Artikel 65 [Verantwortung]
1 Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. 2 Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung. 3 Über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern entscheidet die Bundesregierung. 4 Der Bundeskanzler leitet ihre Geschäfte nach einer von der Bundesregierung beschlossenen und vom Bundespräsidenten genehmigten Geschäftsordnung.
I. Bedeutung: Kompetenzabgrenzung
Art. 65, eine für die vollziehende Gewalt zentrale Vorschrift, bringt nicht eine „Gewaltenteilung innerhalb der Exekutive“, sondern eine allg. Kompetenzabgrenzung zwischen den durch sie gebundenen Verfassungsorganen BKanzler, BReg, BMinister und für deren Zusammenwirken. Insoweit sind hier Kanzler- (Rn. 2 ff.), Kabinetts- (Rn. 11 ff.) und Ressortprinzip (Rn. 6 ff.) kombiniert. Andere grundgesetzliche Kompetenzzuweisungen sind vorrangig, gesetzliche in ihrem Rahmen zu beachten. Art. 65 ist eine Rechtsnorm, nach deren Inhalt sich die „politische Praxis“ zu richten hat – nicht umgekehrt.
II. Richtlinienbestimmung durch den Bundeskanzler (S. 1)
Die „Richtlinien der Regierungspolitik“ bestimmt der BKanzler ( „Kanzlerdemokratie“, vgl. Schenke JZ 2015, 2009), wobei er an Gesetz und Recht gebunden ist (Art. 20 III). Der Begriff lässt sich durch Worte wie „Leitlinien“, „Richtungsweisung“, „Planung“ oder gar „Führung“ nicht rechtlich fassbar bestimmen. Er beinhaltet alle grdl. Entscheidungen im Gesamtbereich der Regierung iSd vollziehenden Gewalt, für welche der BKanzler die Verantwortung gegenüber dem BT trägt. Was insoweit „grundlegend“ ist, bestimmt daher allein der BKanzler, allg. oder im Einzelfall. Parlamentarisch verantwortlich gemacht werden kann er aber darüber hinaus durch freie Entscheidung des BTags auch für jedes Verhalten der BReg oder einzelner BMinister (Art. 67, 68).
Richtlinien können einen ausfüllungsbedürftigen Rahmen (vgl. § 4 GeschOBReg) oder eine oder mehrere Einzelfallentscheidungen zum Inhalt haben, je nach dem Willen des BKanzlers, der darin bis zu – äußersten – Grenzen offensichtlichen Missbrauchs (BVerfGE 114, 121 – Auflösung) frei ist. Auch ein „Einzelfall“ – ein hier schwer abgrenzbarer Begriff – kann die gesamte Politik des BKanzlers in Frage stellen. Eine Form ist für die Richtlinienentscheidung nicht erforderlich; sie muss nur als solche erkennbar sein.
Bei der Richtlinienbestimmung ist der BKanzler an Gesetz und Recht gebunden (Art. 20 III), nicht aber an Willensäußerungen von BMinistern, der BReg oder politischer Parteien, auch nicht an Koalitionsvereinbarungen. Entscheidend ist letztlich sein faktisches persönliches Prestige und seine politische Stellung; er kann diese aber durch entschlosssene Richtlinienpolitik stärken.
Verbindlichkeit der Richtlinien besteht gegenüber den BMinistern und der BReg (str.; vgl. MKS/Schröder Art. 65 Rn. 25) sowie allen nachgeordneten Exekutivorganen, nicht aber gegenüber Gerichten und Bürgern. Durchgesetzt werden sie durch Entlassung(sdrohung)en gegenüber BMinistern sowie durch Verwaltungsanweisungen und Disziplinarverfügungen gegenüber weisungsgebundenen Exekutivorganen.
III. Leitung der Geschäftsbereiche durch die Bundesminister (S. 2)
Eine verfassungsrechtliche Doppelstellung hat jeder BMinister (Art. 64): Er ist Mitglied der BReg (Art. 63, 65 S. 3) sowie selbstständiger Geschäftsbereichsleiter (Art. 65 S. 2), verwirklicht damit Kabinett- und Ressortprinzip in Personalunion; dies ist seine einheitliche öffentlich-rechtliche Amtstellung (§ 1 BMinG). Bleiben muss ihm jedenfalls etwas von „selbstständiger Ressortleitung“, das diesen Namen verdient.
Geschäftsbereich ist ein sachlich oder regional abgegrenzter rechtlicher Tätigkeitsbereich; er kann mehrere, nicht notwendig sachlich zusammenhängende Komplexe umfassen, darf aber nicht auf Regierungsmitgliedschaft beschränkt werden (arg. „jeder BMinister“ Art. 64 S. 2); dies begründet Bedenken gegen BMinister ohne (jeden) Geschäftsbereich. Im Geschäftsbereich hat der BMinister die Organisations-, Personal-/Weisungs- und Mittelbewirtschaftungsgewalt. Ein behördlicher Unterbau ist nicht nötig (Planungsminister), hierarchischer Aufbau zulässig, aber nicht erforderlich.
Der Tätigkeits-(Kompetenz-)Bereich wird inhaltlich durch die Gesetzgebung, den BKanzler und die BReg (Rn. 11 ff.), formell durch die Organisationsgewalt des BKanzlers (Art. 64 Rn. 4 ff.) bestimmt. In ihm stehen dem jew. BMinister Gegenzeichnungs- (Art. 58) und VO-Gebungsrecht (Art. 80) zu.
Bei der „selbstständigen Ressortleitung“ hat der BMinister die verfassungsmäßigen Gesetze zu beachten (Art. 20 III). Beschränkt ist er in seinen Entscheidungen durch das Richtlinienrecht des BKanzlers nach Art. 65 S. 1 (Rn. 1 ff.) und Entscheidungen der Regierung nach Art. 65 S. 3 (Rn. 11 ff.) sowie solchen, die nach GG oa Gesetzen „der BReg“ obliegen (vgl. §§ 15 I, 28 GeschOBReg – bedenklich: bei „allen Angelegenheiten von besonderer Bedeutung“). Diese Bindungen gelten nicht für die einem BMinister durch das GG speziell zugewiesenen Zuständigkeiten, Art. 96 II, 112 und 114 I, wohl aber für Art. 65a, da diese Kompetenz dort nicht in einer mit ihnen uU unvereinbaren Weise ausgestaltet ist. Gegenüber Richtlinien- und Regierungsentscheidungen, welche die selbstständige Ressortleitung beschränken, steht dem zuständigen BMinister jedenfalls das Durchführungs-(Durchsetzungs)recht zu. Weisungsrechte des BKanzlers zur Durchsetzung der Richtlinien oder von Beschlüssen der BReg sind demgegenüber subsidiär. Vorgaben durch die gemeinsame GeschO der BMinisterien (GMBL. 2000, 526) sind durch die Zustimmung der BMinister gedeckt.
Die „eigene Verantwortung“ bei der Ressortleitung beschränkt sich gegenüber dem BT auf die Erscheinensverpflichtung bei Sitzungen (Art. 43 I), gegenüber BKanzler und BReg auf die Achtung der Beschränkungen nach Rn. 9. Sanktionsbefugt ist nur der BKanzler durch Entlassung (Art. 64 I).
IV. Kompetenzen der Bundesregierung (S. 3, 4)
Nach Art. 65 S. 3 ist die BReg ein eigenständiges Organ (Art. 62 I – Kabinettsprinzip). Zuständig ist sie nur für die (nicht schon im Vorfeld von) ressortübergreifenden, zwischen BMinister, nicht zwischen diesen und dem BKanzler, strittigen Fragen (§ 17 GeschOBReg) sowie in allen „der BReg“ durch GG und verfassungsmäßige Gesetze zugewiesenen Fällen. Sie lassen sich nicht systematisieren.
Die GeschOBReg (Art. 65 S. 4) kann Kompetenzzuweisungen zur BReg durch das GG nicht abändern, solche durch Gesetz lediglich mit Innenwirkung gegenüber BPräsident, BKanzler, BMinister, BReg; dadurch dürfen aber die satzungsrechtlichen Kompetenzen dieser Organe, die Richtlinien- oder das Ressortleitungsrecht, nicht eingeschränkt werden. Verfassungsmäßig sind Regierungsbeschlüsse von allg. (§ 15 GeschOBReg) oder frauenpolitischer (§ 15a GeschOBReg) Bedeutung, soweit die Fragen zwischen BMinistern strittig sind.
Durch Art. 65 S. 1 und 4. – so das BVerfG (BVerfGE 162, 207) – bringt das Grundgesetz die besondere politische Führungsrolle des Bundeskanzlers in der Bundesregierung zum Ausdruck (vgl. nur HStR III/Detterbeck § 66 Rn. 12 ff.; Krüper/Pilniok/Hilbert/Hilbert S. 91 (105); jeweils mwN). Der Bundeskanzler wirkt in der Regel entscheidend an der Aufgabe der Regierung zur Staatsleitung mit, aus der jene Autorität und Ressourcenvorteile erwachsen, die für die Bindung an den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien (aus Art. 21) und die sich daraus ergebenden Neutralitätspflichten ursächlich sind (vgl. BVerfGE 138, 102 (115); 148, 11 (28); 154, 320, (337); vgl. auch BVerfGE 162, 207 (235 f.)).
Aus einer Zuständigkeit zur „Staatsleitung“ (vgl. zur Staatsleitung als Leitung des Ganzen der inneren und äußeren Politik BVerfGE 138, 102 (114) mwN) sollen sich für die BReg „konkrete Aufgaben außerhalb der Administration“ ergeben (BVerfGE 105, 252 (258 ff.); 105, 279 (301 ff.)), etwa eine Informationspflicht gegenüber der Öffentlichkeit. Dies überzeugt aber nicht, der Begriff ist ungeklärt und uneingrenzbar. Solche Öffentlichkeitsarbeit ist idR Annexkompetenz anderer Zuständigkeiten.
Dem Bundeskanzler sind mit Blick auf seine besondere Stellung innerhalb der Bundesregierung und insbesondere die ihm nach Art. 65 Satz 1 GG zustehende Richtlinienkompetenz gegenständlich weitergehende Äußerungsrechte zuzugestehen als den Bundesministern, die vorrangig auf ihren jeweiligen Ressortbereich beschränkt sind (vgl. Art. 65 Satz 2 GG; Nellesen, Äußerungsrechte staatlicher Funktionsträger, 2019, S. 202). Es liegt deshalb nahe, seine Äußerungsbefugnisse auf alle der Bundesregierung als Kollegialorgan zugeschriebenen Staatsleitungsaufgaben im Sinne einer politischen Allzuständigkeit (vgl. Voßkuhle/Schemmel JuS 2020, 736 (738)) zu erstrecken. Selbst wenn der Bundeskanzler sich zu allen politischen Fragen namens der Bundesregierung äußern darf, entbindet ihn dies nicht von der Pflicht, den Anspruch der Parteien auf Chancengleichheit (Art. 21 Rn. 17a) im politischen Wettbewerb und damit das Neutralitätsgebot zu beachten (BVerfGE 162, 207 (236 f.)).
Die BReg ist – entgegen verbreiteter Auffassung (zB Sachs/Oldiges/Brinktrine Art. 65 Rn. 36) – an die Richtlinien des BKanzlers gebunden, aber weder ihm noch dem BT „verantwortlich“. Die Ressortleitung der BMinister muss die BReg achten; sie ist kein allg. „Koordinationsorgan“ zwischen ihnen. Ein Organisationsrecht (Kabinettsausschüsse) hat sie nur im Rahmen von Rn. 1–4.
Mit Mehrheit entscheidet die BReg, bei Stimmengleichheit entscheidet die Stimme des Vorsitzenden (§§ 24, 22 I GeschOBReg). Ihre Geschäfte führt der BKanzler. Das Widerspruchsrecht von BMF, BMJ, BMI (§ 26 GeschOBReg) – ausübbar nur in deren jew. Zuständigkeitsrahmen – ist verfassungsgemäß, aber durch die Stimme des BKanzlers überwindbar, der damit (implizit) eine Richtlinienentscheidung trifft.
Die GeschOBReg beruht auf autonomem Recht des BTags zur inneren Ordnung; dem BPräsidenten steht bei der Genehmigung ein formelles und materielles Prüfungsrecht ihrer Verfassungsmäßigkeit zu.