist dabei nicht alleiniger Interpret der Verfassung, es besitzt kein Auslegungsmonopol, wohl aber obliegt ihm die letztverbindliche Verfassungsinterpretation. Das BVerfG entscheidet mit letzter Verbindlichkeit über alle Fragen der Auslegung und der Anwendbarkeit des Verfassungsrechts und kann an diesem Maßstab die Handlungen aller drei Staatsgewalten überprüfen und im Falle der Verfassungswidrigkeit aufheben oder für nichtig erklären.

Das BVerfG entscheidet ausschließlich am Maßstab des Rechts. Da das Verfassungsrecht zutreffend als „Recht für das Politische“ bezeichnet wird (Stern I, 16), ist es vielfach unvermeidlich, dass Entscheidungen in die Politik hineinwirken und weitreichende politische Folgen haben. Dabei ist eine Tendenz zu beobachten, das BVerfG stärker in die Tagespolitik hineinzuziehen und über Fragen entscheiden zu lassen, die hochpolitisiert oder unpopulär sind und die die Politik nicht abschließend klären kann oder will. Auch bei solchen Entscheidungen darf das BVerfG die Grenzen der rechtsprechenden Gewalt nicht überschreiten und selbst Politik betreiben. Die gebotene richterliche Zurückhaltung (judicial self-restraint) wird vom BVerfG selbst betont (BVerfGE 36, 1 (14)). Ggf. muss das Gericht auf die von der Verfassung geschaffenen politischen Gestaltungs- und Einschätzungsspielräume der Legislative oder Exekutive, etwa bei außen-, bei wirtschaftspolitischen oder bei Planungsentscheidungen, Rücksicht nehmen (vgl. BVerfGE 55, 349 (364 ff.); 84, 90 (127 f.); 94, 115 (143); 95, 267 (309); 115, 276 (309)). Das BVerfG darf sich aber auch der Entscheidung über Streitfragen, die zulässigerweise an das Gericht herangetragen werden, nicht unter dem Hinweis auf die politischen Implikationen entziehen (MKS/Voßkuhle Art. 93 Rn. 22). Die aus dem US- amerikanischen Verfassungsprozessrecht bekannte „political question-doctrine“ ist dem deutschen Verfassungsrecht fremd (Benda/Klein Rn. 29; Sachs/Detterbeck Art. 93 Rn. 11). Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zur richterlichen Zurückhaltung erscheint es bedenklich, wenn das BVerfG anlässlich von Entscheidungen, in welchen es die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes feststellt, dem Gesetzgeber einen verfassungskonformen Gesetzesinhalt gleichsam in die Feder diktiert (vgl. etwa BVerfGE 85, 264 (288 ff.); 121, 317 (376 ff.)).

II. Die Verfahren gemäß Art. 93 I

1. Organstreitverfahren des Bundes (Nr. 1)

Art. 93 I Nr. 1 weist dem BVerfG die Zuständigkeit für Organstreitverfahren zu. Dieses Verfahren wird in §§ 63 ff. BVerfGG als kontradiktorisches Verfahren ausgestaltet (BVerfGE 140, 1 (21)). Das BVerfG entscheidet nach dem Wortlaut des Art. 93 I Nr. 1 über die Auslegung des GG aus Anlass von Streitigkeiten über Rechte und Pflichten der am Verfahren Beteiligten. Das Organstreitverfahren dient der Abgrenzung der Kompetenzen von Verfassungsorganen oder ihren Teilen im Verhältnis zueinander (BVerfGE 162, 207 (226)), nicht einer allg. Kontrolle der objektiven Verfassungsmäßigkeit eines bestimmten Organhandelns (BVerfGE 104, 151 (193 f.)).

a) Zulässigkeit

Im Einzelnen ergeben sich aus Art. 93 I Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5, §§ 63 ff. BVerfGG folgende Zulässigkeitsvoraussetzungen:

aa) Antragsteller und Antragsgegner (Parteifähigkeit)

Fähig, Partei im Organstreitverfahren zu sein, sind dem Wortlaut des Art. 93 I Nr. 1 nach die obersten Bundesorgane oder andere Beteiligte, die durch das GG oder die GeschO eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind. § 63 BVerfGG spricht die Parteifähigkeit hingegen nur dem BPräsidenten, dem BT, dem BR, der BReg und den durch das GG oder die GeschO des BTags oder des BRats zugewiesenen Teilen dieser Organe zu. Aus dem Charakter des Organstreitverfahrens als Verfassungsstreit zwischen Faktoren des Verfassungslebens folgt, dass nur solche (Verfassungs-)Organe parteifähig sind, die von der Verfassung in Existenz, Status und wesentlichen Kompetenzen konstituiert werden, dem Staat durch Existenz und Funktion seine spezifische Gestalt verleihen und durch ihre Tätigkeit an der obersten Staatsleitung Anteil haben (BVerfGE 143, 1 (9)). § 63 BVerfGG ist insofern enger als Art. 93 I Nr. 1 GG, als er nur bestimmten Bundesorganen die Parteifähigkeit zuspricht. Weiter als Art. 93 I Nr. 1 ist er dagegen insofern, als er die Parteifähigkeit auch auf Organteile erstreckt. Die Erweiterung auf Organteile ist als Ausgestaltung der Antragsbefugnis durch einfaches Bundesrecht gem. Art. 93 III, 94 II verfassungsrechtlich unbedenklich (BVerfGE 1, 372 (378)). Die Verkürzung der grundgesetzlich zugewiesenen Parteifähigkeit durch das einfache Bundesrecht steht hingegen nicht mit der Verfassung im Einklang. Die Parteifähigkeit von in § 63 BVerfGG nicht genannten Verfassungsorganen (BVersammlung, GA) oder Organteilen ergibt sich deshalb direkt aus Art. 93 I Nr. 1 (für die BVersammlung BVerfGE 136, 277 (299)). Ob der BRH und die Bundesbank oberste Bundesorgane sind, ist fraglich. Da ihnen keine staatsleitende Funktion zukommt, ist ihre Parteifähigkeit zu verneinen (Benda/Klein Rn. 1034; aA BK/Burkiczak Art. 93 Rn. 241). Das Staatsvolk, welches nach Art. 20 II 2 Staatsgewalt ausübt, kann zwar als Verfassungsorgan angesehen werden, ist aber nicht parteifähig (BVerfGE 13, 54 (85)). Entsprechendes gilt für das BVerfG, das nicht zugleich zur Entscheidung berufene Instanz und Partei in einem Verfahren sein kann (BK/Burkiczak Art. 93 Rn. 253).

Die Parteifähigkeit von anderen Beteiligten (Art. 93 I Nr. 1) und von Organteilen (§ 63 BVerfGG) setzt jew. voraus, dass sie die Verletzung der ihnen durch die Verfassung zugewiesenen eigenen Rechte geltend machen. Mit eigenen Rechten ausgestattete andere Beteiligte sind etwa politische Parteien, deren eigene Rechte sich aus Art. 21 ergeben (BVerfGE 109, 275 (278); 140, 1 (23); 148, 11 (19)), die BTags-Abgeordneten, die durch Art. 38 I 2 mit eigenen Rechten ausgestattet sind (BVerfGE 114, 121 (146); 124, 161 (184); 137, 185 (223)), und der BTags-Präsident, dem durch Art. 40 II eigene Rechte zugewiesen sind (BVerfGE 60, 374 (378)). Organteile mit eigenen Rechten sind zB BTags-Fraktionen (BVerfGE 100, 266 (268); 124, 161 (187); 142, 25 (47)), der BKanzler (BVerfGE 162, 207 (224)) und die BMinister (BVerfGE 148, 11 (19 f.)). Ob der Wehrbeauftragte des BTags sonstiger Beteiligter sein kann, ist umstritten. Zwar ist er gemäß Art. 45b nur Hilfsorgan des BTags, verfügt aber über eigene Rechte. Dies spricht dafür, ihn in einem Organstreitverfahren als parteifähig anzuerkennen (v. Münch/Kunig/Kämmerer/Kerkemeyer Art. 45b Rn. 30). Übt ein Organteil ein durch die Verfassung begründetes Recht für sein Organ aus, führt es den Organstreit in Prozessstandschaft für das Organ (BVerfGE 124, 161 (187); 142, 123 (182)). Dies ist selbst dann möglich, wenn etwa eine Fraktion die Rechte des BTags gegenüber diesem selbst geltend macht (BVerfGE 123, 267 (338 f.); 142, 123 (182)). Die G 10-Kommission des BTags ist im Organstreitverfahren nicht parteifähig, da sie weder durch das GG noch durch die GeschO eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet ist (BVerfGE 143, 1 (10)). Landesverfassungsorgane sind nicht parteifähig (BVerfGE 109, 275 (278); 136, 1 (7 ff.)).

bb) Antragsgegenstand

Antragsgegenstand des Organstreitverfahrens ist gem. § 64 I BVerfGG die Frage, ob eine rechtserhebliche Maßnahme oder ein Unterlassen des Antragsgegners die verfassungsmäßige Kompetenzausübung des Antragstellers ungerechtfertigt beeinträchtigt (BVerfGE 68, 1 (72); 118, 277 (317)). Insofern konkretisiert § 64 I BVerfGG Art. 93 I Nr. 1. Der Begriff der Maßnahme ist weit auszulegen. Von ihm sind neben Rechtsakten auch Realakte erfasst (BVerfGE 44, 125 (137 f.); 140, 115 (139)). Auch Äußerungen und Veröffentlichungen können taugliche Gegenstände eines Organstreitverfahrens sein, da sie grundsätzlich geeignet sind, in die Rechtsstellung des Antragstellers einzugreifen (BVerfGE 154, 320 (331); 168, 207 (225)). Eine bloße Meinungsverschiedenheit kann hingegen nicht Gegenstand eines Organstreitverfahrens sein (BVerfGE 2, 143 (155)).

cc) Antragsbefugnis

Das Erfordernis der Antragsbefugnis wird durch § 64 I BVerfGG konkretisiert. Im Organstreitverfahren kann der Antragsteller jedes Recht geltend machen, das mit seinem verfassungsrechtlichen Status verbunden ist und das das verfassungsrechtliche Rechtsverhältnis der Verfahrensbeteiligten zueinander betrifft (BVerfGE 24, 184 (194)). Soweit die Möglichkeit der Verletzung eines solchen eigenen Rechts besteht, ist die Antragsbefugnis gegeben (BVerfGE 114, 121 (146); 138, 256 (259)). Vorausgesetzt ist, dass die Maßnahme oder das Unterlassen rechtserheblich ist oder sich zu einem die Rechtsstellung des Antragstellers beeinträchtigenden, rechtserheblichen Verhalten verdichten kann (BVerfGE 60, 374 (381)).

dd) Rechtsschutzbedürfnis

Die Zulässigkeit eines Organstreitverfahrens setzt das Vorliegen eines Rechtsschutzbedürfnisses des Antragstellers voraus (BVerfGE 140, 115 (146); 142, 25 (52)). Es wird idR durch die Antragsbefugnis indiziert. Das Rechtsschutzbedürfnis entfällt nicht allein dadurch, dass die beanstandete Rechtsverletzung in der Vergangenheit liegt und bereits abgeschlossen ist (BVerfGE 148, 11 (22)). Es ist gegeben, wenn und solange über die behauptete Rechtsverletzung zwischen den Beteiligten Streit besteht (BVerfGE 147, 31 (37); 152, 35 (46); 162, 207 (226)). Das Rechtsschutzbedürfnis kann aber zu verneinen sein, wenn der Antragsteller selbst die Voraussetzungen für die angegriffene Maßnahme (mit-)geschaffen hat (BVerfGE 114, 121 (147)).

ee) Form und Frist

Wie bei allen Verfahren vor dem BVerfG muss der Antrag der Form des § 23 I BVerfGG genügen. Darüber hinaus muss er die Bestimmung des GG benennen, gegen die verstoßen wird (§ 64 II BVerfGG). Die Antragsfrist des § 64 III BVerfGG beträgt sechs Monate und ist eine Ausschlussfrist (BVerfGE 71, 299 (304)). Die Frist beginnt in dem Zeitpunkt, in dem dem Antragsteller die Maßnahme oder das Unterlassen bekannt wird, bei Gesetzen mit ihrer Verkündung (BVerfGE 103, 164 (169)).

ff) Beitritt

Gem. § 65 I BVerfGG können andere Verfassungsorgane dem Streit beitreten, wenn die Entscheidung auch für die Abgrenzung ihrer Kompetenzen von Bedeutung ist. Der Beitretende muss eine verfahrensrelevante, grundgesetzliche Kompetenz geltend machen und kann nur auf Seiten der Partei beitreten, deren Interessen den seinen entsprechen (BVerfGE 130, 318 (341)).

gg) Antragsrücknahme und Entscheidungsverzicht

Die Antragsrücknahme und der Entscheidungsverzicht sind für das Organstreitverfahren gesetzlich nicht geregelt. Die Rücknahme des Antrags im Organstreitverfahren ist grds. mit Zustimmung des BVerfG möglich (BVerfGE 24, 299 (300)). Einen Entscheidungsverzicht der Parteien hat das BVerfG mit der Begründung zugelassen, dass es sich bei dem Organstreitverfahren um ein kontradiktorisches Verfahren handelt. Ob es bei einem Entscheidungsverzicht noch zur Entscheidung befugt ist, hat das Gericht hingegen ausdrücklich offengelassen (BVerfGE 83, 175 (181)). Für eine unterschiedliche Behandlung der beiden Formen der Prozessbeendigung ist jedoch kein Grund ersichtlich.

b) Begründetheit

Das Organstreitverfahren ist begründet, wenn die angegriffene Maßnahme oder das angegriffene Unterlassen gegen die geltend gemachten verfassungsgem. Rechte des Antragstellers verstößt. Das BVerfG entscheidet durch Feststellungsurteil.

2. Abstrakte Normenkontrolle (Nr. 2, 2a)

Art. 93 I Nr. 2 und 2a weisen dem BVerfG die Zuständigkeit für die abstrakte Normenkontrolle zu. Das Verfahren wird in §§ 76 ff. BVerfGG ausgestaltet. Das BVerfG entscheidet im abstrakten Normenkontrollverfahren nach Art. 93 I Nr. 2 bei Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln über die Vereinbarkeit einer Norm mit höherrangigem Bundesrecht und dem GG. Es handelt sich um ein objektives Verfahren, zu dem der Antragsteller Anlass gegeben haben muss (BVerfGE 1, 208 (219)). Das Verfahren des Art. 93 I Nr. 2a, in dem das BVerfG über die Frage entscheidet, ob ein Gesetz den Anforderungen des Art. 72 II entspricht, wurde erst im Jahre 1994 mit der Neufassung des Art. 72 II eingeführt (BGBl. 1994 I 3146). Es soll die Position der Länder stärken.

a) Zulässigkeit

Im Einzelnen ergeben sich aus Art. 93 I Nr. 2 und Nr. 2a GG, § 13 Nr. 6 und Nr. 6a, §§ 76 ff. BVerfGG folgende Zulässigkeitsvoraussetzungen:

aa) Antragsteller

Im Verfahren nach Art. 93 I Nr. 2 sind die BReg, eine Landesregierung oder 1/4 der Mitglieder des BTags antragsberechtigt. Im Verfahren nach Art. 93 I Nr. 2a sind der BR, eine Landesregierung oder die Volksvertretung eines Landes antragsberechtigt. § 76 BVerfGG wiederholt insofern den Wortlaut von Art. 93 I Nr. 2 und Nr. 2a. Das ursprüngliche Quorum für die Antragsberechtigung von 1/3 der Mitglieder des BTags ist auf 1/4 gesenkt worden (BGBl. 2008 I 1926), um einen Gleichlauf mit dem Quorum für die Erhebung einer Subsidiaritätsnichtigkeitsklage des BTags vor dem EuGH gem. Art. 23 Ia 2 (Art. 23 Rn. 27a) herzustellen. Die Aufzählungen der Antragsberechtigten in Art. 93 I Nr. 2, 2a und § 76 BVerfGG sind abschließend, und eine erweiternde Auslegung ist unzulässig (BVerfGE 1, 208 (219)). Der Antragsteller des abstrakten Normenkontrollverfahrens muss nicht in seinen Rechten betroffen sein. Die abstrakte Normenkontrolle ist kein kontradiktorisches Verfahren; es kennt keinen Antragsgegner (BVerfGE 1, 208 (219 f.)).

bb) Antragsgegenstand

Antragsgegenstand der abstrakten Normenkontrolle ist Bundes- oder Landesrecht, worunter im Fall des Art. 93 I Nr. 2 neben Gesetzen auch RVOen des Bundes (BVerfGE 106, 1 (12)) oder landesverfassungsrechtliche Regeln (BVerfGE 103, 111 (124)) fallen. Im Verfahren nach Art. 93 I Nr. 2a kommen nur förmliche Bundesgesetze als Antragsgegenstand in Betracht. Unerheblich ist, ob es sich um vor- oder nachkonstitutionelles Recht handelt (BVerfGE 103, 111 (124)). Ändert sich die angegriffene Norm im Laufe des Verfahrens, wird die neue Norm nur dann zum Antragsgegenstand, wenn sie inhaltlich im Wesentlichen mit der alten Norm übereinstimmt. Andernfalls bleibt die alte Norm der Antragsgegenstand (BVerfGE 110, 33 (44 f.)). Angegriffen werden können grds. nur Normen, die bereits verkündet worden sind. Eine Ausnahme gilt bei Zustimmungsgesetzen zu völkerrechtlichen Verträgen gem. Art. 59 II. Um zu verhindern, dass Verträge mit verfassungswidrigen Inhalten verbindlich werden, muss eine vorbeugende Kontrolle zulässig sein. Das BVerfG lässt deshalb einen Normenkontrollantrag schon zu, wenn das Gesetzgebungsverfahren so weit abgeschlossen ist, dass das Gesetz nur noch der Ausfertigung durch den BPräsidenten und der Verkündung bedarf (BVerfGE 1, 396 (413)). Außer Kraft getretene Normen sind nur dann ein zulässiger Antragsgegenstand, wenn von ihnen noch Rechtswirkung ausgeht.

cc) Antragsbefugnis

Gem. Art. 93 I Nr. 2 müssen Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel über die Vereinbarkeit einer Norm mit höherrangigem Bundesrecht bestehen, gem. Art. 93 I Nr. 2a müssen Meinungsverschiedenheiten über die Erfüllung der Voraussetzungen des Art. 72 II bestehen. Diese Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel dürfen nicht nur theoretischer Art sein (BVerfGE 12, 205 (221)). Die Antragsbefugnis setzt ein besonderes objektives Klarstellungsinteresse des Antragstellers an der Feststellung der Gültigkeit der Norm voraus (BVerfGE 113, 167 (193)). In den Fällen des § 76 I Nr. 1 BVerfGG ist es gegeben, wenn der Antragsteller von der Unvereinbarkeit der Norm mit höherrangigem Recht überzeugt ist. In den Fällen des § 76 I Nr. 2 BVerfGG besteht es, wenn die Norm von den dafür zuständigen Stellen wegen Unvereinbarkeit mit dem GG oder sonstigem Bundesrecht nicht angewendet, nicht vollzogen oder missachtet wurde und ihre Gültigkeit damit in einer Weise in Frage gestellt wurde, die die praktische Gültigkeit beeinträchtigt (BVerfGE 106, 244 (251)). Das objektive Klarstellungsinteresse entfällt, wenn von der streitgegenständlichen Norm unter keinem denkbaren Gesichtspunkt mehr Rechtswirkungen ausgehen können (BVerfGE 150, 1 (77 f.)).

Ein individuelles Rechtsschutzinteresse ist nicht erforderlich (BVerfGE 103, 111 (124)). Aufgrund des objektiven Charakters des Verfahrens muss der Antragsteller keine Beeinträchtigung eigener Befugnisse geltend machen. Die Antragsbefugnis ist deshalb unabhängig davon, ob der Antragsteller dem Erlass der Norm zugestimmt und damit bei der nun geltenden Gesetzesverletzung mitgewirkt hat. Der objektive Charakter des abstrakten Normenkontrollverfahrens macht den Antragsteller zum Garanten der verfassungsgemäßen Rechtsordnung. Er muss sich nicht schon im Abstimmungsverhalten bei Erlass der Norm darüber schlüssig sein, ob er später einen abstrakten Normenkontrollantrag stellt (BVerfGE 101, 158 (213)). Der objektive Charakter des Verfahrens lässt es auch zu, dass eine Landesregierung die Verletzung höherrangigen Rechts durch das Recht eines anderen Landes geltend macht (BVerfGE 83, 37 (49)).

dd) Form und Frist

Ein Normenkontrollantrag muss gem. § 23 I BVerfGG schriftlich und begründet eingereicht werden. Er ist an keine Frist gebunden, denn eine Entscheidung des BVerfG dient dem Rechtsfrieden (BVerfGE 79, 311 (326 f.)).

b) Begründetheit

Ein Antrag im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle ist begründet, wenn die angegriffene Norm gegen höherrangiges Bundesrecht oder das GG verstößt. Handelt es sich bei der angegriffenen Norm um Bundesrecht, wird ihre formelle und materielle Verfassungsmäßigkeit geprüft. Handelt es sich um Landesrecht, wird neben der Vereinbarkeit mit dem GG auch die Vereinbarkeit mit sonstigem Bundesrecht geprüft. Ist das BVerfG von der Unvereinbarkeit der angegriffenen Norm mit höherrangigem Recht überzeugt, erklärt es die Norm gem. § 78 BVerfGG für nichtig. Nicht überprüft werden kann die Vereinbarkeit einer innerstaatlichen Norm mit den Bestimmungen des Europäischen Unionsrechts (BVerfGE 136, 69 (91)).

3. Verfassungsrechtlicher Bund-Länder-Streit (Nr. 3)

Art. 93 I Nr. 3 weist dem BVerfG die Zuständigkeit für den verfassungsrechtlichen Bund-Länder-Streit zu. Das Verfahren wird in § 68 ff. BVerfGG konkretisiert. § 69 BVerfGG verweist dabei auf die Vorschriften zum Organstreitverfahren (§§ 64–67 BVerfGG) und erklärt sie für entspr. anwendbar. Der Bund-Länder-Streit ist ein kontradiktorisches Verfahren. Er kann neben dem Verfahren nach Art. 93 I Nr. 2 Anwendung finden (BVerfGE 1, 14 (30)). Sind die Voraussetzungen beider Verfahren erfüllt, können sie miteinander verbunden werden (BVerfGE 12, 205 (223)).

a) Zulässigkeit

Im Einzelnen ergeben sich aus Art. 93 I Nr. 3 GG, § 13 Nr. 7, §§ 68 ff. iVm §§ 64–67 BVerfGG folgende Zulässigkeitsvoraussetzungen:

aa) Parteifähigkeit

Art. 93 I Nr. 3 regelt die Parteifähigkeit nicht ausdrücklich. Nach § 68 BVerfGG sind Antragsteller und -gegner die BReg für den Bund oder eine Landesregierung für ein Land. Die Bestimmung ist so zu verstehen, dass der Bund und die Länder Prozessparteien sind und jew. durch ihre Regierung vertreten werden (BVerfGE 129, 108 (115); Benda/Klein Rn. 1103 f.). War das BVerfG hiervon in seiner Rechtsprechungspraxis immer stillschweigend ausgegangen, da es regelmäßig den Bund oder ein Land als Prozesspartei genannt hatte (vgl. BVerfGE 8, 122 (124); 41, 291 (292); 92, 203 (205)), hat es diese Auffassung nunmehr ausdrücklich bekräftigt (BVerfGE 129, 108 (115 ff.)). Weder ein Landtag noch ein Landtagspräsident kommen als Antragsberechtigte in Betracht (BVerfGE 129, 108 (115); BK/Burkiczak Art. 93 Rn. 369). Ebenso schließt § 68 BVerfGG aus, dass andere Verfassungsorgane als die Landesregierung Rechte des jeweiligen Landes im Wege der Prozessstandschaft geltend machen (BVerfGE 129, 108 (118 f.)). Der Antrag der Bundes- oder einer Landesregierung setzt einen Kabinettsbeschluss voraus (BVerfGE 6, 309 (323 f.)).

bb) Antragsgegenstand

Nach § 69 iVm § 64 I BVerfGG kann Antragsgegenstand nur eine Maßnahme oder ein Unterlassen des Antragsgegners sein. Dabei müssen zwischen den Parteien Rechte und Pflichten str. sein, die sich aus einem zwischen ihnen bestehenden verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis zueinander ergeben und die sie gegenseitig achten müssen (BVerfGE 20, 18 (23 f.); 103, 81 (86 f.)).

cc) Vorverfahren

Aus § 70 BVerfGG folgt, dass in Fällen der Bundesaufsicht nach Art. 84 bei einem Streit über die ordnungsgemäße Ausführung eines Bundesgesetzes erst der Beschluss des BRats gem. Art. 84 IV (Art. 84 Rn. 17 f.) vor dem BVerfG in einem Bund-Länder-Streitverfahren angegriffen werden kann.

dd) Antragsbefugnis

Die Antragsbefugnis gem. § 69 iVm § 64 I BVerfGG setzt voraus, dass sich aus dem Sachvortrag des Antragstellers ergibt, dass er durch die streitgegenständliche Maßnahme oder das streitgegenständliche Unterlassen möglicherweise in seinen verfassungsrechtlichen Rechten oder Pflichten unmittelbar verletzt oder gefährdet sein kann (BVerfGE 116, 271 (298)).

ee) Rechtsschutzinteresse

Das Rechtsschutzinteresse ist regelmäßig indiziert. Es entfällt nicht deshalb, weil die behauptete Rechtsverletzung in der Vergangenheit liegt und abgeschlossen ist (BVerfGE 1, 372 (379)). Es kann jedoch fehlen, wenn eine Wiederholungsgefahr vollständig ausgeschlossen ist (SHH/Hopfauf Art. 93 Rn. 372).

ff) Form und Frist

Ein Antrag im Organstreitverfahren muss die Form des § 23 I BVerfGG wahren und gem. § 69 iVm § 64 II BVerfGG die verletzte grundgesetzliche Bestimmung bezeichnen. Die Antragsfrist beträgt gem. § 69 iVm § 64 III BVerfGG sechs Monate und ist eine Ausschlussfrist. Bei Anfechtung eines Beschlusses des BRats nach Art. 84 IV beträgt die Frist gem. § 70 BVerfGG einen Monat ab Beschlussfassung.

gg) Beitritt

Dem Verfahren können gem. § 69 iVm § 65 I BVerfGG andere Antragsberechtigte beitreten. Ein anderes Land kann einem Bund-Länder-Streit allerdings nur auf Seiten des am Streit beteiligten Landes, nicht auf Seiten des Bundes beitreten (BVerfGE 12, 308 (309 f.)).

hh) Antragsrücknahme

Nach der Rspr. des BVerfG bedarf die Rücknahme des Antrags nach Art. 93 I Nr. 3 jedenfalls vor der mündlichen Verhandlung nicht der Zustimmung des Antragsgegners oder des Gerichts (BVerfGE 85, 164 (165)).

b) Begründetheit

Der Antrag nach Art. 93 I Nr. 3 ist gem. § 69 iVm § 67 BVerfGG begründet, wenn die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners gegen eine Bestimmung des GG verstößt. Das BVerfG entscheidet durch Feststellungsurteil.

4. Nichtverfassungsrechtliche Bund-Länder-Streitverfahren (Nr. 4)

Art. 93 I Nr. 4 weist dem BVerfG die Zuständigkeit für nichtverfassungsrechtliche Bund-Länder-Streitverfahren zu, wobei zwischen drei Varianten unterschieden werden muss. Die Verfahren werden in §§ 71 ff. BVerfGG ausgestaltet. Verfahren nach Art. 93 I Nr. 4 sind subsidiär, da das BVerfG nur dann zuständig ist, wenn kein anderer Rechtsweg eröffnet ist. Art. 93 I Nr. 4 erfasst Streitigkeiten zwischen dem Bund und einem Land, zwischen Ländern und innerhalb eines Landes.

a) Zulässigkeit

Im Einzelnen ergeben sich aus Art. 93 I Nr. 4 GG, § 13 Nr. 8, §§ 71 ff. BVerfGG folgende Zulässigkeitsvoraussetzungen:

aa) Antragsteller und Antragsgegner

(1) Bund-Länder-Streit. Im nichtverfassungsrechtlichen Streitverfahren zwischen Bund und Land (Art. 93 I Nr. 4 Var. 1) können ausschließlich Bund und Länder Parteien des Verfahrens sein. Sie werden dabei durch ihre Regierungen vertreten (§ 71 I Nr. 1 BVerfGG). (2) Länderstreit. Im Länderstreit (Art. 93 I Nr. 4 Var. 2) besitzen ausschließlich die Länder Parteifähigkeit. Der Antrag kann für sie nur von ihren Regierungen gestellt werden (§ 71 I Nr. 2 BVerfGG). Auch ein untergegangenes Land ist antragsbefugt, soweit es Rechte geltend macht, die in unmittelbarem Zusammenhang mit seinem Untergang stehen (BVerfGE 3, 267 (279); 34, 216 (226 f.)). (3) Landesstreitigkeiten. Bei internen Landesstreitigkeiten (Art. 93 I Nr. 4 Var. 3) sind die obersten Landesorgane und die in der Landesverfassung oder der GeschO eines obersten Landesorgans mit eigenen Rechten ausgestatteten Teile dieser Organe fähig, Antragsteller oder Antragsgegner zu sein (§ 71 I Nr. 3 BVerfGG).

bb) Streitgegenstand

(1) Im nichtverfassungsrechtlichen Bund-Länder-Streit ist Streitgegenstand eine andere öffentlich-rechtliche Streitigkeit, über die das BVerfG nicht im Verfahren nach Art. 93 I Nr. 3 entscheiden kann. Es geht daher um die Verteidigung sonstiger, im einfachen Recht wurzelnder Rechtspositionen (SHH/Hopfauf Art. 93 Rn. 380; Dreier/Wieland Art. 93 Rn. 79; aA BVerfGE 31, 371 (377); MKS/Voßkuhle Art. 93 Rn. 154). (2) Im Länderstreit ist Streitgegenstand eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit zwischen den Ländern. Hierunter fallen auch verfassungsrechtliche Streitigkeiten, da hierüber im Verfahren nach Art. 93 I Nr. 3 nicht entschieden werden kann. (3) In Landesstreitigkeiten ist Streitgegenstand eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit von Landesverfassungsorganen oder parteifähigen Organteilen. Maßstab ist das jew. Landesverfassungsrecht. Hierdurch soll ein lückenloser Schutz der am Verfassungsleben eines Landes Beteiligten gegen Verletzungen ihrer Rechte aus der Landesverfassung gewährleistet werden (BVerfGE 102, 224 (231)). Ein anderer Rechtsweg, der ein Verfahren nach Art. 93 I Nr. 4 unzulässig macht, ist auch gegeben, wenn ein Verfahren nach Art. 99 eröffnet ist oder wenn eine Streitigkeit einem LVerfG zur Entscheidung zugewiesen ist (BVerfGE 102, 224 (231)).

cc) Antragsbefugnis

In allen Verfahren nach Art. 93 I Nr. 4 muss der Antragsteller die Möglichkeit einer Verletzung oder unmittelbaren Gefährdung seiner eigenen Rechte schlüssig darlegen (BVerfGE 91, 246 (249 f.)).

dd) Form und Frist

Der Antrag muss den Formerfordernissen des § 23 I BVerfGG genügen. Die Antragsfrist beträgt gem. §§ 71 II, 64 III BVerfGG sechs Monate, nachdem die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung dem Antragsteller bekannt geworden ist.

b) Begründetheit

Der Antrag ist in allen drei Verfahrensarten des Art. 93 I Nr. 4 begründet, soweit eine Maßnahme oder ein Unterlassen des Antragsgegners ein Recht des Antragstellers verletzt. Das BVerfG kann in seiner Entscheidung die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der Maßnahme feststellen, die Verpflichtung des Antragsgegners aussprechen, eine Maßnahme zu unterlassen, rückgängig zu machen, durchzuführen oder zu dulden, oder den Antragsgegner verpflichten, eine Leistung zu erbringen (§ 72 I BVerfGG). In Landesstreitigkeiten gem. § 71 I Nr. 3 BVerfGG stellt das BVerfG fest, ob die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung gegen eine Bestimmung der Landesverfassung verstößt (§ 72 II BVerfGG).

5. Individualverfassungsbeschwerde (Nr. 4a)

Art. 93 I Nr. 4a weist dem BVerfG die Zuständigkeit zur Entscheidung von Individualverfassungsbeschwerden zu. Das Verfahren wird in §§ 90 ff. BVerfGG konkretisiert. Die Individualverfassungsbeschwerde dient dem Rechtsschutz des Einzelnen und der Durchsetzung seiner Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte. Die Verfassungsbeschwerde ist kein Rechtsmittel, sondern ein außerordentlicher Rechtsbehelf, der keinen Suspensiveffekt hat (BVerfGE 107, 395 (413 f.)).

Die WRV enthielt zwar einen Grundrechtskatalog, kannte aber kein besonderes Verfahren zur Durchsetzung dieser subjektiven Rechte. Auch im GG war die Verfassungsbeschwerde zunächst nicht vorgesehen, da der Parlamentarische Rat sich gegen die Einführung dieses Verfahrens ausgesprochen hatte. Das Verfahren wurde aber einfachgesetzlich in §§ 90 ff. BVerfGG geregelt, wozu der Gesetzgeber gem. Art. 93 II aF (heute Art. 93 III) ermächtigt war. Im Jahre 1969 wurde dann die Individualverfassungsbeschwerde in den Katalog des Art. 93 aufgenommen (BGBl. 1969 I 97).

a) Zulässigkeit

Aus Art. 93 I Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a, §§ 90 ff. BVerfGG ergeben sich im Einzelnen folgende Zulässigkeitsvoraussetzungen:

aa) Beschwerdeberechtigung

Gem. Art. 93 I Nr. 4a, § 90 I BVerfGG kann jedermann Verfassungsbeschwerde erheben, soweit er Träger von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten, also grundrechtsfähig ist (BVerfGE 115, 205 (227)). Dies sind grds. alle natürlichen Personen von der Geburt bis zu ihrem Tod (Vor Art. 1 Rn. 34 ff.). Auch inländische juristische Personen können gem. Art. 19 III Träger von Grundrechten und damit beschwerdeberechtigt sein, soweit die geltend gemachten Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte ihrem Wesen nach auf sie anwendbar sind (Art. 19 Rn. 13 ff.). Juristischen Personen des öffentlichen Rechts (Art. 19 Rn. 22 ff.) steht der Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde grds. nicht zu, da sie als Träger von Hoheitsgewalt Adressaten und nicht Berechtigte der Grundrechte sind (BVerfGE 21, 362 (369); 31, 314 (322)). Etwas anderes gilt ausnahmsweise dann, wenn die betreffende juristische Person des öffentlichen Rechts unmittelbar dem durch die Grundrechte geschützten Lebensbereich zuzuordnen ist. Daher hat das BVerfG die Grundrechtsfähigkeit der öffentlich-rechtlichen Universitäten und Fakultäten für das Grundrecht aus Art. 5 III 1 anerkannt (BVerfGE 15, 256 (262)). Entsprechendes gilt für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die sich auf das Grundrecht der Rundfunkfreiheit gem. Art. 5 I 2 berufen können. Sie sind Einrichtungen des Staates, die Grundrechte in einem Bereich verteidigen, in dem sie vom Staate unabhängig sind (BVerfGE 31, 314 (322)). Auch die öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaften sind als Träger des Grundrechts gem. Art. 4 I, II insoweit beschwerdeberechtigt (BVerfGE 21, 362 (374); 75, 192 (196); 139, 321 (346 f.)). Für alle juristischen Personen des öffentlichen Rechts ist eine Berufung auf die Justizgrundrechte aus Art. 101 I 2 und Art. 103 I im Verfassungsbeschwerdeverfahren möglich, da diese Rechte objektive Verfahrensgrundsätze enthalten, die jedem zustehen müssen (BVerfGE 21, 362 (373); 138, 64 (82)).

bb) Prozessfähigkeit

Prozessfähig ist, wer fähig ist, den Prozess aus eigenem Recht zu führen und Verfahrenshandlungen selbst vorzunehmen. Maßgeblich ist hierfür die Grundrechtsmündigkeit des Beschwerdeführers, dh die Einsichtsfähigkeit in eine eigenverantwortliche Ausübung des Grundrechts, dessen Verletzung er rügt (BVerfGE 28, 243 (255); Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, 1991, § 12 Rn. 21). Die Prozessfähigkeit ist jedenfalls immer dann anzunehmen, wenn die Rechtsordnung dem Beschwerdeführer die Fähigkeit zuspricht, grundrechtsrelevante Handlungen selbst vorzunehmen (zB § 5 RelKiErzG). Prozessunfähige müssen durch ihre gesetzlichen Vertreter vertreten werden.

cc) Beschwerdegegenstand

Gegenstand der Verfassungsbeschwerde kann jeder Akt der öffentlichen Gewalt sein. Aus der Bindung aller staatlicher Gewalt an die Grundrechte gem. Art. 1 III folgt, dass hierunter jeder Akt eines Organs der Exekutive, Legislative oder Judikative fällt (BVerfGE 1, 332 (343)). Gem. § 92 BVerfGG ist von dem Begriff des Aktes jedes Handeln oder Unterlassen erfasst. Ein Unterlassen kann grds. nur so lange Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein, wie es noch andauert. Es kann daher grds. nur bei völliger Untätigkeit gerügt werden. Ist hingegen eine Maßnahme ergriffen worden, muss sich die Verfassungsbeschwerde regelmäßig diesen Akt richten (BVerfGE 157, 30 (89)).

dd) Beschwerdebefugnis

Der Beschwerdeführer ist gem. § 90 I BVerfGG beschwerdebefugt, wenn er geltend macht, durch den angegriffenen Hoheitsakt in einem verfassungsbeschwerdefähigen Recht selbst, unmittelbar und gegenwärtig verletzt zu sein (BVerfGE 100, 313 (354)). Hierzu muss er hinreichend substantiiert darlegen, dass eine Grundrechtsverletzung möglich ist (BVerfGE 112, 363 (366)). Es genügt, wenn die Verletzung des geltend gemachten Rechts nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Nach der Rspr. des BVerfG in seinem Klimaschutzgesetz-Beschluss v. 24.3.2021 sind die Anforderungen an eine mögliche Grundrechtsverletzung für die Grundrechte in ihrer Funktion der intertemporalen Freiheitssicherung abgesenkt worden. Danach begründet bereits die Möglichkeit einer „Gefahr künftiger Freiheitsbeeinträchtigungen“ (BVerfGE 157, 30 (104 f.)) eine Beschwerdebefugnis, wenn eine staatliche Maßnahme rechtlich vorwirkend über künftige Grundrechtsrestriktionen mitbestimmt (BVerfGE 157, 30 (99)). Vorausgesetzt wird dabei, dass es sich um „eine unumkehrbar angelegte rechtliche Gefährdung künftiger Freiheit“ handelt (BVerfGE 157, 30 (132)). Da eine damit heute möglicherweise unumkehrbar in Gang gesetzte Grundrechtsbeeinträchtigung mit einer späteren Verfassungsbeschwerde gegen dann erfolgende Freiheitsbeschränkungen nicht mehr ohne Weiteres erfolgreich angegriffen werden könnte, sind Beschwerdeführer – so das BVerfG – bereits jetzt beschwerdebefugt (BVerfGE 157, 30 (105)). Eine Verfassungsbeschwerde kann somit auch mit der Behauptung erhoben werden, durch die öffentliche Gewalt in einem Grundrecht oder grundrechtsgleichen Recht gefährdet zu sein. Aus der an sich in Art. 93 I Nr. 4a angelegten Grundrechtsverletzungsbeschwerde wird so eine Grundrechtsgefährdungsbeschwerde (Haratsch FS D. Dörr, 2022, 153 (161 f.)).

Rügefähige Rechte sind die Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte des GG, nicht hingegen die Grundrechte, die in einer Landesverfassung (BVerfGE 41, 88 (118 ff.)) oder in der EMRK normiert sind (BVerfGE 74, 102 (128); MKS/Voßkuhle Art. 93 Rn. 179; krit. Scheffczyk NVwZ 2020, 977 (978)). Unter den Begriff der Grundrechte subsumiert das BVerfG nach den beiden „Recht auf Vergessen“-Beschlüssen v. 6.11.2019 (BVerfGE 152, 152; 152, 216) nunmehr aber auch die in der EU-Grundrechte-Charta niedergelegten Grundrechte (zust. Kühling NJW 2020, 275 (277); krit. Preßlein EuR 2021, 247 (257 ff.); Classen, EuR 2021, 92 (96 ff.)). Das BVerfG macht sich damit partiell funktional zu einem Unionsgericht (Klein DÖV 2020, 341 (345 f.)), da es über die Einhaltung der Grundrechte der Europäischen Union wacht. Die Grundrechte der Europäischen Grundrechte-Charta sind in zwei Konstellationen rügefähige Rechte:

(1) Handelt es sich um einen Bereich, der unionsrechtlich vollständig harmonisiert ist, werden die Grundrechte des GG aufgrund des Anwendungsvorrangs, den das Europäische Unionsrecht vor nationalem Recht genießt, durch die Unionsgrundrechte verdrängt und sind nicht anwendbar. Rechtlich maßgeblich sind in dieser Konstellation gemäß dem „Recht auf Vergessen II“-Beschluss allein die Grundrechte des Europäischen Unionsrechts (BVerfGE 152, 216 (233)). Die Nichtanwendung der deutschen Grundrechte in dieser Konstellation beruht auf der Überlegung, dass das Unionsrecht in der gesamten Europäischen Union gilt und einheitlich angewendet werden soll (BVerfGE 152, 216 (233 f.)). Soweit die Grundrechte des GG durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts verdrängt werden, kontrolliert das BVerfG dessen Anwendung durch deutsche Stellen am Maßstab der Unionsgrundrechte (BVerfGE 152, 216 (237)).

(2) Nach dem „Recht auf Vergessen I“-Beschluss prüft das BVerfG unionsrechtlich nicht vollständig determiniertes innerstaatliches Recht, dh, dort wo das Europäische Unionsrecht den Mitgliedstaaten Gestaltungsspielräume lässt, primär am Maßstab der Grundrechte des GG, auch wenn das innerstaatliche Recht der Durchführung des Unionsrechts dient. Die primäre Anwendung der Grundrechte des GG stützt sich auf die Annahme, dass das Unionsrecht dort, wo es den Mitgliedstaaten Gestaltungsspielräume einräumt, regelmäßig nicht auf eine Einheitlichkeit des Grundrechtsschutzes zielt (BVerfGE 152, 152 (171)). Es greift dann die Vermutung, dass das Schutzniveau der Charta der Grundrechte der Europäischen Union durch die Anwendung der Grundrechte des GG mitgewährleistet ist (BVerfGE 152, 152 (171)). Die Grundrechte des GG sind dabei im Lichte der Europäischen Grundrechte-Charta auszulegen (BVerfGE 152, 152 (170, 177)). Eine Prüfung allein am Maßstab der deutschen Grundrechte ist allerdings nicht ausreichend, wenn konkrete und hinreichende Anhaltspunkte vorliegen, dass hierdurch das grundrechtliche Schutzniveau des Unionsrechts ausnahmsweise nicht gewährleistet ist (BVerfGE 152, 152 (179)). Das Bundesverfassungsgericht anerkennt zwei derartige Ausnahmefälle, zum einen die grundrechtliche Einschränkung des Gestaltungsspielraums der Mitgliedstaaten sowie zum anderen die Unterschreitung des grundrechtlichen Schutzniveaus der Europäischen Union im Einzelfall. Die Grundrechte der Europäischen Grundrechte-Charta sind unmittelbarer Prüfungsmaßstab und damit rügefähige Rechte, wenn das auf mitgliedstaatliche Durchführung angelegte Unionsrecht ungeachtet seiner Gestaltungsoffenheit engere grundrechtliche Maßgaben enthält und damit die Reichweite der Grundrechte des GG beschränkt (BVerfGE 152, 152 (179 f.)). Ebenso sind die Unionsgrundrechte rügefähige Rechte, wenn die Vermutung widerlegt wird, dass eine Prüfung am Maßstab der Grundrechte des GG zugleich das grundrechtliche Schutzniveau der Europäischen Union mitgewährleistet, und das grundgesetzliche Grundrechtschutzniveau im konkreten Fall somit das Schutzniveau der Europäischen Grundrechte-Charta unterschreitet (BVerfGE 152, 152 (180 ff.)).

Durch das Merkmal der Selbstbetroffenheit sollen Popularklagen ausgeschlossen werden. Es ist erfüllt, wenn der Beschwerdeführer in seinen eigenen Rechten verletzt sein kann, er also Träger des geltend gemachten Rechts ist. Von Normen ist der Beschwerdeführer jedenfalls immer dann selbst betroffen, wenn er Normenadressat ist, von Verwaltungshandlungen, wenn sich die Maßnahme unmittelbar gegen ihn richtet, von Gerichtsentscheidungen, wenn er Partei des Rechtsstreits war. Ausreichend ist auch eine faktische Betroffenheit. Nach der Rspr. des BVerfG können – selbst wenn die Grundrechte in ihrer Funktion der intertemporalen Freiheitssicherung vor künftigen Belastungen schützen (vgl. BVerfGE 157, 30 (98, 135)) – nicht Grundrechte noch nicht geborener Menschen oder gar künftiger Generationen geltend gemacht werden. Eine Selbstbetroffenheit bei in der Zukunft liegenden Belastungen ist aber zu bejahen, wenn ein Beschwerdeführer diese künftigen Freiheitsbeeinträchtigungen selbst noch erleben wird (BVerfGE 157, 30 (93, 105 f.)). Ungeklärt ist dabei, ob konkret auf die Lebenserwartung des jeweiligen Beschwerdeführers oder abstrakt auf die allgemeine Lebenserwartung abzustellen ist (krit. Haratsch FS D. Dörr, 2022, 153 (164 f.)).

Eine gegenwärtige Betroffenheit des Beschwerdeführers ist anzunehmen, wenn eine angegriffene Vorschrift auf die Rechtsstellung des Beschwerdeführers aktuell und nicht nur potentiell einwirkt, wenn das Gesetz die Normadressaten mit Blick auf seine künftig eintretende Wirkung zu später nicht mehr korrigierbaren Entscheidungen zwingt oder wenn im Zeitpunkt der Erhebung der Verfassungsbeschwerde klar abzusehen ist, dass und in welcher Weise ein Beschwerdeführer betroffen sein wird (BVerfGE 97, 157 (164); 102, 197 (207); 114, 258 (277); 119, 181 (212); 140, 42 (58)). Es kommt nicht darauf an, ob dies alsbald oder zu einem späteren Zeitpunkt der Fall sein wird (BVerfGE 74, 297 (319 f.)). Ein Beschwerdeführer kann daher auch gegen eine Norm vorgehen, die bereits verkündet, aber noch nicht in Kraft getreten ist. Nicht ausreichend ist hingegen, wenn der Beschwerdeführer irgendwann in der Zukunft möglicherweise betroffen sein könnte und sich derzeit die konkrete Beschwer schwer abschätzen lässt (BVerfGE 74, 297 (319)). Diese von ihm selbst gesetzten Maßstäbe hat das BVerfG in seinem Klimaschutzgesetz-Beschluss v. 24.3.2021 aufgeweicht (Haratsch FS D. Dörr, 2022, 153 (162 f.)). Danach begründet bereits die gegenwärtige Gefahr künftiger Freiheitsbeschränkungen eine gegenwärtige Grundrechtsbetroffenheit. Dies soll vorliegen, wenn die Gefahr im aktuellen Recht angelegt ist und ein einmal in Gang gesetzter Verlauf möglicherweise nicht mehr korrigierbar ist (BVerfGE 157, 30, (93 f., 105)). In dieser Konstellation ist zwar absehbar, dass ein Beschwerdeführer in der Zukunft infolge der derzeitigen Regelung betroffen sein wird. Nicht absehbar ist aber, wie der Beschwerdeführer konkret betroffen sein wird.

Eine Ausnahme von dem Erfordernis der gegenwärtigen Betroffenheit ist anzunehmen, wenn der angegriffene Hoheitsakt besonders schwer wiegt und sich auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene nach dem regelmäßigen Geschäftsgang eine Entscheidung des BVerfG kaum erlangen kann (BVerfGE 107, 299 (311)), oder eine Wiederholung des angegriffenen Hoheitsakts zu befürchten ist (BVerfGE 91, 125 (133)). Andernfalls träte eine unerträgliche Beschränkung der Grundrechte ein.

Die unmittelbare Betroffenheit ist gegeben, wenn der angegriffene Akt keines Vollzugsaktes mehr bedarf, der seinerseits gerichtlich angegriffen werden kann (BVerfGE 71, 25 (34)). Eine Ausnahme wird zugelassen, wenn ein Abwarten des Vollzugsaktes unzumutbar ist. Dies betrifft etwa Fälle, wenn ein vollzugsbedürftiges Gesetz die Normadressaten bereits gegenwärtig zu später nicht mehr korrigierbaren Entscheidungen zwingt oder zu Dispositionen veranlasst, die sie nach dem späteren Gesetzesvollzug nicht mehr nachholen können (BVerfGE 72, 39 (44)). Eine weitere Ausnahme soll nach der neueren Rspr. des BVerfG im Klimaschutzgesetz-Beschluss gelten, wenn Grundrechtsbeeinträchtigung zwar erst infolge zukünftiger Regelungen drohen, sie jedoch im jetzigen Recht unumkehrbar angelegt sind. Hier soll die Unmittelbarkeit der Betroffenheit trotz notwendiger späterer Vollzugsakte bereits zu bejahen sein (BVerfGE 157, 30 (106); dazu Calliess JuS 2023, 1 (3 f.); krit. Haratsch FS D. Dörr, 2022, 153 (163 f.)).

ee) Rechtsschutzbedürfnis

Das Rechtsschutzbedürfnis für eine Verfassungsbeschwerde gegen eine Handlung entfällt, sobald die Handlung nicht mehr andauert und von ihr keine Rechtswirkungen mehr ausgehen. Bei Erledigung besteht das Rechtsschutzbedürfnis fort, wenn eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung vom BVerfG noch nicht entschieden wurde, wenn der gerügte Grundrechtseingriff den Beschwerdeführer besonders belastet oder eine Wiederholungsgefahr besteht (BVerfGE 81, 138 (140 f.); 103, 44 (58); 116, 69 (79)).

ff) Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität

Vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde muss der Beschwerdeführer gem. § 90 II 1 BVerfGG den Rechtsweg ausschöpfen. Dies setzt voraus, dass der Beschwerdeführer alle Möglichkeiten der Abhilfe, insbes. alle Rechtsmittel genutzt hat. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt gem. § 90 II 2 BVerfGG dann, wenn die Verfassungsbeschwerde von allg. Bedeutung ist oder dem Beschwerdeführer andernfalls ein schwerer, unabwendbarer Nachteil entstünde. Über das Gebot der Rechtswegerschöpfung hinaus verlangt das BVerfG aufgrund des Grundsatzes der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, dass der Beschwerdeführer alle ihm zumutbaren Möglichkeiten zur Verhinderung oder Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung ergreift (BVerfGE 114, 258 (279)).

gg) Form und Frist

Die Verfassungsbeschwerde muss in der Form des § 23 I BVerfGG erhoben werden. In der schriftlichen Begründung müssen das geltend gemachte Grundrecht und das gerügte Handeln oder Unterlassen des Organs oder der Behörde bezeichnet werden (§ 92 BVerfGG). Wird in einer Beschwerde die unzutreffende Grundrechtsnorm angeführt, etwa eine Bestimmung des GG, obwohl Prüfungsmaßstab im konkreten Fall die Grundrechte der Europäischen Grundrechte-Charta sind, ist dies unschädlich, sofern der Beschwerdeführer in der Sache substantiiert zum gerügten Grundrecht vorträgt (BVerfGE 152, 216 (248 f.)). Die Frist zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde beträgt gem. § 93 I 1 BVerfGG einen Monat ab Zustellung, Bekanntgabe, Verkündung der angegriffenen Maßnahmen bzw. ab tatsächlicher Kenntniserlangung. Richtet sich die Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz oder einen anderen Hoheitsakt, gegen den kein Rechtsweg offensteht, beträgt die Frist gem. § 93 III BVerfGG ein Jahr ab Inkrafttreten des Gesetzes oder dem Erlass des anderen Hoheitsaktes.

hh) Beschwerderücknahme und Erledigungserklärung

Das BVerfG hält eine Rücknahme des Antrags oder eine Erledigungserklärung grds. für möglich, solange die Dispositionsbefugnis beim Beschwerdeführer liegt (BVerfGE 85, 109 (113)). Diese Dispositionsbefugnis hält es jedenfalls dann für eingeschränkt, wenn die Verfassungsbeschwerde schon vor Abschluss des fachgerichtlichen Hauptsacheverfahrens aufgrund ihrer allg. Bedeutung gem. § 93a II lit. a BVerfGG zur Entscheidung angenommen wurde, über sie bereits mündlich verhandelt wurde und die allg. Bedeutung zur Zeit der Urteilsverkündung nicht entfallen ist (BVerfGE 98, 218 (242 f.)). Diese bedenkliche Einschränkung der Dispositionsbefugnis des Beschwerdeführers begründet das BVerfG damit, dass die Verfassungsbeschwerde neben dem Individualrechtsschutz auch der Wahrung des objektiven Verfassungsrechts und seiner Aus- und Fortbildung dient und dieses Interesse bei Vorliegen der genannten Voraussetzung gegenüber dem Individualinteresse in den Vordergrund tritt (BVerfGE 98, 218 (243); ebenso Cornils NJW 1998, 3624).

b) Begründetheit

Die Individualverfassungsbeschwerde ist begründet, wenn der angegriffene Akt der öffentlichen Gewalt gegen die Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte des Beschwerdeführers verstößt. Wird einer Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz stattgegeben, ist das Gesetz für nichtig zu erklären (§ 95 III BVerfGG). Bei einer erfolgreichen Verfassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung hebt das BVerfG die Entscheidung auf (§ 95 II BVerfGG).

6. Kommunalverfassungsbeschwerde (Nr. 4b)

Die Zuständigkeit für die Kommunalverfassungsbeschwerde wird dem BVerfG in Art. 93 I Nr. 4b zugewiesen. Das Verfahren wird durch §§ 91 ff. BVerfGG konkretisiert. Die Kommunalverfassungsbeschwerde dient dem Schutz der Selbstverwaltungsgarantie der Gemeinden iSd Art. 28 II durch den Gesetzgeber (Art. 28 Rn. 13 f.).

a) Zulässigkeit

Im Einzelnen ergeben sich aus Art. 93 I Nr. 4b GG, § 13 Nr. 8a, §§ 90 ff. BVerfGG folgende Zulässigkeitsvoraussetzungen:

aa) Beschwerdeberechtigung

Die Kommunalverfassungsbeschwerde kann gem. Art. 93 I Nr. 4b GG, § 91 S. 1 BVerfGG nur von Gemeinden und Gemeindeverbänden erhoben werden. Eine durch Gesetz aufgelöste Gemeinde besitzt nach ihrer Auflösung die Beschwerdeberechtigung, wendet sie sich gegen das sie auflösende Gesetz.

bb) Beschwerdegegenstand

Gem. Art. 93 I Nr. 4b GG, § 91 S. 1 BVerfGG kann Gegenstand der Kommunalverfassungsbeschwerde nur ein Bundes- oder Landesgesetz sein. Hierunter fallen neben förmlichen Gesetzen auch RVOen und Satzungen (BVerfGE 110, 370 (383); Guckelberger Jura 2008, 819 (824)).

cc) Beschwerdebefugnis

Der Beschwerdeführer der Kommunalverfassungsbeschwerde muss schlüssig vortragen, durch die angegriffene Regelung selbst, unmittelbar und gegenwärtig in dem Selbstverwaltungsrecht aus Art. 28 II verletzt sein zu können (BVerfGE 71, 25 (34)). Hier gelten im Wesentlichen die gleichen Voraussetzungen und Ausnahmen wie bei der Individualverfassungsbeschwerde (Rn. 43 ff.). Im Hinblick auf die unmittelbare Betroffenheit ist jedoch zu berücksichtigen, dass eine Gemeinde nicht darauf verwiesen werden kann, einen Vollziehungsakt abzuwarten, um gegen diesen gerichtlich vorzugehen, da sie – anders als die Beschwerdeführer von Individualverfassungsbeschwerden – keine Möglichkeit besitzt, ein letztinstanzliches Urteil im Wege der Verfassungsbeschwerde anzugreifen (BVerfGE 71, 25 (35 f.)). Daher sind auch Kommunalverfassungsbeschwerden gegen vollzugsbedürftige Gesetze möglich. Das Erfordernis des unmittelbaren Betroffenseins behält indessen auch bei der Kommunalverfassungsbeschwerde Bedeutung, insoweit es etwa der Kommune verwehrt, ein Gesetz anzugreifen, das noch der Konkretisierung durch eine RVO bedarf. Die Gemeinde könnte nach Erlass der RVO im Rahmen der gegen diese gerichteten Verfassungsbeschwerde auch die verfassungsgerichtliche Überprüfung der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage erreichen (BVerfGE 71, 25 (36)).

dd) Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität

Das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung nach § 90 II 1 BVerfGG gilt auch für die Kommunalverfassungsbeschwerde, bezieht sich jedoch nur auf untergesetzliche Normen. Ist ein Fachgerichtsweg gegen eine untergesetzliche Norm eröffnet, etwa über § 47 VwGO, ist dieser zunächst zu beschreiten (BVerfGE 76, 107 (115 f.)). Über Beschwerden gegen ein Landesgesetz entscheidet das BVerfG nur, wenn keine Beschwerde beim LVerfG erhoben werden kann (Art. 93 I Nr. 4b GG, § 91 S. 2 BVerfGG). Auf ein weniger rechtsschutzintensives Verfahren vor einem LVerfG braucht sich der Beschwerdeführer jedoch nicht verweisen zu lassen (BVerfGE 107, 1 (9 ff.)).

ee) Form und Frist

Der Antrag muss der Form des § 23 I BVerfGG genügen. Die Kommunalverfassungsbeschwerde ist gem. § 93 III BVerfGG innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten des Gesetzes zu erheben. Wurde zunächst ein erforderliches fachgerichtliches Verfahren durchgeführt, endet die Frist ein Jahr nach Abschluss dieses Verfahrens.

b) Begründetheit

Die Kommunalverfassungsbeschwerde ist begründet, soweit die angegriffene Norm gegen die Selbstverwaltungsgarantie der Gemeinde nach Art. 28 II verstößt. Gem. § 95 III BVerfGG erklärt das BVerfG die angegriffene Norm für nichtig.

7. Nichtanerkennungsbeschwerde (Nr. 4c)

Art. 93 I Nr. 4c ist durch Gesetz v. 11.7.2012 (BGBl. I 1478) in das GG eingefügt worden. Er weist dem BVerfG die Zuständigkeit für die Nichtanerkennungsbeschwerde zu. Das Verfahren wird in §§ 96a–d BVerfGG konkretisiert. Die Nichtanerkennungsbeschwerde eröffnet Vereinigungen, die infolge der Feststellung des Bundeswahlausschusses nicht als vorschlagsberechtigte Parteien anerkannt wurden, die Möglichkeit, noch vor der Bundestagswahl das BVerfG zur Klärung ihres Parteienstatus anzurufen (BT-Drs. 17/9392, 4). Art. 93 I Nr. 4c dient der Schließung einer bis dahin bestehenden Rechtsschutzlücke (Sachs/Detterbeck Art. 93 Rn. 104a; SHH/Hopfauf Art. 93 Rn. 571), da in Art. 41 iVm § 48 BVerfGG, § 49 BWG nur nachträglicher Rechtsschutz vorgesehen war. Die Möglichkeit einer nachträglichen Wahlprüfung (Art. 41 Rn. 1 f.) bleibt von der Nichtanerkennungsbeschwerde unberührt (BVerfGE 134, 135 (138)).

a) Zulässigkeit

Im Einzelnen ergeben sich aus Art. 93 I Nr. 4c GG, § 13 Nr. 3a, §§ 96a ff. BVerfGG folgende Zulässigkeitsvoraussetzungen:

aa) Beschwerdeberechtigung

Nach § 96a I BVerfGG sind Vereinigungen und Parteien beschwerdeberechtigt, denen die Anerkennung als wahlvorschlagsberechtigte Partei nach § 18 IV BWG versagt wurde (Jarass/Pieroth/Kment Art. 93 Rn. 133; Bechler/Neidhardt NVwZ 2013, 1438 (1440)).

bb) Beschwerdegegenstand

Beschwerdegegenstand ist eine nach § 18 IV BWG vom Bundeswahlausschuss getroffene Feststellung, dass eine Partei im BTag oder in einem Landtag seit deren letzter Wahl auf Grund eigener Wahlvorschläge nicht ununterbrochen mit mindestens fünf Abgeordneten vertreten war (§ 18 IV 1 Nr. 1 BWG) oder dass eine Vereinigung, die nach § 18 II BWG ihre Beteiligung angezeigt hat, für die Wahl nicht als Partei anzuerkennen ist (§ 18 IV 1 Nr. 2 Hs. 1 BWG), wodurch die wirksame Einreichung von Wahlvorschlägen durch die betreffende Partei oder Vereinigung verhindert wird.

cc) Beschwerdebefugnis

Beschwerdebefugt sind Vereinigungen und Parteien, wenn sie geltend machen, dass sie nach § 18 IV BWG wahlvorschlagsberechtigt sind (Bechler/Neidhardt NVwZ 2013, 1438 (1440)). Die Beschwerdeführerin muss schlüssig vortragen, dass die Voraussetzungen von § 18 IV 1 Nr. 1 oder Nr. 2 BWG in ihrem Fall erfüllt sind (Sachs/Detterbeck Art. 93 Rn. 104c).

dd) Rechtsschutzinteresse

Das Rechtsschutzinteresse fehlt, wenn die Beschwerdeführerin die Teilnahme an der Bundestagswahl ohnehin nicht mehr erreichen kann, etwa weil sie die nach § 27 I 2 BWG für die wirksame Einreichung ihrer Wahlvorschläge erforderlichen Unterschriften nicht innerhalb der Einreichungsfrist beigebracht hat (BVerfGE 134, 121 (123)). Generell kann eine von einer konkreten Bundestagswahl losgelöste Feststellung der Eigenschaft als Partei nicht begehrt werden (BVerfGE 134, 121 (123)).

ee) Form und Frist

Die Beschwerde ist nach § 96a II BVerfGG binnen einer Viertagesfrist nach Bekanntgabe der Entscheidung in der Sitzung des Bundeswahlausschusses nach § 18 IV 2 BWG zu erheben und zu begründen. Der Antrag muss im Übrigen der Form des § 23 I BVerfGG genügen und eine Auseinandersetzung mit den Erwägungen des Bundeswahlausschusses erkennen lassen (BT-Drs. 17/9391, 11; Bechler/Neidhardt NVwZ 2013, 1438 (1439)).

b) Begründetheit

Die Beschwerde ist begründet, wenn die Beschwerdeführerin ihre Beteiligung an der Wahl wirksam angezeigt hat und als wahlvorschlagsberechtigte Partei für die Wahl zum Bundestag anzuerkennen ist (BVerfGE 134, 124 (127)). Die formellen Voraussetzungen der Beteiligungsanzeige richten sich nach § 18 II BWG. Sie müssen im Zeitpunkt des Ablaufs der Anzeigefrist vorliegen, dh, ein anfänglicher Mangel kann innerhalb der Anzeigefrist behoben werden (BVerfGE 134, 124 (128)). Die Parteibezeichnung muss klar aus der Beteiligungsanzeige hervorgehen (BVerfGE 134, 124 (128)). Als wahlvorschlagsberechtigte Partei muss sie materiell die Voraussetzungen des § 2 I 1 PartG erfüllen, die im Lichte des Art. 21 I GG auszulegen und anzuwenden sind (BVerfGE 134, 124 (129); 134, 131 (132 f.)). Entscheidend ist bei einer Gesamtwürdigung der tatsächlichen Verhältnisse einer Partei, dass sie ihre erklärte Absicht, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, ernsthaft verfolgt. Vereinigungen, die nach ihrem Organisationsgrad und ihren Aktivitäten offensichtlich nicht imstande sind, auf die politische Willensbildung des Volkes Einfluss zu nehmen, bei denen die Verfolgung dieser Zielsetzung erkennbar unrealistisch und aussichtslos ist, sind nicht oder nicht mehr als Parteien anzusehen (BVerfGE 91, 262 (271 f.); 134, 124 (130)). Ist die Nichtanerkennungsbeschwerde begründet, spricht das BVerfG die Anerkennung der Beschwerdeführerin als wahlvorschlagsberechtigte Partei aus (BVerfGE 134, 124; Bechler/Neidhardt NVwZ 2013, 1438 (1442); MKS/Voßkuhle Art. 93 Rn. 202i; aA Sachs/Detterbeck Art. 93 Rn. 104d).

8. Sonstige im Grundgesetz vorgesehene Fälle (Nr. 5)

Art. 93 I Nr. 5 weist dem BVerfG die Zuständigkeit für alle übrigen im GG vorgesehenen Fälle zu. Diese sind die Grundrechtsverwirkung gem. Art. 18 (Art. 18 Rn. 2), das Parteiverbotsverfahren sowie das Verfahren über den Ausschluss von Parteien von staatlicher Finanzierung gem. Art. 21 IV (Art. 21 Rn. 44 ff.), das Wahlprüfungsverfahren gem. Art. 41 II (Art. 41 Rn. 5 f.), die Anklage gegen den BPräsidenten gem. Art. 61 (Art. 61 Rn. 1 ff.), die Richteranklage gem. Art. 98 II und V (Art. 98 Rn. 6 ff.), die Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes, soweit diese durch Landesgesetz dem BVerfG zugewiesen werden, nach Art. 99 (Art. 99 Rn. 2 f.), die konkrete Normenkontrolle gem. Art. 100 I (Art. 100 Rn. 3 ff.), das Normenverifikationsverfahren gem. Art. 100 II (Art. 100 Rn. 18 f.), die Divergenzvorlage eines LVerfG gem. Art. 100 III (Art. 100 Rn. 20 ff.) sowie das Normenqualifikationsverfahren gem. Art. 126 (Art. 126 Rn. 3 f.).

III. Kompetenzfreigabeverfahren gemäß Art. 93 II

1. Allgemeines

Durch die Föderalismusreform neu eingeführt wurde das Kompetenzfreigabeverfahren nach Art. 93 II (BGBl. 2006 I 2034). Das Verfahren wird in §§ 13 Nr. 6b, 97 BVerfGG konkretisiert. Ziel des Verfahrens ist die Feststellung, dass die Voraussetzungen der Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 II (Art. 72 Rn. 13 ff.) nicht mehr vorliegen. Hierdurch soll den Ländern ein Mittel an die Hand gegeben werden, die Freigabe der Gesetzgebungskompetenz durch den Bund zu erreichen, wenn dieser das notwendige, die Kompetenz freigebende Gesetz iSd Art. 72 IV (Art. 72 Rn. 22 f.) oder Art. 125a II 2 (Art. 125a Rn. 6 f.) nicht erlässt.

2. Das Verfahren im Einzelnen

a) Zulässigkeit

Im Einzelnen ergeben sich aus Art. 93 II GG, §§ 13 Nr. 6b, 97 BVerfGG folgende Zulässigkeitsvoraussetzungen:

aa) Antragsberechtigung

Berechtigt, einen Antrag im Kompetenzfreigabeverfahren zu stellen, sind gem. Art. 93 II 1 der BR, eine Landesregierung oder die Volksvertretung eines Landes.

bb) Antragsgegenstand

Art. 93 II erfasst zwei unterschiedliche Kategorien von förmlichen Bundesgesetzen, die der Bund auf der Grundlage einer konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz und Art. 72 II erlassen hat. Art. 93 II 1 Var. 1 erfasst Gesetze, die nach der Einfügung der Erforderlichkeitsklausel in Art. 72 II, dh nach dem 15.11.1994 (BGBl. 1994 I 3146), erlassen worden sind und bei denen die ursprünglich vorliegende Erforderlichkeit nachträglich entfallen ist. Erlässt der Bund kein Freigabegesetz zugunsten der Landesgesetzgebung gem. Art. 72 IV, ist der Weg zum BVerfG eröffnet. Wird das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 72 II schon zur Zeit des Gesetzeserlasses bestritten, ist das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 I Nr. 2a anzustrengen.

Art. 93 II 1 Var. 2 gilt für Gesetze, die vor dem 15.11.1994, also noch auf der Grundlage der früheren Bedürfnisklausel des Art. 72 II aF (Art. 72 Rn. 13), erlassen worden sind und die nach Änderung von Art. 72 II (BGBl. 1994 I 3146) auf der Grundlage der Erforderlichkeitsklausel nicht mehr erlassen werden dürften. Erlässt der Bund kein Freigabegesetz zugunsten der Landesgesetzgebung gem. Art. 125a II 2, ist der Weg zum BVerfG eröffnet.

cc) Antragsbefugnis

Der Antragsteller muss im Fall des Art. 93 II 1 Var. 1 schlüssig vortragen, dass die Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung nach Art. 72 II nachträglich entfallen ist. Im Fall des Art. 93 II 1 Var. 1 ist geltend zu machen, dass die Erforderlichkeit bei Änderung des Art. 72 II nicht vorlag.

dd) Subsidiarität

Vor Erhebung des Kompetenzfreigabeverfahrens muss gem. Art. 93 II 3 eine Gesetzesvorlage für ein Freigabegesetz gem. Art. 72 IV oder Art. 125a II 2 im BTag oder BRat abgelehnt oder über sie im BTag nicht innerhalb eines Jahres beraten und Beschluss gefasst worden sein. Die Gesetzesvorlage muss nicht durch den Antragsteller eingebracht worden sein.

ee) Form und Frist

Der Antrag muss in der Form des § 23 I BVerfGG gestellt werden. Aus der Begründung des Antrags muss sich ergeben, dass die Vorlage eines Gesetzes nach Art. 72 IV oder Art. 125a II 2 iSd Art. 93 II 3 gescheitert ist (§ 97 I BVerfGG). Der Antrag ist an keine Frist gebunden.

ff) Beitritt

Andere Antragsberechtigte sowie der BTag und die BReg können dem Verfahren in jeder Lage des Verfahrens beitreten (§ 97 III BVerfGG).

b) Begründetheit

Der Antrag ist begründet, wenn die Voraussetzungen zum Erlass eines Bundesgesetzes nach Art. 72 II nicht vorliegen. Die Entscheidung des BVerfG ersetzt das freigebende Bundesgesetz (Art. 93 II 2).

IV. Einfach-gesetzliche Zuständigkeiten gemäß Art. 93 III

Der Bundesgesetzgeber kann dem BVerfG gem. Art. 93 III weitere Zuständigkeiten zuweisen. Solche bundesgesetzlichen Regelungen sind §§ 97a ff. BVerfGG, § 105 BVerfGG, § 33 PartG, § 50 III VwGO, § 39 II 2 und 3 SGG, § 26 III EuWG, § 36 II PUAG, § 13 Nr. 11a iVm § 82a BVerfGG und § 24 V 3 des Gesetzes über das Verfahren bei Volksentscheid, Volksbegehren und Volksbefragung nach Art. 29 VI.