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Artikel 115c [Erweiterte Bundesgesetzgebungskompetenz]

(1) 1 Der Bund hat für den Verteidigungsfall das Recht der konkurrierenden Gesetzgebung auch auf den Sachgebieten, die zur Gesetzgebungszuständigkeit der Länder gehören. 2 Diese Gesetze bedürfen der Zustimmung des Bundesrates.

(2) Soweit es die Verhältnisse während des Verteidigungsfalles erfordern, kann durch Bundesgesetz für den Verteidigungsfall

  • bei Enteignungen abweichend von Artikel 14 Abs. 3 Satz 2 die Entschädigung vorläufig geregelt werden,
  • für Freiheitsentziehungen eine von Artikel 104 Abs. 2 Satz 3 und Abs. 3 Satz 1 abweichende Frist, höchstens jedoch eine solche von vier Tagen, für den Fall festgesetzt werden, daß ein Richter nicht innerhalb der für Normalzeiten geltenden Frist tätig werden konnte.

(3) Soweit es zur Abwehr eines gegenwärtigen oder unmittelbar drohenden Angriffs erforderlich ist, kann für den Verteidigungsfall durch Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrates die Verwaltung und das Finanzwesen des Bundes und der Länder abweichend von den Abschnitten VIII, VIIIa und X geregelt werden, wobei die Lebensfähigkeit der Länder, Gemeinden und Gemeindeverbände, insbesondere auch in finanzieller Hinsicht, zu wahren ist.

(4) Bundesgesetze nach den Absätzen 1 und 2 Nr. 1 dürfen zur Vorbereitung ihres Vollzuges schon vor Eintritt des Verteidigungsfalles angewandt werden.

I. Bedeutung der Norm

Art. 115c ermächtigt zum Erlass von Gesetzen, deren Zustandekommen außerhalb des Verteidigungsfalls verfassungswidrig wäre. So erlauben Art. 115c I und III dem Gesetzgeber weitreichende Eingriffe in die bundesstaatliche Kompetenzverteilung, und Art. 115c II ermächtigt den Gesetzgeber in zwei Fällen zu Modifikationen des Grundrechtsschutzes. Die Verabschiedung der Gesetze ist bereits im Vorfeld möglich (sog. Schubladengesetze), ihre Anwendung setzt aber die Feststellung des Verteidigungsfalls voraus (Sachs/Robbers Art. 115c Rn. 2; DFGH SicherheitsR-HdB/Hoppe/Risse, § 3 Rn. 86). Ein Notverordnungsrecht der BReg sieht Art. 115c nicht vor.

II. Erweiterte Bundeskompetenzen

Art. 115c I 1 erweitert die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für den Verteidigungsfall auf Sachgebiete, die in der Normallage der Gesetzgebungskompetenz der Länder vorbehalten sind. Ungeachtet der durch die Föderalismusreform I (BGBl. 2006 I 2034) ohnehin eingeführten Begrenzung des Art. 72 II nF dürfte an der Erforderlichkeit bundeseinheitlicher Vorschriften unter den Umständen des Verteidigungsfalls idR nicht zu zweifeln sein (SHH/Wittenberg Art. 115c Rn. 4; MKS/Grote Art. 115c Rn. 6). Die sonstigen Voraussetzungen von Art. 72 kommen im Bereich des Art. 115c I ohnehin nicht zum Tragen (Friauf/Höfling/Thiel Art. 115c Rn. 7; aA MKS/Grote Art. 115c Rn. 6). Nach Art. 115 I 2 bedürfen die Bundesgesetze aber ausnahmslos der Zustimmung des BR.

Die in Art. 115c III vorgesehene Zentralisierung der Finanz- und Verwaltungskompetenzen beim Bund soll die finanziellen und administrativen Ressourcen bündeln, um eine erfolgreiche Abwehr der äußeren Bedrohung zu garantieren (Dreier/Heun Art. 115c Rn. 8). Deshalb können Bundesgesetze für den Verteidigungsfall Verwaltung und Finanzwesen im Bund gegenüber der Normalverfassung vereinfachen und abweichend von den Abschn. VIII, VIIIa und X regeln. Dies gilt auch für Art. 87a und Art. 91 (MKS/Grote Art. 115c Rn. 13; DHS/Epping Art. 115c Rn. 33; aA Umbach/Clemens/Deiseroth Art. 115c Rn. 27). Insbes. können die Gesetze den Einfluss des Bundes im Bereich der Landesverwaltung verstärken, indem sie etwa den Bereich der Auftragsverwaltung oder der bundeseigenen Verwaltung ausdehnen (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 115c Rn. 3). Dabei ist allerdings die Lebensfähigkeit der Länder und Kommunen zu wahren; ein Restbestand politischen und finanziellen Eigenlebens muss diesen verbleiben (Schmitt DÖV 2013, 452 (455)). Im Übrigen soll die bundesstaatliche Struktur nur so weit wie unbedingt erforderlich beeinträchtigt werden (BK/v. Kielmansegg Art. 115c Rn. 67). Unabhängig hiervon kann die BReg unter den Voraussetzungen des Art. 115f I Nr. 2 Weisungen erteilen.

III. Grundrechtsmodifikationen

Eine generelle Einschränkbarkeit von Grundrechten im Verteidigungsfall kennt das GG nicht. Vielmehr behalten die Grundrechte ihre tragende Bedeutung für die Verfassungsstaatlichkeit auch im Verteidigungsfall (Stern StaatsR II, 1344 ff.), wobei dem Gemeinwohlinteresse dann freilich ein größeres Gewicht zukommen dürfte als in Friedenszeiten. Auch der Rechtsschutz ist – obgleich Art. 19 IV im Verteidigungsfall fortgilt (SHH/Wittenberg Art. 115c Rn. 23) – in einigen Notstandsgesetzen insoweit beschränkt, als Rechtsmittel gegen gerichtliche Entscheidungen ausgeschlossen werden (vgl. zB § 22 VSG; § 12 WiSG). Ansonsten sieht Art. 115c II lediglich Modifikationen des Grundrechtsschutzes in Bezug auf Art. 14 und Art. 104 vor. Weitere bedeutsame Sonderregelungen finden sich in Art. 12 III–VI. Eine gewisse Nähe zum Verteidigungsfall, wiewohl sie auf diesen nicht explizit abstellen, besitzen auch Art. 11 II, 13 und Art. 17a II (Sachs/Robbers Art. 115c Rn. 5).

Art. 115c II Nr. 1 ermächtigt zu einer bundesgesetzlichen Regelung, die für den Verteidigungsfall bei Enteignungen mit Blick auf die Junktimklausel des Art. 14 III 2 eine vorläufige Regelung der Entschädigung zulässt. Damit sollen kurzfristige Enteignungen ermöglicht werden (v. Münch/Kunig/Versteyl/Fremuth Art. 115c Rn. 6). Als vorläufige Entschädigungszahlung sind Abschlagszahlungen oder Pauschalbeträge zulässig. Zu einer – selbst nur vorläufigen – entschädigungslosen Enteignung ermächtigt Art. 115c II Nr. 1 jedoch nicht (MKS/Grote Art. 115c Rn. 10; Friauf/Höfling/Thiel Art. 115c Rn. 13; aA DHS/Epping, Art. 115c Rn. 6). Ferner darf die Beschränkung der Entschädigung über das notwendige Maß nicht hinausgehen (Sachs/Robbers Art. 115c Rn. 6). Deshalb kann die endgültige Entschädigungsregelung zwar bis zum Ende des Verteidigungsfalls hinausgeschoben werden, sie muss dann aber gem. den Maßstäben des Art. 14 III innerhalb einer angemessenen Frist nachgeholt werden (SHH/Wittenberg Art. 115c Rn. 15; weitergehend BK/Rauschning, Erstkomm., Art. 115c Rn. 14: „unverzügliche“ Entschädigung). Art. 115c II Nr. 1 bezieht sich ausdrücklich nur auf Art. 14 III 2. Die übrigen in Art. 14 genannten Garantien bleiben unberührt.

Art. 115c II Nr. 2 erlaubt bundesgesetzliche Regelungen, durch die bei Freiheitsentziehungen die Fristen von Art. 104 II 3 und III 1 auf höchstens bis zu vier Tagen verlängert werden. Allerdings gilt die Fristverlängerung nicht pauschal, sondern nur, wenn ein Richter im Einzelfall innerhalb der Normalfrist nicht tätig werden kann (Sachs/Robbers Art. 115c Rn. 9). Außerdem berührt eine entspr. gesetzliche Fristverlängerung nicht das Verfassungsgebot des Art. 104, über jede Freiheitsentziehung unverzüglich eine richterliche Entscheidung herbeizuführen (DHS/Epping Art. 115c Rn. 29).

IV. Vorsorgegesetzgebung

Die in Art. 115c I–III niedergelegte Vorsorgegesetzgebung für den Verteidigungsfall soll dem Gesetzgeber ermöglichen, ohne Zeitnot oder sonstigen Druck angesichts kriegsbedingter Umstände in Ruhe und Abgewogenheit gesetzliche Vorsorge für den Ernstfall zu treffen (BT-Drs. V/1879, 26). Diese Legalitätsreserven sollen ein Notverordnungsrecht der BReg überflüssig machen (MKS/Grote Art. 115c Rn. 1). Verpflichtet zum Erlass solcher „Schubladengesetze“ in Friedenszeiten ist der Gesetzgeber aber nicht. Auch im Verteidigungsfall stehen ihm die erweiterten Gesetzgebungsbefugnisse nach Art. 115c I–III zu (DHS/Epping Art. 115c Rn. 12 ff.).

Von dem Verbot der vorherigen Anwendbarkeit macht Art. 115c IV eine zweifach begrenzte Ausnahme (SHH/Wittenberg Art. 115c Rn. 28; krit. Dreier/Heun Art. 115c Rn. 11). Die Ermächtigung greift nur in Bezug auf die verwaltungsinterne Vorbereitung des Vollzugs der betr. Gesetze (zB Ausarbeitung von Verwaltungsvorschriften). Der Vollzug nach außen ist vor Eintritt des Verteidigungsfalls unzulässig. Keinesfalls darf ein Bürger vor der Verkündung des Verteidigungsfalls von solchen Regelungen unmittelbar oder mittelbar betroffen werden (Umbach/Clemens/Deiseroth Art. 115c Rn. 34). Zudem gilt die Ermächtigung nur für die in Art. 115c IV ausdrücklich genannten Bundesgesetze. Die Aufzählung in Art. 115c IV ist abschließend, so dass Gesetze iSv Art. 115c II Nr. 2 nicht erfasst werden. Damit sind vorbereitende Maßnahmen für Massenverhaftungen etwa durch Aufstellung „schwarzer Listen“ verboten (DHS/Herzog, 70. EL, Art. 115c Rn. 45). Die Ermächtigung des Art. 115c IV gilt auch nicht für Gesetze nach Art. 115c III.

Solange Bundesgesetze für den Verteidigungsfall gelten, suspendieren sie entgegenstehendes Recht, heben es aber nicht auf (vgl. Art. 115k). Nach Beendigung des Verteidigungsfalls lebt das Recht der Normallage automatisch wieder auf, ohne neu erlassen werden zu müssen. In gleicher Weise verlieren die auf der Grundlage von Art. 115c erlassenen Rechtsvorschriften mit Beendigung des Verteidigungszustandes automatisch ihre Anwendbarkeit. Allerdings bleiben sie bis zu ihrer förmlichen Aufhebung weiter in Kraft, weshalb sie auch in einem späteren Verteidigungsfall wieder genutzt werden können, sofern sie nicht zwischenzeitlich aufgehoben worden sind (SHH/Wittenberg Art. 115c Rn. 30).

V. Kein Notverordnungsrecht der BReg

Entgegen anfänglichen Überlegungen (hierzu SHH/Wittenberg Vorb. v. Art. 115a Rn. 30 ff.) hat die BReg im Verteidigungsfall kein Notverordnungsrecht. Die BReg kann RVOen nur unter den üblichen Voraussetzungen des Art. 80 erlassen. Allerdings können RVOen ihre Ermächtigungsgrundlage auch in den Gesetzen für den Verteidigungsfall finden (BK/v. Kielmansegg Art. 115c Rn. 40). Der Bundesgesetzgeber hat daher schon in Friedenszeiten die Möglichkeit, seine Rechtsetzungsgewalt mit Wirkung für den Verteidigungsfall auf die Exekutive zu übertragen (Wilke DVBl 1969, 917).