Artikel 125b [Fortgeltung von Bundesrecht; abweichende Regelungen durch die Länder]
(1) 1 Recht, das auf Grund des Artikels 75 in der bis zum 1. September 2006 geltenden Fassung erlassen worden ist und das auch nach diesem Zeitpunkt als Bundesrecht erlassen werden könnte, gilt als Bundesrecht fort. 2 Befugnisse und Verpflichtungen der Länder zur Gesetzgebung bleiben insoweit bestehen. 3 Auf den in Artikel 72 Abs. 3 Satz 1 genannten Gebieten können die Länder von diesem Recht abweichende Regelungen treffen, auf den Gebieten des Artikels 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, 5 und 6 jedoch erst, wenn und soweit der Bund ab dem 1. September 2006 von seiner Gesetzgebungszuständigkeit Gebrauch gemacht hat, in den Fällen der Nummern 2 und 5 spätestens ab dem 1. Januar 2010, im Falle der Nummer 6 spätestens ab dem 1. August 2008.
(2) Von bundesgesetzlichen Regelungen, die auf Grund des Artikels 84 Abs. 1 in der vor dem 1. September 2006 geltenden Fassung erlassen worden sind, können die Länder abweichende Regelungen treffen, von Regelungen des Verwaltungsverfahrens bis zum 31. Dezember 2008 aber nur dann, wenn ab dem 1. September 2006 in dem jeweiligen Bundesgesetz Regelungen des Verwaltungsverfahrens geändert worden sind.
(3) Auf dem Gebiet des Artikels 72 Absatz 3 Satz 1 Nummer 7 darf abweichendes Landesrecht der Erhebung der Grundsteuer frühestens für Zeiträume ab dem 1. Januar 2025 zugrunde gelegt werden.
I. Rahmenrecht des Bundes
1. Anwendungsbereich
Im Zuge der Föderalismusreform des Jahres 2006 (BGBl. 2006 I 2034) ist die Bestimmung des Art. 125b I und II in das GG aufgenommen worden. Im Unterschied zu Art. 125a I betrifft Art. 125b I solches auf Grundlage der Rahmengesetzgebungskompetenz des früheren Art. 75 ergangenes Bundesrecht, das auch nach dessen Aufhebung noch als Bundesrecht ergehen könnte. Dies betrifft Regelungen über das Jagdwesen (ehemals Art. 75 I 1 Nr. 3, jetzt Art. 74 I Nr. 28), den Naturschutz und die Landschaftspflege (ehemals Art. 75 I 1 Nr. 3, jetzt Art. 74 I Nr. 29), die Bodenverteilung, die Raumordnung und den Wasserhaushalt (ehemals Art. 75 I 1 Nr. 4, jetzt Art. 74 I Nr. 30–32), Regelungen über die Hochschulzulassung und Hochschulabschlüsse (ehemals Art. 75 I Nr. 1a, jetzt Art. 74 I Nr. 33), das Melde- und Ausweiswesen (ehemals Art. 75 I 1 Nr. 5, jetzt Art. 73 I Nr. 3) sowie Regelungen über den Schutz des deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung ins Ausland (ehemals Art. 75 I 1 Nr. 6, jetzt Art. 73 I Nr. 5a). Im Jahr 2019 ist ein neuer Art. 125b III eingefügt worden (BGBl. 2019 I 1546), der auf die dem Bund nunmehr ausdrücklich zugewiesene konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für die Grundsteuer (Art. 105 II 1) und die gleichzeitige Einführung einer Abweichungsbefugnis der Länder (Art. 72 III 1 Nr. 7) Bezug nimmt.
2. Rechtsfolge
Recht, das Art. 125b I 1 unterfällt, gilt zeitlich unbefristet als vollwertiges Bundes(rahmen)recht fort (Fortgeltungsanordnung). Gem. Art. 125b I 2 bleiben die Befugnisse und Verpflichtungen der Länder zur Gesetzgebung, also zur Ausfüllung des bundesrechtlichen Rahmens, bestehen. Das gilt auch, soweit Materien – wie das Melde- und Ausweiswesen (Art. 73 I Nr. 3) – in die ausschließliche Bundeskompetenz überführt worden sind (BT-Drs. 16/813, 21).
Soweit Rahmengesetze aufgrund eines Kompetenztitels der konkurrierenden Gesetzgebung als Bundesrecht fortgelten, gilt gem. Art. 125b I 3 die Abweichungsbefugnis der Länder aus Art. 72 III 1. Auf den Gebieten des Art. 72 III 1 Nr. 1, 3 und 4 können die Länder sogleich vom bisherigen Rahmenrecht abweichende Regelungen treffen (BT-Drs. 16/813, 21). Auf den Gebieten des Art. 72 III 1 Nr. 2, 5 und 6 ist eine Abweichung dagegen erst zulässig, wenn der Bundesgesetzgeber ab dem 1.9.2006 von seiner Gesetzgebungszuständigkeit Gebrauch gemacht hat – entscheidend ist der Zeitpunkt der Verkündung des Gesetzes – oder bestimmte Höchstfristen abgelaufen sind. Macht der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit ab dem 1.9.2006 keinen Gebrauch, besteht eine Abweichungsbefugnis der Länder im Bereich des Hochschulzulassungs- und -abschlussrechts (Art. 72 III 1 Nr. 6) erst seit dem 1.8.2008. Im Bereich des Naturschutzes und der Landschaftspflege (Art. 72 III 1 Nr. 2) sowie des Wasserhaushaltsrechts (Art. 72 III 1 Nr. 5) gilt sie erst ab dem 1.1.2010. Solange diese Voraussetzungen nicht vorliegen, ist allein der Bund zu Neuregelungen berechtigt. Dem Bund soll durch die Übergangsfrist im Bereich des Naturschutzrechts insbes. die Schaffung eines Umweltgesetzbuches ermöglicht werden (BT-Drs. 16/813, 21). Besteht eine Abweichungsbefugnis der Länder, erlaubt Art. 125b I 3 sowohl partielle Abweichungen als auch Vollregelungen (MKS/Wolff Art. 125b Rn. 17; Jarass/Pieroth/Jarass Art. 125b Rn. 3). Unzulässig sind rein redaktionelle Anpassungen (BVerfGE 147, 253 (355)). Möglich ist hingegen die Aufhebung einzelner Vorschriften ohne landesrechtliche Neuregelung (MKS/Wolff Art. 125b Rn. 17). Nicht geboten ist eine ausdrückliche Erklärung des Abweichungswillens des Landesgesetzgebers oder gar eine Zitierung derjenigen bundesrechtlichen Vorschriften, von denen abgewichen werden soll (BVerfGE 147, 253 (355); a.A Dreier/Wittreck Art. 125b Rn. 16).
II. Organisations- und Verfahrensrecht des Bundes
Art. 125b II überträgt die im Zuge der Föderalismusreform eingeführte Abweichungsbefugnis der Länder aus Art. 84 I 2 (Art. 84 Rn. 8) auf bundesgesetzliche Regelungen, die noch auf Grundlage des Art. 84 I aF ergangen waren. Von Vorgaben zur Behördeneinrichtung dürfen die Länder sogleich abweichen, von Verfahrensvorschriften dagegen erst ab dem 1.1.2009 oder bereits früher, wenn der Bund das jew. Bundesgesetz im Bereich des Verwaltungsverfahrens ab dem 1.9.2006 geändert hat. Das Abweichungsrecht erstreckt sich jew. auf alle verfahrensrechtlichen Regelungen des Stammgesetzes (BT-Drs. 16/813, 21). Die Übergangsregelung soll es dem Bund ermöglichen, den Normenbestand zu überprüfen und ggf. eine abweichungsfeste Neuregelung des Verwaltungsverfahrens nach Art. 84 I 5, 6 zu erlassen (BT-Drs. 16/813, 21).
III. Abweichende Grundsteuerregelungen
Der 2019 in das GG eingefügte Art. 125b III (BGBl. 2019 I 1546) steht im Zusammenhang mit Art. 105 II 1 und Art. 72 III 1 Nr. 7. Während Art. 105 II 1 dem Bund eine ausdrückliche konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für die Grundsteuer zuspricht, erhalten die Länder im Gegenzug eine Abweichungsbefugnis gem. Art. 72 III 1 Nr. 7. Von dieser dürfen sie gem. Art. 125b III jedoch erstmals für Zeiträume ab dem 1.1.2025 Gebrauch machen.