Artikel 31 [Vorrang des Bundesrechts]
Bundesrecht bricht Landesrecht.
I. Bedeutung: Genereller Vorrang und Sperrwirkung des Bundesrechts
Der normative Vorrang des Bundes- vor dem Landesrecht entspricht der Verfassungstradition seit 1849 (vgl. Art. 13 WRV) und wird als grdl. für die bundesstaatliche Ordnung angesehen (BVerfGE 36, 342 (365 f.)). Art. 31 gilt grds. unabhängig davon, wie im Einzelnen die Rechtsetzungskompetenzen zwischen Bund und Ländern verteilt sind; hinsichtlich des Geltungs(vor)rangs gelten allerdings Spezialregelungen des GG (Art. 28 II, 142), ebenso zu Gesetzgebung und Verwaltung (Art. 72 III 3, 84 I 4, 125a II). Art. 31 beinhaltet einen doppelten Normgehalt: Festgelegt wird einerseits der absolute normative Vorrang (Höherrang) des gesamten Bundes- vor dem gesamten Landesrecht, unabhängig von der Rangstufe der jew. Regelung innerhalb der beiden Rechtsordnungen; dh selbst eine BundesRVO/-Satzung geht jeder Landesverfassungsnorm vor. Zum anderen bewirkt dieser Vorrang die Verfassungswidrigkeit der betr. Landesnorm, sei sie vor oder nach der Bundesregelung in Kraft getreten; dh die Derogationswirkung der lex posterior gegenüber der lex prior wird insoweit durch eine Sperrwirkung der bundesrechtlichen Norm ergänzt, als auch bereits erlassenes Bundesrecht den Erlass späteren Landesrechts ausschließt. Den Vorrang von EU-Recht regelt Art. 23 (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 31 Rn. 1).
Nur eine untergeordnete Rolle spielt Art. 31 in vielen Fällen, wenn nämlich bundesrechtswidriges Landesrecht schon wegen Verletzung der grundgesetzlichen Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeit verfassungswidrig ist; er wird dann – gelegentlich – „mitzitiert“ (BVerfGE 65, 174 (178); 68, 143 (147)). Art. 31 greift jedoch ein bei nicht auf spezielle grundgesetzliche Kompetenzregelungen zurückführbarer Rechtsetzung seitens von Landesorganen, die Bundesrecht verletzen, also etwa im Bereich der ausschließlichen Landesgesetzgebung, die gegen bundesrechtliche Rechtssätze verstößt (zB im Abgaben- oder im Prüfungsrecht). Bedeutsam ist ferner immerhin die Klarstellung, dass alle Formen bundesrechtlicher Rechtsetzung allem Landesrecht vorgehen, was angesichts der Staatlichkeit auch der Länder sonst problematisch sein könnte, und dass auch der Grundsatz der lex posterior im Bund-Länder-Verhältnis nicht gilt. Im übrigen handelt es sich um ein Relikt aus einer staatsrechtlichen Ordnung, in der die Verletzung von (Gesetzgebungs-)Kompetenzen noch nicht so sanktioniert war wie gegenwärtig im GG (vgl. Art. 13 II WRV im Verhältnis zu Art. 93 I Nr. 2).
II. Die Voraussetzungen: Bundes- und Landesrecht in Kollision
„Recht“ sind alle staatlichen Normen, geschriebene wie ungeschriebene, auch vorkonstitutionelle (Art. 123), die nach ihrem Inhalt rechtlich bindende Regelungswirkungen erzeugen (sollen), nicht aber Einzelentscheidungen von Behörden oder Gerichten (BVerfGE 96, 345 (364)) oder privat gesetztes Recht (Geschäftsbedingungen, Satzungen, Tarifverträge, soweit sie nicht für allgemeinverbindlich erklärt sind). Recht sind daher Verfassungen, einfache Gesetze, RVOen, Satzungen sowie Verwaltungsverordnungen, letztere entspr. ihren jew. außen- oder lediglich innerorganisatorischen Rechtswirkungen, sowie Gewohnheitsrecht auf all diesen Rechtsstufen. Verträge zwischen (Bund und) Ländern setzen jedenfalls Recht zwischen den Partnern, gegenüber Dritten entspr. ihrem Inhalt und den jew. Zustimmungsgesetzen.
„Bundes- und Landesrecht“ bestimmt sich nach dem jew. Rechtsetzungsorgan und seiner organisationsrechtlichen Zuordnung zu Bund oder Land. Rechtsetzung im Rahmen von Gemeinschaftsaufgaben (Art. 91a, b) sowie durch Bund-Länder- Vertrag kann Art. 31 nur hinsichtlich der dem jew. Hoheitsträger zuzuordnenden Rechtsetzungsakte unterfallen. Landesrecht ist auch das Verfassungsrecht des Landes (BVerfGE 26, 116 (135); 96, 345 (364)) sowie Landesrecht auf der Grundlage bundesrechtlicher Ermächtigung (BVerfGE 18, 407 (414)) und auch alles von Gemeinde (verbände)n gesetzte Recht. Das Bundes- oder Landesrecht muss nach der jew. (Verfassungs-)Rechtsordnung dieser Hoheitsträger gültig, also auch mit allen jew. übergeordneten Normen der betr. Verfassungsordnung vereinbar sein. „Bundesrecht“ und „Landesrecht“ müssen daher insbes. dem GG und der jew. Landesverfassung, diese muss nach Art. 28 I den Vorgaben des GG entsprechen. Diese Prüfung ist vorgreiflich gegenüber der einer möglichen „Ungültigkeit wegen Verstoßes gegen die grundgesetzliche Kompetenzverteilung“, insbes. bei den Gesetzgebungszuständigkeiten (vgl. Rn. 2).
„Brechen“ lässt sich nur ein Widerstand, normativ eine Landesregelung durch eine Bundesnorm, welche einen mit jener nach Voraussetzungen und/oder Rechtsfolgen unvereinbaren Inhalt aufweist. Erforderlich ist daher für das Eingreifen des Art. 31 eine inhaltliche Normenkollision, während der Verstoß gegen Kompetenzverteilungen zwischen Bund und Ländern (etwa Art. 71, 72) jede Landesgesetzgebung unzulässig macht. Regelung desselben Sachverhalts muss daher iFv Art. 31 Gegenstand von Bundes- und Landesrecht sein (BVerfGE 98, 145 (159)), deren Anwendung dabei zu jew. unterschiedlichen Rechtsfolgen führen (BVerfGE 36, 342 (363)).
III. Rechtsfolgen; übereinstimmendes Bundes- und Landesrecht
Soweit Normenkollision zwischen Bundes- und Landesrecht besteht, kommt ausschließlich Bundesrecht zur Anwendung, das Landesrecht ist rechtlich wirkungslos (nichtig), bei früherem Erlass des Bundesrechts kann das Landesrecht gar nicht in Kraft treten, bei späterem verliert es mit dessen Inkrafttreten seine Wirkung; in beiden Fällen lebt es bei nachträglicher Aufhebung des Bundesrechts nicht wieder auf (BVerfGE 29, 11 (12)). Soweit der Bundes- dem Landesgesetzgeber jedoch Regelungsspielraum gegeben hat, bleibt das Landesrecht in Kraft (BVerfGE 96, 345 (366 f., 373)). Alle diese Rechtswirkungen können im Verfahren nach Art. 93 I 2 festgestellt werden, also auch die Derogationswirkung des Bundesrechts gegenüber dem Landesrecht als die einer lex posterior (vgl. aber BVerfGE 10, 124 (128)).
Ob auch inhaltsgleiches Landesrecht durch entspr. Bundesrecht „gebrochen“ wird, ist str. (vgl. dazu Sachs/P. M. Huber Art. 31 Rn. 22). Die hL nimmt hier Fortgeltung des Landesrechts jedenfalls für das Landesverfassungsrecht (BVerfGE 36, 342 (362 f.); 96, 445 (464)) an. Dafür spricht der Wortlaut von Art. 142, der dies „auch“ für die Grundrechte klarstellt. Sie entfalten eine flächendeckende und besonders bedeutsame (Art. 1 II, III) Normwirkung auch innerhalb der Länder; andererseits hängt die Bedeutung der Landesverfassungsgerichtsbarkeit weitgehend gerade davon ab, dass mit den Bundesgrundrechten inhaltsgleiche Landesgrundrechte weiter gelten – allerdings nur als Landesrecht; bei Kollision werden sie daher von jeder bundesrechtlichen Norm „gebrochen“. Ob auch sonstiges inhaltsgleiches Landesrecht ebenfalls fortgilt, ist rechtlich nicht von Belang; denn, da es durch Bundesrecht überlagert wird, vermag es irgendwelche Rechtsfolgen – anders als das Landesverfassungsrecht, entspr. dessen Überprüfung durch Landesverfassungsgerichte – nicht (mehr) hervorzubringen. Landesverfassungsrecht ist für Auslegung/Anwendung dieses sonstigen Landesrechts nur insoweit bedeutsam, als die sich dabei ergebenden Rechtsfolgen nicht mit Normen des Bundesrechts – nicht allein der Bundesgrundrechte – kollidieren.