Artikel 41 [Wahlprüfung]
(1) 1 Die Wahlprüfung ist Sache des Bundestages. 2 Er entscheidet auch, ob ein Abgeordneter des Bundestages die Mitgliedschaft verloren hat.
(2) Gegen die Entscheidung des Bundestages ist die Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht zulässig.
(3) Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.
I. Wahlprüfung – Gegenstand
In der Wahlprüfung (Art. 41 I 1) wird die Rechtsgültigkeit von Wahlen (§ 1 I WPG) kontrolliert – sowie von Volksentscheiden, (BVerfGE 42, 53 (63)), zum BT, nicht zu anderen Volksvertretungen (vgl. BVerfGE 85, 148 (157)). Dies gilt für sämtliche („der“ Wahlen) oder einzelne Ergebnisse des Wahlvorgangs (Art. 39 Rn. 1, 4; §§ 12 ff. BWG), iSd Wahl einzelner, von Gruppen oder sämtlicher Abgeordneter. Parlamentsinterne Wahlen wie auch die des BPräsidenten unterliegen der Wahlprüfung nicht. Eine Gesamtwahl ist nur darauf zu überprüfen, ob wegen der Schwere von Wahlrechtsverstößen (vgl. BVerfGE 103, 111 (134 f.)) oder wegen Verfassungswidrigkeit von Wahlnormen (BVerfGE 3, 45 (52 f.)) überhaupt Mandate gültig erlangt werden konnten. Soweit dies nicht der Fall ist, tritt sogleich Mandatsverlust mit Wirksamwerden der Wahlprüfungsentscheidung ex nunc ein (§§ 47 II BWG, 16 I WPG); die Gültigkeit früher gefasster BTags-Beschlüsse bleibt jedoch unberührt (BVerfGE 41, 44). Die „Wahl“ iSv §§ 16–48 BWG muss also vor Wirksamwerden der Wahlprüfungsentscheidung abgeschlossen sein (BVerfGE 63, 73 (76)), und diese kann nach Ablauf der Wahlperiode (Art. 39 II) nicht mehr wirken, die Wahlprüfung nicht mehr fortgesetzt werden.
Geregelt wird die Wahlprüfung „näher“ (Art. 41 III) durch Bundesgesetze: das BWG bestimmt die Wahlsysteme (§§ 1–7) (Art. 38 Rn. 34), die Wahlorgane (§§ 8–11), die Wahlvorbereitung (§§ 16–30), die Wahlhandlung (§§ 31–36), die Feststellung des Wahlergebnisses (§§ 37–42) sowie etwaige Nach- und Wiederholungswahlen (§§ 43, 44); die Bundeswahlordnung konkretisiert dies weiter. Das WPG regelt im Einzelnen das Verfahren vor dem BT (Art. 41 I 1), das BVerfGG (§§ 13 Nr. 3, 48) das Beschwerdeverfahren nach Art. 41 II. Da Art. 41 nur allg. Kompetenzregelungen enthält, müssen alle näheren Maßstäbe der Wahlprüfung, formeller und materieller Art, den Gesetzen entnommen werden; sie sind ihrerseits am GG, insbes. an Art. 38 ff. zu messen (BVerfGE 16, 130 (135 f.); 21, 200 (204)). Diese weitestgehende „Wahlprüfung nach Gesetz“ ist nicht unbedenklich – wie überhaupt die Enthaltsamkeit des GG im Bereich des Wahlrechts, das doch zum Kern des Demokratieprinzips (Art. 20 I, II) gehört.
Gegenstand der Wahlprüfung können alle Vorgänge mit unmittelbarem Bezug auf das Wahlverfahren (§§ 12–48 BWG) sein (BVerfGE 74, 96 (101)), welche geeignet sind, objektiv-organrechtlich die Gesetzmäßigkeit der Zusammensetzung des BTags (BVerfGE 1, 208 (238); 66, 369 (378) – stRspr) oder subjektivrechtlich die Ausübung des aktiven oder passiven Wahlrechts zu beeinträchtigen (BVerfGE 85, 148 (159); vgl. bereits BVerfGE 22, 277 (281)), wobei die Wahlprüfung als Massenverfahren den letzteren Gesichtspunkt unter Umständen zurücktreten lässt (BVerfGE 14, 154 (155); 34, 81 (97)). Alle Arten von Verstößen kommen in Betracht. Entscheidend ist die Schwere der Wahlrechtsverletzung und deren Kausalität für das Ergebnis der Mandatszuteilung(en). „Mandatsrelevanz“ des Wahlrechtsverstoßes ist erforderlich (BVerfGE 4, 370 (372 f.); 89, 291 (304) – stRspr), wobei eine nach der Lebenserfahrung nicht ganz fernliegende (mögliche) Kausalität genügt (BVerfGE 89, 243 (254); 89, 291 (304)). Eine solche Wahlrechtsverletzung kann von Wahlorganen (§§ 8 ff. BWG), von anderen Behörden oder Privaten (Parteien) begangen sein (§§ 21, 27 BWG, § 17 PartG – Kandidatenaufstellung – vgl. BVerfGE 8, 243 (251)).
Die Möglichkeit einer Wahlprüfung verbietet, soweit sie reicht, andere rechtliche Überprüfungen dieser Vorgänge (Ausschließlichkeitsprinzip), im Wege der Verfassungsbeschwerde (Art. 93 I Nr. 4a) oder durch sonstige Gerichte (Art. 19 IV) (BVerfGE 14, 154 (155); 66, 232 (234); 74, 96 (101) – stRspr). Dies steht allerdings Verfassungsbeschwerden gegen Wahlrechtsnormen nicht entgegen (BVerfGE 57, 43 (55)); diese können auch Gegenstand von Organstreitverfahren (Art. 93 I Nr. 1) mit dem BT oder dessen Präsidenten (BVerfGE 82, 322 (335 f.); 82, 353 (363 ff.)) sein. Im Übrigen ist aber die Rechtsbehelfsbeschränkung nach § 49 BWG verfassungsgemäß (BVerfGE 11, 29 f.; 74, 96 (101) – stRspr). Gegen andere behördliche Entscheidungen, die subjektive Rechte, insbes. das aktive oder passive Wahlrecht verletzen können, ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet, etwa wegen Nichteintragung in Wählerlisten für künftige Wahlen (BVerwGE 51, 69 (71 ff.)) oder bei Berufung zum Beisitzer im Wahlvorstand (BVerwG NJW 2002, 2263).
II. Wahlprüfungsverfahren vor dem Bundestag
Vor dem BT als „erster Instanz“ des Wahlprüfungsverfahrens (BVerfGE 2, 300 (306); Drossel/Schemmel NVwZ 2020, 1318) kann das Verfahren nur durch Einspruch eröffnet werden, schriftlich innerhalb einer Ausschlussfrist von zwei Monaten nach dem Wahltag, vom BTags-Präsidenten auch nachher noch binnen einem Monat nach Bekanntwerden möglicher Wahlmängel (§ 2 I WPG). Der Einspruch ist substantiiert zu begründen (BVerfGE 85, 148 (159)); er bestimmt den Gegenstand des Verfahrens (BVerfGE 40, 11 (30); 66, 369 (378)). Einspruchsberechtigt ist jeder Wahlberechtigte oder eine Gruppe von solchen sowie Bundes- und Landeswahlleiter und der BTags-Präsident (§ 2 II WPG). Über den Einspruch entscheidet der Wahlprüfungsausschuss (vgl. Zusammensetzung § 3, Verfahren §§ 5 ff. WPG), der richterliche Befugnisse (Beeidigung § 5 III WPG) hat. Seine Mitglieder können aber nicht wegen Befangenheit abgelehnt werden (BVerfGE 37, 84 (90); 46, 196 (198)). Dies verstößt, angesichts der richterlichen Befugnisse und naheliegender Möglichkeit von Vorteilen der Mitglieder (Abgeordneten) durch die Entscheidung des Ausschusses gegen die Rechtsstaatlichkeit (krit. auch MKS/Achterberg/Schulte Art. 41 Rn. 24).
Der Wahlprüfungsausschuss schlägt dem BT eine Entscheidung vor (§ 11 WPG). Dieser kann darüber mit einfacher Mehrheit entscheiden. Stimmt er nicht zu, so gilt dies als Rückverweisung an den Ausschuss. Einen erneuten Vorschlag desselben kann der BT nur durch Annahme eines anderen Antrags im BT – auch auf Nichtzustimmung – ablehnen (§ 13 WPG). Wahlprüfungsausschuss und BT sind dabei an geltendes Gesetzesrecht gebunden.
III. Wahlprüfungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht gem. Abs. 2
Gegen die Entscheidung des BTags können der Abgeordnete, dessen Mandat bestritten ist, unterstützt durch einhundert andere Wahlberechtigte, eine Fraktion oder ein Zehntel der Mitglieder des BTags, Beschwerde zum BVerfG erheben (§ 48 I BVerfGG). Diese Beschränkung des Beschwerderechts entspricht dem GG (BVerfGE 1, 430 (432 f.); 79, 47 (48)), ebenso die Nichtzulassung von Gruppen von Wahlberechtigten, auch von Parteien (BVerfGE 2, 300 (303 f.); 59, 176 (177)). Die Beschwerde muss innerhalb von zwei Monaten seit Beschlussfassung des BTags eingelegt und substantiiert begründet werden (BVerfGE 21, 359 (360 f.)). Dieser Fristlauf setzt allerdings Kenntnis(möglichkeit) vom Fristbeginn voraus. Die Frist kann vom BVerfG nicht verlängert werden (BVerfGE 1, 430 (431); 21, 359 (361 f.)), sie gilt auch für einen Beitritt zum Verfahren (BVerfGE 1, 430 (431); 66, 311 (312)).
Der Gegenstand des Verfahrens wird durch den Einspruch und dessen Begründung bestimmt (BVerfGE 16, 130 (144); 79, 161 (165)). Das Verfahren kann auch nach Rücknahme des Einspruchs im öffentlichen Interesse fortgesetzt werden (BVerfGE 89, 391 (399)). In ihm urteilt das BVerfG über die Einhaltung aller verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Wahlprüfungsbestimmungen (BVerfGE 89, 243 (249); 979, 317 (321 f.)), und auch über deren Verfassungsmäßigkeit (BVerfGE 16, 130 (135 f.); 21, 200 (204)).
IV. Mandatsverlustprüfung
Der Erwerb eines Mandates (§ 45 BWG) ist gem. Art. 41 I 2 Gegenstand der Wahlprüfung wie auch die Feststellung der Ungültigkeit der Gesamtwahl (§ 46 I 1 BWG). Kommt es zu Mandatsverlust durch Neufeststellung des Wahlergebnisses, so soll der Ältestenrat darüber entscheiden (§ 47 I Nr. 2, III BWG). Insoweit ist er beschließender Ausschuss, was aber durch Art. 41 III gedeckt ist, weil es sich aus dem BWG, nicht aus der GeschOBTag ergibt (Art. 40 Rn. 7, 8). Im Übrigen gelten die Wahlprüfungsbestimmungen auch für späteren Mandatsverlust. Wenn nicht bereits BTags-Ältestenrat oder BTags-Präsident über den Mandatsverlust entschieden haben, kann der entspr. Antrag (Rn. 6) jederzeit gestellt werden (§ 15 WPG). Bis zur Rechtskraft der Entscheidung behält der Abgeordnete seine Rechte und Pflichten. Der BT kann aber mit 2/3 -Mehrheit seiner Mitglieder beschließen, dass jener inzwischen nicht an den Arbeiten des BTags teilnehmen darf. Dasselbe kann das BVerfG im Beschwerdeverfahren durch Eilantrag anordnen (§§ 15, 16 BWG).
V. Rechtsfolgen von Wahlrechtsverstößen
Das gesamte Wahlprüfungsverfahren vor dem BT wie dem BVerfG steht unter dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Vor Feststellung eines Wahlrechtsverstoßes ist unter Umständen eine mögliche Nachprüfung durchzuführen, etwa durch Nachzählen der Stimmen (BVerfGE 85, 148 (160 f.)). Wird ein Fehler festgestellt, so sind, soweit möglich, nur dessen Folgen zu beheben (Verbesserungsprinzip; BVerfGE 34, 81 (102)). Nur bei erheblichen Fehlern ist eine Wahl als solche nichtig (BVerfGE 103, 111 (134)).