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Artikel 97 [Unabhängigkeit der Richter]

(1) Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.

(2) 1 Die hauptamtlich und planmäßig endgültig angestellten Richter können wider ihren Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus Gründen und unter den Formen, welche die Gesetze bestimmen, vor Ablauf ihrer Amtszeit entlassen oder dauernd oder zeitweise ihres Amtes enthoben oder an eine andere Stelle oder in den Ruhestand versetzt werden. 2 Die Gesetzgebung kann Altersgrenzen festsetzen, bei deren Erreichung auf Lebenszeit angestellte Richter in den Ruhestand treten. 3 Bei Veränderung der Einrichtung der Gerichte oder ihrer Bezirke können Richter an ein anderes Gericht versetzt oder aus dem Amte entfernt werden, jedoch nur unter Belassung des vollen Gehaltes.

I. Allgemeines

Zum Wesen der richterlichen Tätigkeit gehört es, dass sie durch einen nichtbeteiligten Dritten in persönlicher und sachlicher Unabhängigkeit ausgeübt wird (BVerfGE 103, 111 (140); 153, 1 (42)). Art. 97 garantiert diese Unabhängigkeit. Hierdurch soll gesichert werden, dass die Gerichte ihre Entscheidungen allein an Gesetz und Recht ausrichten (BVerfGE 107, 395 (402 f.)). Die richterliche Unabhängigkeit ist Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips, da sie unerlässlich für die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes ist (BVerfGE 148, 69 (89)). Zugleich konkretisiert sie das Gewaltenteilungsprinzip, indem sie die Unabhängigkeit der Judikative von den anderen Staatsgewalten sichert (Friauf/Höfling/Leuze Art. 97 Rn. 4).

Die richterliche Unabhängigkeit ist kein Grundrecht, welches durch den Richter oder einen von einer Entscheidung betroffenen Bürger mit der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 I Nr. 4a geltend gemacht werden könnte (BVerfGE 48, 246 (263); 107, 257 (274)). Die richterliche Unabhängigkeit gehört jedoch zu den hergebrachten Grundsätzen des richterlichen Amtsrechts gem. Art. 33 V (BVerfGE 12, 81 (88); 55, 372 (391 f.); Art. 33 Rn. 23 ff.), auf die sich der einzelne Richter im Wege der Verfassungsbeschwerde berufen kann. Zudem verstößt die Entscheidung eines Gerichts, welches mit einem sachlich nicht unabhängigen Richter besetzt ist, gegen das Gebot des gesetzlichen Richters gem. Art. 101 I 2, so dass insoweit auch dem von einer Gerichtsentscheidung betroffenen Bürger ein beschwerdefähiges Recht zu Gebote steht. Art. 97 enthält eine objektiv-rechtliche Verpflichtung für den Gesetzgeber, Regelungen zum Schutz der richterlichen Unabhängigkeit zu erlassen, insb. um Richter vor Versuchen unzulässiger Einflussnahme zu schützen (BVerfGE 148, 69 (90, 92)). Diesem Auftrag entspricht die Pflicht der Richter, sich gegen derartige Versuche zur Wehr zu setzen. Ihnen obliegt es, sich von Einflüssen und Erwartungshaltungen Dritter frei zu machen und für das von ihnen als recht- und gesetzmäßig Erkannte einzutreten (BVerfGE 148, 69 (92)).

II. Sachliche Unabhängigkeit

1. Personelle Reichweite

Art. 97 I schützt die sachliche Unabhängigkeit aller Richter. Das sind alle Rspr. ausübende Personen, also alle Berufsrichter und ehrenamtlichen Richter, Bundes- und Landesrichter (BVerfGE 18, 241 (254); 26, 186 (201)). Der Richterbegriff des Art. 97 I deckt sich mit dem des Art. 92 (Art. 92 Rn. 6). Nicht erfasst von Art. 97 I sind hingegen Rechtspfleger (BVerfGE 56, 87 (127)).

2. Sachliche Reichweite

Sachliche Unabhängigkeit bedeutet, dass Richter in ihrer richterlichen Tätigkeit nicht an Weisungen gebunden sind (BVerfGE 26, 186 (198); 87, 68 (85); 139, 245 (274); 148, 69 (91 f.)). Sie bezieht sich auf alle einem Richter übertragenen judikativen Aufgaben, nicht jedoch auf die Wahrnehmung von Justizverwaltungsaufgaben (BVerfGE 38, 139 (152 f.)). Die sachliche Unabhängigkeit soll die rechtsprechende Gewalt insbes. vor Eingriffen der Exekutive und der Legislative schützen (BVerfGE 12, 67 (71)).

Die Unabhängigkeit des Richters von der Exekutive garantiert ihm, dass er seine Entscheidungen frei von Einzelweisungen, Verwaltungsvorschriften und sonstiger vermeidbarer, auch mittelbarer, subtiler oder psychologischer Einflussnahme der Exekutive treffen kann (BVerfGE 26, 79 (93); 38, 1 (21); 55, 372 (389); 139, 245 (274); 148, 69 (90)). Dies gilt nicht nur für den Entscheidungsausspruch, sondern für alle dem Verfahren dienenden und es vorbereitenden Verfahrensentscheidungen, wie etwa Terminbestimmungen oder Fristsetzungen (BVerwGE 46, 69 (71); BGHZ 67, 184 (189)). Insbes. darf die Dienstaufsicht gem. § 26 II DRiG keine Maßregelung für eine konkrete richterliche Entscheidung treffen (BVerfGE 38, 139 (151 f.)). Sie erstreckt sich aber zulässigerweise auf eine offensichtlich fehlerhafte Amtsausübung eines Richters (BGHZ 67, 184 (187 f.)).

Die Unabhängigkeit des Richters von der Legislative befreit ihn nicht von der Pflicht, seine Entscheidung an den geltenden Gesetzen zu orientieren, sondern soll verhindern, dass die gesetzgebende Gewalt unmittelbar Einfluss auf die Entscheidung konkreter Fälle in laufenden Gerichtsverfahren nimmt (DHS/Hillgruber Art. 97 Rn. 92).

Die sachliche Unabhängigkeit gilt auch gegenüber der Judikative selbst (BVerfGE 148, 69 (94); DHS/Hillgruber Art. 97 Rn. 24; Sachs/Detterbeck Art. 97 Rn. 14; aA BVerfGE 12, 67 (71)). Richter dürfen von den Entscheidungen übergeordneter Gerichte in anderen Verfahren abweichen und ihre bisherige Rspr. ändern oder aufgeben. Gleichwohl bestehende Bindungen des Richters an andere gerichtliche Entscheidungen (Rechtskraft, Tatbestandwirkung etc) beeinträchtigen die sachliche Unabhängigkeit nicht, soweit sie Ausdruck typischer und traditioneller Funktionsbedingungen der rechtsprechenden Gewalt sind und zum Wesen der richterlichen Tätigkeit gehören (Jarass/Pieroth/Kment Art. 97 Rn. 9; Dreier/Schulze-Fielitz Art. 97 Rn. 42).

Fraglich ist, ob und inwieweit Art. 97 I den Richter auch vor gesellschaftlicher Einflussnahme schützt. Hält man sich Sinn und Zweck der richterlichen Unabhängigkeit vor Augen, müssen Richter auch vor Pressionen aus dem privaten und gesellschaftlichen Raum freibleiben (BVerfGE 148, 69 (90); Sachs/Detterbeck Art. 97 Rn. 17 f.; DHS/Hillgruber Art. 97 Rn. 93; aA Sendler NJW 2001, 1909 ff.). Öffentliche Kritik an einzelnen Verfahren und Entscheidungen, die dem Schutz des Art. 5 I unterfällt, ist aber zulässig.

3. Gesetzesbindung

Art. 97 I bindet die Richter allein an die Gesetze. Darunter sind das Verfassungsrecht, förmliche Gesetze, ordnungsgemäß erlassene RVOen, autonome Satzungen und Gewohnheitsrecht zu verstehen (BVerfGE 18, 52 (59); 78, 214 (227)). Die Bindung des Richters an das Gesetz hindert ihn nicht an einer Rechtsfortbildung des geltenden Rechts durch Rechtsauslegung (BVerfGE 111, 54 (82); 19, 166 (176)). Grenzen sind der Rechtsfortbildung dort gesetzt, wo sie die Auslegungsfähigkeit und -bedürftigkeit einer Norm überschreitet und das Rechtsstaatsprinzip verletzt (BVerfGE 111, 54 (82)).

III. Persönliche Unabhängigkeit

1. Personelle Reichweite

Persönlich unabhängig sind gem. Art. 97 II 1 nur hauptamtlich und planmäßig angestellte Richter, die keine andere Haupttätigkeit ausüben und auf eine Planstelle berufen sind. Nicht erfasst sind ehrenamtliche Richter, Richter auf Probe (§ 12 DRiG) und Richter kraft Auftrags (§ 14 DRiG), ehrenamtliche Richter (§ 44 DRiG) und Richter im Nebenamt (BVerfGE 148, 69 (93 f.)). Die hauptamtliche und planmäßige Anstellung des Richters erfordert keine Ernennung auf Lebenszeit (BVerfGE 148, 69 (100 f.)). Es genügt, dass der Richter für die Dauer seiner Amtszeit in eine Planstelle eingewiesen ist (BVerfGE 4, 331 (344 f.)).

Die persönliche Unabhängigkeit der nicht von Art. 97 II erfassten Richter steht nicht zur freien Disposition des Gesetzgebers. Denn die sachliche Unabhängigkeit wird durch die persönliche Unabhängigkeit bedingt. Die persönliche Unabhängigkeit eines jeden Richters muss deshalb so weit gesichert sein, dass die sachliche Unabhängigkeit gewährleistet bleibt (BVerfGE 14, 57 (70)). Dieses Mindestmaß an persönlicher Unabhängigkeit folgt jedoch nicht aus Art. 97 II, sondern aus Art. 33 V (BVerfGE 55, 372 (391 f.)).

2. Sachliche Reichweite

Aufgrund ihrer persönlichen Unabhängigkeit dürfen Richter gem. Art. 97 II 1 gegen ihren Willen vor Ablauf ihrer Amtszeit (Art. 97 II 2) nur aus ihrem Amt entlassen, ihres Amtes enthoben, auf eine andere Stelle oder in den Ruhestand versetzt werden, wenn dem eine richterliche Entscheidung zugrunde liegt, die auf einer gesetzlichen Grundlage beruht ( Grundsatz der Inamovibilität; BVerfGE 148, 69 (93)). Art. 97 II schützt nicht nur vor den förmlichen Maßnahmen der Entlassung, der Amtsenthebung oder der Versetzung in den Ruhestand, sondern auch vor solchen, die eine vergleichbare Wirkung haben. So darf etwa der Geschäftsverteilungsplan eines Gerichts nicht so ausgestaltet sein, dass ein Richter von der Rspr. ferngehalten wird (BVerfGE 17, 252 (259 f.)). Da die Wahrnehmung von Aufgaben der Exekutive durch den Richter nicht vom Schutzumfang des Art. 97 erfasst ist, stellt der Entzug solcher Aufgaben keinen Eingriff in die persönliche Unabhängigkeit eines Richters dar (BVerfGE 38, 139 (152 f.)). Art. 97 II 3 gestattet eine Richterversetzung unter Belassung des vollen Gehaltes bei einer Veränderung der Gerichtsorganisation. Art. 97 II 2 ermächtigt den Bundes- und die Landesgesetzgeber zur Festsetzung von Altersgrenzen für die Versetzung von Lebenszeitrichtern in den Ruhestand. Der Bundesgesetzgeber hat in § 48 DRiG von dieser Ermächtigung Gebrauch gemacht. Richter im Bundesdienst treten nach Vollendung des 67. Lebensjahres in den Ruhestand. Für Richter im Landesdienst gelten entspr. landesrechtliche Regelungen (vgl. § 76 I DRiG). Die richterliche Unabhängigkeit muss zudem durch ihre Besoldung gewährleistet werden, da die Art und Weise der Besoldung und Versorgung eines Richters von erheblicher Bedeutung ist für das innere Verhältnis des Richters zu seinem Amt und für die Unbefangenheit, mit der er sich seine Unabhängigkeit bewahrt (BVerfGE 139, 64 (122)). Die wirtschaftliche Absicherung soll der Gefahr vorbeugen, dass Richter durch den Zwang, außerhalb der Richtertätigkeit zusätzlich für ihren Lebensunterhalt sorgen zu müssen, in wirtschaftliche Abhängigkeit geraten (BVerfGE 148, 69 (92)).