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Artikel 80a [Spannungsfall; Bündnisfall]

(1) 1 Ist in diesem Grundgesetz oder in einem Bundesgesetz über die Verteidigung einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung bestimmt, daß Rechtsvorschriften nur nach Maßgabe dieses Artikels angewandt werden dürfen, so ist die Anwendung außer im Verteidigungsfalle nur zulässig, wenn der Bundestag den Eintritt des Spannungsfalles festgestellt oder wenn er der Anwendung besonders zugestimmt hat. 2 Die Feststellung des Spannungsfalles und die besondere Zustimmung in den Fällen des Artikels 12a Abs. 5 Satz 1 und Abs. 6 Satz 2 bedürfen einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen.

(2) Maßnahmen auf Grund von Rechtsvorschriften nach Absatz 1 sind aufzuheben, wenn der Bundestag es verlangt.

(3) 1 Abweichend von Absatz 1 ist die Anwendung solcher Rechtsvorschriften auch auf der Grundlage und nach Maßgabe eines Beschlusses zulässig, der von einem internationalen Organ im Rahmen eines Bündnisvertrages mit Zustimmung der Bundesregierung gefaßt wird. 2 Maßnahmen nach diesem Absatz sind aufzuheben, wenn der Bundestag es mit der Mehrheit seiner Mitglieder verlangt.

I. Bedeutung der Norm

Art. 80a wurde durch die Notstandsverfassung (BGBl. 1968 I 709) in das GG eingefügt und befasst sich mit der Anwendbarkeit bestimmter Rechtsvorschriften, die für Zeiten des äußeren Notstandes konzipiert sind. Dabei unterscheidet Art.80a I–II drei Fälle des äußeren Notstands, nämlich den Verteidigungsfall, den Spannungs- und den Zustimmungsfall. Art.80a III regelt den sog. Bündnisfall. Die Vorschriften tragen der Erwägung Rechnung, dass uU Maßnahmen zur Herstellung der erhöhten Verteidigungsbereitschaft auch schon vor dem Verteidigungsfall getroffen werden müssen (Benda, Die Notstandsverfassung, 1968, 125). Für den inneren Notstand gilt Art. 80a nicht (Sachs/Mann Art. 80a Rn. 1).

II. Anwendung von Rechtsvorschriften für den äußeren Notstand

Vom Anwendungsbereich des Art. 80a I erfasst sind Rechtsvorschriften, die der Verteidigung, einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung, dienen und im normalen Gesetzgebungsverfahren zustande gekommen sind (sog. Notstandsvorsorgeregelungen ). Es braucht sich dabei nicht um formelle Gesetze zu handeln, auch RVOen und Einzelakte sind Rechtsvorschriften iSv Art. 80a I (MKS/Brenner Art. 80a Rn. 14; BK/Funke Art. 80a Rn. 55). Voraussetzung ist aber, dass im GG oder in einem anderen Bundesgesetz auf Art. 80a ausdrücklich verwiesen ist. Derartige Bezugnahmen des GG finden sich etwa in Art. 12a V 1, VI, 87a III; in einfachen Gesetzen sind dies zB § 3 ArbSG, § 2 VSG, § 1 ESVG sowie § 95 VwVfG (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 80a Rn. 4).

Ist auf Art. 80a Bezug genommen, dürfen Rechtsvorschriften – außer im Verteidigungsfall – nur angewandt werden, nachdem der Spannungsfall festgestellt ist oder der BT ihrer Anwendung besonders zugestimmt hat (Zustimmungsfall). Der Eintritt eines der beiden Fälle bewirkt also die Entsperrung der Rechtsvorschriften, die als Sicherstellungsgesetze mit dem Anwendbarkeitsjunktim nach Art. 80a versehen sind (Sachs/Mann Art. 80a Rn. 2). Anderes gilt für Vorsorgegesetze, die zur Vorbereitung einer verteidigungspolitischen Notlage getroffen werden (Seveke NZWehrr 2024, 14 (25 f.)); eine Entsperrung dieser Vorschriften ist nicht erforderlich (BK/Funke Art. 80a Rn. 22, 60 f.). Spannungs- und Zustimmungsfall sind Vorstufen des Verteidigungsfalls, die anders als dieser (vgl. Art. 115a) nicht legaldefiniert sind.

Der Spannungsfall ist die direkte Vorstufe des Verteidigungsfalls. Seine Feststellung setzt eine Zeit schwerer außenpolitischer Konfliktsituationen voraus, die den Eintritt des Verteidigungsfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit erwarten lässt (Friauf/Höfling/Grzeszick Art. 80a Rn. 14 ff.; großzügiger Dreier/Heun Art. 80a Rn. 5). Erfasst werden nicht nur militärische Kriegsgefahren, sondern auch „moderne“ Spannungslagen etwa durch konkrete (staats-)terroristische Bedrohungen (MKS/Brenner Art. 80a Rn. 18; krit. Barczak, Der nervöse Staat, 2020, 644 ff.). Für die Feststellung des Spannungsfalls verfügt das Parlament über einen erheblichen Beurteilungsspielraum. Als Korrelat für diese Prognosefreiheit (DFGH SicherheitsR-HdB/Hoppe/Risse § 3 Rn. 70) bedarf die Feststellung des Spannungsfalls durch den BT – in Abweichung von Art. 42 II 1 – gem. Art. 80a I 2 der 2/3 -Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Weitere Verfahrensvorgaben zur Feststellung des Spannungsfalls enthält Art. 80a nicht. Insbes. sieht die Norm keine Mitwirkungsbefugnisse des BR vor, weshalb diesem weder ein Einspruchs- noch ein Initiativrecht zusteht (DHS/Depenheuer Art. 80a Rn. 26; krit. Stern StaatsR II, 1440 f.). Aus rechtsstaatlichen Gründen ist die Feststellung des Spannungsfalls öffentlich bekannt zu machen (DHS/Depenheuer Art. 80a Rn. 27), wobei Art. 115a III entspr. Anwendung finden dürfte (Umbach/Clemens/Rubel Art. 80a Rn. 17; Dreier/Heun Art. 80a Rn. 5; enger HStR VII/Vitzthum, 1. Aufl. 1992, § 170 Rn. 10). Da das GG auch über die Aufhebung oder Beendigung des Spannungsfalls keine Regelung enthält, liegt es nahe, hierfür – ähnlich wie bei Art. 115l und Art. 80a II – anzunehmen, dass der BT den Spannungsfall mit einfacher Mehrheit gem. Art. 42 II 1 für beendet erklären kann (Friauf/Höfling/Grzeszick Art. 80a Rn. 5). Auch der Aufhebungsbeschluss ist öffentlich bekannt zu machen. Das Recht zum Widerruf des Spannungsfalls verdichtet sich zur Pflicht, wenn seine Voraussetzungen erkennbar entfallen sind (HStR XII/März § 281 Rn. 31 f.).

Liegen weder Verteidigungs- noch Spannungsfall vor, so kann der BT gleichwohl der Anwendung einzelner, ggf. auch aller Notstandsvorschriften besonders zustimmen (Dreier/Heun Art. 80a Rn. 6; v. Münch/Kunig/v. Kielmansegg Art. 80a Rn. 12; aA Sachs/Mann Art. 80a Rn. 3). Da der Zustimmungsfall ebenfalls als Vorstufe zum Verteidigungsfall anzusehen ist, bedarf die Zustimmung einer dem Spannungsfall vergleichbaren außenpolitischen Krisensituation. Die Regelung will nicht die Reaktionsschwelle absenken, sondern es dem Parlament nur ermöglichen, weniger spektakuläre, ggf. nur einzelne Verteidigungsvorbereitungen zu treffen (BeckOK GG/Schmidt-Radefeldt Art. 80a Rn. 7; DHS/Depenheuer Art. 80a Rn. 70 ff.). Das Verfahren zur Feststellung des Zustimmungsfalls ähnelt dem des Spannungsfalls (Rn. 4). Allerdings genügt für die Anwendung der Notstandsvorschriften grds. die einfache Mehrheit der im BT abgegebenen Stimmen gem. Art. 42 II 1 (Stern/Sodan/Möstl/Schwarz § 24 Rn. 18; krit. MKS/Brenner Art. 80a Rn. 25), es sei denn, es handelt sich um Fälle des Art. 12a V 1, VI 2, für die Art. 80a I 2 ausdrücklich eine 2/3 Mehrheit erfordert.

III. Aufhebung getroffener Einzelmaßnahmen

Zur Korrektur des exekutivischen Handelns im äußeren Notstand kann der BT nach Art. 80a II jederzeit die Aufhebung – oder als Minus: die Aussetzung (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 80a Rn. 2) – von Maßnahmen verlangen, die aufgrund der Anwendbarkeit von Notstandsvorschriften iSd Art. 80a I ergangen sind. Die in Art. 80a II genannten Maßnahmen betreffen den Gesetzesvollzug, unabhängig davon, ob es sich um Rechtsetzungsakte der Regierung (RVOen), Einzelakte nachgeordneter Behörden oder Landeseinrichtungen handelt (HStR VII/Vitzthum, 1. Aufl. 1992, § 170 Rn. 23). Art. 80a II erstreckt sich auch auf Maßnahmen, die nach Maßgabe von Art. 12a V 1, VI 2 getroffen worden sind. Das Aufhebungsverlangen des BT, der hierüber mit einfacher Mehrheit beschließt, richtet sich an die BReg, die diesem Verlangen Rechnung zu tragen hat (Dreier/Heun Art. 80a Rn. 11). Es handelt sich hierbei um eine Besonderheit im Verhältnis „Parlament – Regierung“ (Benda, Die Notstandsverfassung, 1968, 130), die in ähnlicher Weise auch bei Art. 115l I 3, 35 III 2, 91 II 2 vorgesehen ist. Einer gesonderten Aufhebung von Einzelmaßnahmen bedarf es nicht, wenn die Feststellung des Spannungsfalls vom BT gänzlich aufgehoben oder die besondere Zustimmung zurückgenommen wird. In diesem Fall werden die „entsperrten“ Vorschriften wieder für die Anwendung gesperrt (SHH/Sannwald Art. 80a Rn. 38).

IV. Bündnisfall

Nach Art. 80a III kommt eine Anwendung von Notstandsvorschriften ohne vorherige Einschaltung des BT in Betracht, wenn sie auf der Grundlage und nach Maßgabe eines Beschlusses erfolgt, der von einem int. Organ im Rahmen eines Bündnisvertrags mit Zustimmung der BReg gefasst wird. Man spricht dann vom „Bündnisfall“ (MKS/Brenner Art. 80a Rn. 36). Art. 80a III soll insbes. den NATO-Verpflichtungen der Bundesrepublik Rechnung tragen (Umbach/Clemens/Rubel Art. 80a Rn. 26) und etabliert deshalb keinen Gesetzesvorbehalt (v. Münch/Kunig/v. Kielmansegg Art. 80a Rn. 19 f.). Erforderlich ist aber die Zustimmung der BReg in der Form eines Kabinettsbeschlusses (BeckOK GG/Schmidt-Radefeldt Art. 80a Rn. 11), der ebenso wie der Beschluss des int. Organs öffentlich bekannt gemacht werden muss (HStR XII/März § 281 Rn. 43). Die BReg kann ihre Zustimmung widerrufen (Umbach/Clemens/Rubel Art. 80a Rn. 28).

Der Geltungsbereich von Art. 80a III ist beschränkt. Er betrifft nicht den Streitkräfteeinsatz im Bündnisfall, sondern nur die nach Maßgabe des NATO-Alarmsystems ausgelöste „zivile Teilmobilmachung“ (BVerfGE 90, 286 (386)). Soweit die Streitkräfte im Inneren eingesetzt werden (Art. 87a III) oder Dienstverpflichtungen nach Art. 12a V, VI in Frage stehen, können Maßnahmen vor dem Verteidigungsfall lediglich nach Maßgabe von Art. 80a I angeordnet werden (Dreier/Heun Art. 80a Rn. 13). Ferner ist ein Aufhebungsverlangen des BT, das nur einzelne Maßnahmen betrifft und sich an die BReg richtet, auch bei Maßnahmen nach Art. 80a III möglich (SHH/Sannwald Art. 80a Rn. 44). Das Aufhebungsbegehren ist hier jedoch in Ansehung der Bündnisbindung an das Erfordernis der Mehrheit seiner Mitglieder, also der absoluten Mehrheit gebunden (vgl. Art. 80a III 2 iVm Art. 121).