Zur Startseite navigieren

Artikel 92 [Rechtsprechende Gewalt]

Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut; sie wird durch das Bundesverfassungsgericht, durch die in diesem Grundgesetze vorgesehenen Bundesgerichte und durch die Gerichte der Länder ausgeübt.

I. Allgemeines

Mit Art. 92 beginnt der IX. Abschn. des GG, der die verfassungsrechtlichen Grundlagen für die Organisation der Gerichtsbarkeit und der Rechtsstellung der Richter sowie grundrechtsähnliche Rechtsverbürgungen zugunsten des Einzelnen in Bezug auf die Justiz enthält. Die rechtsprechende Gewalt ist für den Rechtsstaat von konstitutiver Bedeutung. Sie sichert den Rechtsfrieden, gewährleistet Rechtsschutz und Rechtssicherheit.

Art. 92 Hs. 1 konkretisiert den Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 II 2), da er die Judikative als dritte Gewalt (BVerfGE 22, 49 (76); 148, 69 (88)) neben die beiden anderen Staatsgewalten, die Legislative und die Exekutive, stellt. Er weist die rechtsprechende Gewalt ausschließlich den Richtern zu. Der rechtsprechenden Gewalt sind durch Art. 92 alle Aufgaben zugewiesen, die die Verfassung selbst an anderer Stelle den Gerichten überträgt (BVerfGE 22, 49 (76 f.)). Art. 92 Hs. 1 schirmt die rechtsprechende Gewalt stärker von Einwirkungen ab als die anderen Gewalten. Akte der Rspr. können durch Träger der anderen Gewalten nicht abgeändert werden, während die Gerichte Akte der anderen Gewalten für nichtig erklären oder aufheben können. Art. 92 Hs. 2 bestätigt für die Rspr. die grds. Kompetenzzuweisung des Art. 30 an die Länder, weist jedoch die Kompetenz zur Errichtung von Bundesgerichten dem Bund zu und trifft damit eine anderweitige Regelung iSv Art. 30 Hs. 2 (Art. 30 Rn. 4).

II. Zuweisung der rechtsprechenden Gewalt

1. Rechtsprechende Gewalt

Art. 92 Hs. 1 setzt den Begriff der rechtsprechenden Gewalt voraus, ohne dass er im GG definiert wird. Aus Art. 92 Hs. 1 folgt aber (im Gegensatz zu Art. 103 WRV), dass das GG von einem materiell-funktionellen Begriff der rechtsprechenden Gewalt ausgeht (BVerfGE 22, 49 (73); 103, 111 (137)). Verstünde man den Begriff der Rspr. in einem formellen Sinn als die Summe der den Gerichten gesetzlich zugewiesenen Funktionen, würde allein der Gesetzgeber über den Umfang der rechtsprechenden Gewalt iSv Art. 92 entscheiden. Da das GG einer Aushöhlung und Pervertierung der Rspr., wie unter dem NS-Regime geschehen, strikt entgegenwirken will, kann die rechtsprechende Gewalt als Kontrollgewalt für die übrigen Gewalten nicht zur Disposition des einfachen Gesetzesgebers stehen (BVerfGE 22, 49 (75)). Ebenso wenig liegt Art. 92 eine allein organisationsrechtliche Betrachtung zugrunde, wonach dann rechtsprechende Gewalt ausgeübt wird, wenn ein staatliches Gremium mit unabhängigen Richtern iSd Art. 92 ff. besetzt ist (BVerfGE 103, 111 (137)). Sinn und Zweck des IX. Abschn. des GG, der für den Bereich der Rspr. eine besondere Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Willensbildung im System der Gewaltenteilung gewährleisten will (BVerfGE 22, 49 (75)), entspräche es nicht, allein aus der Besetzung eines staatlichen Gremiums mit Richtern auf die Ausübung rechtsprechender Gewalt zu schließen (BVerfGE 103, 111 (137)).

Um Rspr. im materiellen Sinn handelt es sich, wenn bestimmte hoheitsrechtliche Befugnisse bereits durch die Verfassung Richtern zugewiesen sind oder es sich von der Sache her um einen traditionellen Kernbereich der Rspr. handelt (BVerfGE 22, 49 (76 f.); 103, 111 (137)). Zu den Bereichen, die traditionell der Rspr. zugeordnet werden, weil sie wegen der Schwere des Eingriffs und ihrer Bedeutung für den Bürger der Sicherung in einem gerichtlichen Verfahren bedürfen, zählen etwa die Strafgerichtsbarkeit und die bürgerliche Rechtspflege. Der Gesetzgeber kann in gewissem Umfang den Bereich der materiellen Rspr. verändern, indem er die Materie, die der Rspr. unterliegt, verändert. So kann er etwa die Wertung des Unrechtsgehalts einer Tat ändern und einen strafrechtlichen Tatbestand in eine bloße Ordnungswidrigkeit umwandeln (BVerfGE 27, 18 (28)). Daneben dürfen dem Richter bei funktioneller Betrachtung auch Aufgaben zugewiesen werden, die traditionell nicht zu den Aufgaben der Gerichte gehören und deshalb nicht schon materiell dem Rspr.-Begriff unterliegen, solange das GG diese Aufgaben keiner anderen Gewalt vorbehält und der Gesetzgeber ein gerichtsförmiges Verfahren vorsieht, welches den dort zu treffenden Entscheidungen eine Rechtswirkung erteilt, die nur unabhängige Gerichte herbeiführen können (BVerfGE 103, 111 (137)). Zu den wesentlichen Begriffsmerkmalen der Rspr. idS gehört das Element der Entscheidung, der letztverbindlichen, der Rechtskraft fähigen Feststellung und des Ausspruchs dessen, was im konkreten Fall rechtens ist (BVerfGE 7, 183 (188 f.); 31, 43 (46); 60, 253 (269 f.); 138, 33 (39 f.)).

Art. 92 erfasst nur die staatliche rechtsprechende Gewalt (BK/Payandeh Art. 92 Rn. 280), nicht hingegen private Schiedsgerichte, Vereins-, Verbands- und Parteigerichte (BK/Payandeh Art. 92 Rn. 284 ff.). Für Gerichte, die von juristischen Personen des öffentlichen Rechts eingerichtet werden, zB für Gemeindegerichte oder für Berufsgerichte, gilt Art. 92, sofern diese Gerichte auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, der Erfüllung staatlicher Aufgaben dienen und ihre Bindung an den Staat in personeller Hinsicht ausreichend gewährleistet ist (BVerfGE 48, 300 (323)). Das setzt voraus, dass der Staat bei der Berufung der Richter mitwirkt (BVerfGE 48, 300 (315)).

2. Richter

Art. 92 Hs. 1 verlangt, dass Richter unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen sind (BVerfGE 4, 331 (344)). Das GG geht davon aus, dass die Rspr. durch besondere, von den Organen der übrigen Gewalten zu unterscheidende Institutionen ausgeübt wird. Daraus folgt, dass die richterliche Neutralität nicht durch eine mit Art. 92 unvereinbare personelle Verbindung zwischen Ämtern der Rechtspflege und Verwaltung in Frage gestellt werden darf (BVerfGE 54, 159 (166)). Die Stellung des Richters ist durch Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Unabsetzbarkeit gekennzeichnet (BVerfGE 26, 141 (154)). Diese Eigenschaften garantiert Art. 97 II den hauptamtlichen und planmäßig endgültig angestellten Richtern (Art. 97 Rn. 3 ff.). Die rechtsprechende Gewalt muss deshalb idR von solchen wahrgenommen werden (BVerfGE 14, 156 (162); zu Ausnahmen vgl. BVerfGE 4, 387 (406); 48, 300 (317)).

3. Rechtsprechungsmonopol

Die Ausübung der rechtsprechenden Gewalt ist durch Art. 92 Hs. 1 ausschließlich den Richtern zugewiesen. Es besteht ein Rspr.-Monopol der Richter und der Gerichte. Der Gesetzgeber darf deshalb eine Angelegenheit, die Rspr. iSv Art. 92 Hs. 1 ist, nicht anderen Stellen als Gerichten zuweisen (BVerfGE 103, 111 (136)). Es bestehen mithin Trennungsgebote von Rspr. und Gesetzgebung sowie von Rspr. und Verwaltung (BVerfGE 4, 219 (234); 10, 200 (216)). Umgekehrt dürfen den Funktionsträgern der rechtsprechenden Gewalt aber Aufgaben der Verwaltung durch Gesetz übertragen werden, sofern das GG deren Wahrnehmung nicht der Exekutive vorbehält (BVerfGE 64, 175 (179); 76, 100 (106)). Zudem darf durch die Zuweisung von Verwaltungsaufgaben der Charakter der Gerichte als besondere Organe der Staatsgewalt nicht beeinträchtigt werden. Zulässig ist daher nur eine Übertragung in geringem Umfang, wie etwa bei der Betrauung von Richtern mit Geschäften der Justizverwaltung (BVerfGE 148, 68 (88)).

III. Kompetenzverteilung

Art. 92 Hs. 2 weist die Kompetenz zur Errichtung der Bundesgerichte in Abweichung der allg. Gesetzgebungskompetenz der Länder (Art. 30) dem Bundesgesetzgeber zu. Der Bund darf nur die im GG abschließend aufgezählten Bundesgerichte (obligatorischer oder fakultativer Art; vgl. Art. 95 und Art. 96) errichten. Im Übrigen liegt die Kompetenz der Gerichtseinrichtung gem. Art. 30 bei den Ländern (BVerfGE 8, 174 (176)). Die Gerichtsverfassung ist von dieser Kompetenz nicht erfasst. Sie liegt ausschließlich beim Bund (Art. 74 I Nr. 1).