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Artikel 115e [Aufgaben des Gemeinsamen Ausschusses]

(1) Stellt der Gemeinsame Ausschuß im Verteidigungsfalle mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen, mindestens mit der Mehrheit seiner Mitglieder fest, daß dem rechtzeitigen Zusammentritt des Bundestages unüberwindliche Hindernisse entgegenstehen oder daß dieser nicht beschlußfähig ist, so hat der Gemeinsame Ausschuß die Stellung von Bundestag und Bundesrat und nimmt deren Rechte einheitlich wahr.

(2) 1 Durch ein Gesetz des Gemeinsamen Ausschusses darf das Grundgesetz weder geändert noch ganz oder teilweise außer Kraft oder außer Anwendung gesetzt werden. 2 Zum Erlaß von Gesetzen nach Artikel 23 Abs. 1 Satz 2, Artikel 24 Abs. 1 oder Artikel 29 ist der Gemeinsame Ausschuß nicht befugt.

I. Bedeutung der Norm

Nach Art. 115e nimmt der GA als (treuhänderisches) Notparlament die Rechte von BT und BR einheitlich wahr (Sachs/Robbers Art. 115e Rn. 1). Dadurch soll ein Mindestmaß an parlamentarischer Mitwirkung sichergestellt werden (SHH/Wittenberg Art. 115e Rn. 2). Zusammensetzung und Arbeitsweise des GA richten sich nach Art. 53a I und der darauf basierenden GeschO. Art. 115e wurde 1968 ins GG aufgenommen und 1992 (BGBl. I 2086) im Blick auf Art. 23 nF geändert.

II. Voraussetzungen des Kompetenzübergangs

Die Kompetenzübernahme des GA steht unter zwei materiellen Voraussetzungen, die kumulativ vorliegen müssen: Sie ist nur im Verteidigungsfall (Art. 115a) gegeben und erfordert zudem, dass der BT überhaupt nicht oder nicht rechtzeitig zusammentreten kann oder er – mangels einer ausreichenden Zahl von Abgeordneten (vgl. § 45 GOBT) – beschlussunfähig ist. Politische Entschlusslosigkeit oder bloße Beschlussunwilligkeit des BT erfüllt diese Bedingung nicht (BK/v. Kielmansegg Art. 115e Rn. 49). Die Alternative der Unmöglichkeit des Zusammentritts, die sich auf den erstmaligen Zusammentritt eines neu gewählten BT bezieht (Dreier/Heun Art. 115e Rn. 5), hat seit der Beseitigung der parlamentsfreien Zeit durch Art. 39 I 2 kaum noch Bedeutung (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 115e Rn. 2; Sachs/Robbers Art. 115e Rn. 5 f.; aA MKS/Grote Art. 115e Rn. 3). Die Hindernisse müssen unüberwindlich sein, dürfen sich also objektiv nicht rechtzeitig ausräumen lassen (v. Münch/Kunig/Versteyl/Fremuth Art. 115e Rn. 4). Die Handlungs-, Funktions- und Beschlussfähigkeit des BR ist dagegen unerheblich (Friauf/Höfling/Thiel Art. 115e Rn. 3).

Die Feststellung, ob die Voraussetzungen für den Kompetenzübergang (Rn. 2) vorliegen, muss der GA selbst treffen. Diese „Selbstinvestitur“ ist unproblematisch, da der GA im Moment der erneuten Funktionsfähigkeit des (wieder) beschlussfähigen BT sofort seine Funktionsberechtigung verliert (Dreier/Heun Art. 115e Rn. 5). Außerdem erfordert sie eine Mehrheit von 2/3 der abgegebenen Stimmen, mindestens aber die Mehrheit seiner Mitglieder, und zwar zu Beginn jeder Sitzung (BeckOK GG/Schmidt-Radefeldt Art. 115e Rn. 7; aA Dreier/Heun Art. 115e Rn. 6). Anders als die Feststellung des Verteidigungsfalls bedarf der Beschluss nach Art. 115e I nicht der Verkündung (Sachs/Robbers Art. 115e Rn. 13; aA Umbach/Clemens/Deiseroth Art. 115e Rn. 6).

III. Kompetenzen des Gemeinsamen Ausschusses

Wird der GA als Gesetzgeber tätig, so hat er grds. dieselben Befugnisse wie BT und BR; dies gilt auch für Rechtsetzung nach Art. 115c (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 115e Rn. 1). Die Unterscheidung zwischen Einspruchs- und Zustimmungsgesetzen entfällt (Sachs/Robbers Art. 115e Rn. 15). Allerdings hat der GA keine Befugnis, das GG zu ändern oder teilweise außer Kraft oder Anwendung zu setzen. Außerdem darf er keine Gesetze zur Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen (Art. 23 I 2; Art. 24 I) oder zur Neugliederung des Bundesgebietes (Art. 29) beschließen. Auch das BVerfGG darf der GA nur nach Maßgabe des Art. 115g S. 2 ändern.

Als Notparlament nimmt der GA auch alle übrigen Funktionen von BT und BR wahr, die im normalen Verfassungszustand diesen beiden Organen obliegen. Hierzu gehören die Rechte nach Art. 44. Außerdem kann der GA gem. Art. 115h II 1 einen BKanzler wählen; auch andere Wahlrechte (Art. 95 II, Art. 45b) kann der GA wahrnehmen. Eine Neuwahl von Richtern des BVerfG (Art. 94 I 2) kommt dagegen wegen der in Art. 115h I 3 vorgesehenen automatischen Verlängerung ihrer Amtszeit während des Verteidigungsfalles nur bei Tod, Dienstunfähigkeit oder eines vorzeitigen Rücktritts eines Richters in Betracht (MKS/Grote Art. 115e Rn. 13). Die Befugnisse anderer Verfassungsorgane, etwa der BVersammlung, darf der GA nicht ausüben (Sachs/Robbers Art. 115e Rn. 16).

IV. Beendigung der Notstandsbefugnisse

Sobald der BT wieder handlungs- und beschlussfähig ist, endet die Tätigkeit des GA (Umbach/Clemens/Deiseroth Art. 115e Rn. 18). Entspr. gilt, wenn der GA seinen Feststellungsbeschluss nach Art. 115e I zurücknimmt (Dreier/Heun Art. 115e Rn. 6) oder wenn der Verteidigungsfall nach Art. 115l aufgehoben wird, da dies den vorherigen Kompetenzverlust des GA ohnehin voraussetzt (iE ähnl. SHH/Wittenberg Art. 115e Rn. 26). Gesetzentwürfe, die der GA zum Zeitpunkt der Wiedererlangung der Funktionsfähigkeit des BT noch nicht abschließend beschlossen hat, können vom BT übernommen werden. Der Grundsatz der Diskontinuität gilt im Verhältnis zwischen GA und BT nicht (DHS/Gärditz Art. 115e Rn. 2; SHH/Wittenberg Art. 115e Rn. 27).