Art 91e [Grundsicherung für Arbeitsuchende]
(1) Bei der Ausführung von Bundesgesetzen auf dem Gebiet der Grundsicherung für Arbeitsuchende wirken Bund und Länder oder die nach Landesrecht zuständigen Gemeinden und Gemeindeverbände in der Regel in gemeinsamen Einrichtungen zusammen.
(2) 1 Der Bund kann zulassen, dass eine begrenzte Anzahl von Gemeinden und Gemeindeverbänden auf ihren Antrag und mit Zustimmung der obersten Landesbehörde die Aufgaben nach Absatz 1 allein wahrnimmt. 2 Die notwendigen Ausgaben einschließlich der Verwaltungsausgaben trägt der Bund, soweit die Aufgaben bei einer Ausführung von Gesetzen nach Absatz 1 vom Bund wahrzunehmen sind.
(3) Das Nähere regelt ein Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf.
I. Verpflichtung zur Mischverwaltung bei der Grundsicherung für Arbeitssuchende (Abs. 1)
Systematisch enthält Abs. 1 eine Ausnahme vom Verbot der Mischverwaltung (BVerfGE 137, 108 (145 f.); Vor Art. 91a Rn. 2), die gegenständlich auf die Ausführung von Bundesgesetzen auf dem Gebiet der Grundsicherung für Arbeitssuchende beschränkt ist (BVerfGE 137, 108 (145 f.)) und das Verbot einer bundesgesetzlichen Aufgabenübertragung auf die Gemeinden und Gemeindeverbände (Art. 84 I 7, 85 I 2) durchbricht (BVerfGE 137, 108 (145 f.); BSGE 133, 187 (191)). Der Wortlaut und die Entstehungsgeschichte (BT-Drs. 17/1554, 4: Das bewährte System soll „als Regelfall fortgesetzt werden“) lassen nur die Interpretation zu, dass die Mischverwaltung obligatorisch ist und die Vorschrift insoweit eine Mischverwaltungspflicht begründet (BK/Suerbaum Art. 91e Rn. 52). Die Grundsicherung für Arbeitsuchende umfasst die früher der Verwaltungskompetenz des Bundes zugeordneten Leistungen zur Eingliederung in Arbeit (Art. 87 II) sowie die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Jarass/Pieroth/Kment Art. 91e Rn. 4), deren Verwaltung mangels Ausübung der Option des Art. 87 III Sache der Länder und Kommunen war (BVerfGE 119, 331 (369 f.)). Erfasst ist auch ein zukünftiger Aufgabenzuwachs bei den kommunalen Trägern bei Änderung des SBG II. Die Aufsicht über die gemeinsamen Einrichtungen übt der Bund grds. im Einvernehmen mit dem jew. Land aus. Dabei soll durch das Ausführungsgesetz nach Abs. 3 sichergestellt werden, dass ein Konfliktlösungsmechanismus auch im Streitfall eine effektive Wahrnehmung der Aufsicht gewährleistet. Das Prüfungsrecht des BRH bleibt aufrechterhalten (BT-Drs. 17/1554, 5). Abs. 1 statuiert diese Form der gemeinsamen Aufgabenerfüllung als Regelfall, von dem bezogen auf das gesamte Bundesgebiet höchstens ein Viertel aller Aufgabenträger zugunsten des kommunalen Optionsmodells nach Abs. 2 abweichen dürfen (BT-Drs. 17/1554, 5; aA BK/Suerbaum Art. 91e Rn. 82; BVerfGE 137, 108 (175), wonach den Absichtserklärungen für sich genommen kein verfassungsrechtlicher Gehalt zukommen soll; offen DHS/Klein/Shirvani Art. 91e Rn. 28).
II. Kommunales Optionsmodell (Abs. 2)
Abs. 2 S. 1 ermöglicht eine Fortschreibung des kommunalen Optionsmodells (§§ 6a, 6b SGB II), wonach die kommunale Ebene anstelle der Bundesagentur Aufgabenträger sein kann. Einen verfassungsunmittelbaren Zulassungsanspruch zur alleinigen Aufgabenerfüllung gibt es nicht, sondern allein einen durch Art. 28 II geschützten Anspruch auf chancengleiche Teilhabe an der Verteilung der begrenzten Optionsmöglichkeit (BVerfGE 137, 108 (153 ff.); BK/Suerbaum Art. 91e Rn. 88). Die Einführung des Optionsmodells steht dem Gesetzgeber ebenso frei, wie dieses wieder abzuschaffen (BVerfGE 137, 108 (153)). Die Aufgabenübertragung setzt einen Antrag des kommunalen Rechtsträgers sowie die Zustimmung des Bundes sowie der obersten Landesbehörden voraus. Der Wortlaut („begrenzte Anzahl von Gemeinden und Gemeindeverbänden“, „kann zulassen“) verdeutlicht, dass die Mischverwaltung nach Art. 91e I den Regelfall darstellen soll, sodass das Optionsmodell nur einer begrenzten Zahl von Kommunen offensteht (BVerfGE 137, 108 (174 ff.); Rn. 2). Abs. 2 erfasst auch einen zukünftigen Aufgabenzuwachs bei einer Erweiterung des Aufgabenbestandes der Bundesagentur für Arbeit. Art. 91e II ist eine spezifische Ausnahmevorschrift von Abs. 1, was einen Rückgriff auf Art. 83 f. verbieten muss (BVerfGE 137, 108 (174)). Insbes. ist es abw. von Art. 84 möglich, die Rechtsaufsicht über die Optionskommunen auf das Bundesministerium für Arbeit und Soziales zu übertragen (BVerfGE 137, 108 (145 f.)). Nach Abs. 2 S. 2 ist der Bund verpflichtet, die notwendigen Ausgaben einschließlich der Verwaltungsausgaben der Optionskommunen zu tragen, soweit die Aufgaben bei einer Ausführung des Gesetzes nach Abs. 1 von ihm wahrzunehmen sind. Damit stellt die Vorschrift als verfassungsrechtliche Finanzierungsbefugnis eine Ausnahme von dem Verbot unmittelbarer Finanzbeziehungen zwischen Bund und Kommunen dar und durchbricht so punktuell die Zweistufigkeit des Staatsaufbaus der Bundesrepublik Deutschland (BVerfGE 137, 108 (147); BSG SGb 2023, 772 Rn. 18; BT-Drs. 17/1554, 5). Art. 91e liegt kein von Art. 104a I und V abweichendes Verständnis des (Verwaltungs-)Ausgabenbegriffs zugrunde, sodass sich dieser auf den Geldausgang, d. h. die Zahlung an Dritte, beschränkt. Personalkosten für Staatsbeamte, die nicht die Optionskommune, sondern das zuweisende Land übernimmt, fallen nicht hierunter (BSG SGb 2023, 772 Rn. 15 ff.). Die Finanzkontrolle liegt beim Bund, der ggf. Rückforderungen geltend machen kann. Diese unterscheidet sich von den Kontrollbefugnissen des BRH, die unberührt bleiben (BT-Drs. 17/1554, 5), aber auch von der Rechts- und Fachaufsicht. Beschränkt ist die Finanzkontrolle auf die Gewährleistung der fiskalischen Interessen des Bundes (BVerfGE 137, 108 (183)).
III. Bundesgesetzlicher Ausgestaltungsvorbehalt (Abs. 3)
Abs. 3 stellt sowohl Abs. 1 – insoweit besteht ein Gesetzgebungsauftrag – als auch Abs. 2 unter einen bundesgesetzlichen Ausgestaltungsvorbehalt. Dabei handelt es sich um eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes (BVerfGE 137, 108 (160); BVerwG BeckRS 2021, 48677 Rn. 18; BeckOK GG/Mehde Art. 91e Rn. 14), deren Ausübung an die Zustimmung des BRats geknüpft ist. Der Ausgestaltungsvorbehalt deckt hinsichtlich Abs. 1 unter anderem Regelungen zu den Aspekten Organisation, Behördeneinrichtung, Verwaltungsverfahren, Dienstherrenbefugnisse, Aufsicht, Finanzkontrolle und Rechnungsprüfung (BT-Drs. 17/1554, 5). Hinsichtlich Abs. 2 nennt die Gesetzesbegründung Regelungen zur Festlegung der Anzahl und der Zulassungskriterien der Optionskommunen, Übergang und Rechtsstellung des Personals, Kostentragung, Aufsicht, Zielvereinbarungen, Mittelbewirtschaftung, Finanzkontrolle, Rechnungsprüfung und Leistungsbewertung (BT-Drs. 17/1554, 5). Nicht umfasst ist dagegen die Art und Weise der internen Willensbildung der Kommunen, die dem Kommunalverfassungsrecht und damit der Gesetzgebungshoheit der Länder zuzuordnen ist (BVerfGE 137, 108 (161 ff.)). Beschränkt wird der bewusst weite Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers (BVerfGE 137, 108 (160)) durch das Leitbild der Mischverwaltung als Regelfall der Aufgabenwahrnehmung im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende (BT-Drs. 17/1554, 5; Rn. 2). Der Gesetzgeber muss sicherstellen, dass die Verteilung der Zulassungen nach Abs. 2 willkürfrei, transparent und nachvollziehbar bewältigt wird und dem Gebot interkommunaler Gleichbehandlung entspricht. In den Grenzen des Art. 80 I 2 kann er die Ausgestaltung des Verteilungsverfahrens auch dem Verordnungsgeber überlassen (BVerfGE 137, 108 (180)). Ihm kommt ein weiter Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu, der gewahrt ist, wenn er sich auf eine nachvollziehbare und vertretbare Einschätzung stützt (BVerfGE 137, 108 (155)). Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes, den Übertritt von Bundesbeamten in den Dienst der Optionskommunen zu regeln, leitet sich nicht aus Abs. 3, sondern aus Art. 73 I Nr. 8 GG sowie aus Art. 74 I Nr. 27 GG ab (BeckOK GG/Mehde Art. 91e Rn. 35a).
Art. 91e geht auf das 58. Gesetz zur Änderung des GG v. 21.7.2010 (BGBl. I 944) zurück und ist mit Wirkung zum 27.7.2010 in Kraft getreten (instruktiv zur Entstehungsgeschichte BeckOK GG/Mehde Art. 91e Rn. 1 ff.; umf. BK/Suerbaum Art. 91e Rn. 3 ff.). Hintergrund der Vorschrift war die Neuordnung der Grundsicherung für Arbeitssuchende im Zuge der Hartz IV-Gesetzgebung, die mittlerweile durch die Bürgergeldreform novelliert worden ist. Die Grundsicherung für Arbeitssuchende umfasst Leistungen zur Eingliederung in Arbeit (§§ 14 ff. SGB II) sowie Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes (§§ 19 ff. SGB II). Deren Verwaltung obliegt Arbeitsgemeinschaften, die aus der Bundesagentur für Arbeit und kreisfreien Städten und Kreisen als kommunale Ebene gebildet werden (§ 44b SGB II). Das BVerfG beanstandete die Zusammenarbeit Ende 2007 als unzulässige, im GG nicht vorgesehene Form der Mischverwaltung (Vor Art. 91a Rn. 2), die das Art. 83 ff. zugrundeliegende Gebot der grds. Trennung der Verwaltungsräume von Bund und Ländern verletze (BVerfGE 119, 331 (361 ff.)). Die Vorschrift blieb aber bis Ende 2010 anwendbar. Auf die Entscheidung hat der verfassungsändernde Gesetzgeber rechtzeitig durch Art. 91e reagiert, der die Fortsetzung der bisherigen Zusammenarbeit verfassungsrechtlich legalisieren soll (BVerfGE 137, 108 (141 f.); BT-Drs. 17/1554, 4). Die ihm durch Art. 79 III gezogenen Grenzen hat er dabei eingehalten (BVerfGE 137, 108 (143); BVerwG BeckRS 2018, 31341 Rn. 14; BAGE 169, 328 Rn. 28; 165, 278 Rn. 50; BeckOK GG/Mehde Art. 91e Rn. 36; Sachs/Siekmann Art. 91e Rn. 11; BK/Suerbaum Art. 91e Rn. 42 ff.). In seinem Anwendungsbereich verdrängt Art. 91e sowohl Art. 83 ff. als auch Art. 104a (BVerfGE 137, 108 (141)).