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Artikel 35 [Rechts- und Amtshilfe]

(1) Alle Behörden des Bundes und der Länder leisten sich gegenseitig Rechts- und Amtshilfe.

(2) 1 Zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung kann ein Land in Fällen von besonderer Bedeutung Kräfte und Einrichtungen des Bundesgrenzschutzes zur Unterstützung seiner Polizei anfordern, wenn die Polizei ohne diese Unterstützung eine Aufgabe nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten erfüllen könnte. 2 Zur Hilfe bei einer Naturkatastrophe oder bei einem besonders schweren Unglücksfall kann ein Land Polizeikräfte anderer Länder, Kräfte und Einrichtungen anderer Verwaltungen sowie des Bundesgrenzschutzes und der Streitkräfte anfordern.

(3) 1 Gefährdet die Naturkatastrophe oder der Unglücksfall das Gebiet mehr als eines Landes, so kann die Bundesregierung, soweit es zur wirksamen Bekämpfung erforderlich ist, den Landesregierungen die Weisung erteilen, Polizeikräfte anderen Ländern zur Verfügung zu stellen, sowie Einheiten des Bundesgrenzschutzes und der Streitkräfte zur Unterstützung der Polizeikräfte einsetzen. 2 Maßnahmen der Bundesregierung nach Satz 1 sind jederzeit auf Verlangen des Bundesrates, im übrigen unverzüglich nach Beseitigung der Gefahr aufzuheben.

I. Rechts- und Amtshilfe

Rechts- und Amtshilfe gem. Art. 35 I ist kein traditioneller Verfassungs-, wohl aber ein verwaltungs- und gerichtsverfassungsrechtlicher Begriff, hier nun in einem grundgesetzlichen Rahmen. Begründet ist sie in der Einheit des Staates (BVerfGE 7, 183 (190)) in föderaler Kooperation (BVerfGE 31, 43 (46); 42, 91 (95)) zur Kräftigung des Bundesstaatsprinzips (BVerfGE 42, 91 (95)); sie beinhaltet aber keine Kompetenzregelung zugunsten des Bundes (BVerfGE 132, 1 (5)). „Helfen“ müssen sich gegenseitig und untereinander alle Behörden (Verwaltungsinstanzen; Amtshilfe ) von Bund, Ländern, Gemeinden und juristischen Personen des öffentlichen Rechts sowie privatrechtlich organisierte Verwaltungseinheiten bei Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben (hL), nicht aber kirchliche Instanzen (BVerfG DÖV 1972, 721), Beliehene oder Parteien (BVerfGE 37, 333 (336)). Die Verpflichtung besteht auch nicht innerhalb des jew. Behördenbereichs, wo Weisungsrecht gilt, und auch nicht wo dieses über Delegation, Mandat oder Organleihe auf andere Instanzen wirken kann, sowie nicht zwischen Verfassungsorganen, etwa BT und BReg (BVerfGE 67, 100 (129)). Gerichte leisten untereinander Rechtshilfe, soweit sie sich nicht (grds., vgl. § 286 ZPO) selbst einen Eindruck verschaffen müssen, was Einschaltung ersuchter Richter (§§ 361 ZPO, 233 I, 225 StPO) einschränkt. Rechts- und Amtshilfe wird nur auf Ersuchen geleistet. Spontanhilfe ist als „Geschäftsführung ohne Auftrag“ zulässig.

Rechts- und Amtshilfe wird geleistet durch Unterstützung, insbes. auch materieller Art, etwa durch Zurverfügungstellung von Personal- und Sachmitteln, Auskünfte, Akteneinsicht und sonstige Informationen, Vernehmungen und Feststellungen; sie ermächtigt nicht zu Grundrechtseingriffen (BVerwGE 119, 123 (134)). Ersucht werden kann nur um Hilfe zur Erfüllung von Aufgaben im Zuständigkeitsbereich der ersuchenden Behörde, welche ein Tätigwerden der ersuchten Behörde erfordert (§ 5 VwVG, § 112 AO), bei Gemeinden in deren örtlichen Angelegenheiten (BGHZ 54, 157 (163)). Die Befugnisse der ersuchten Behörde müssen der ersuchenden nicht zustehen. Rechts- und Amtshilfe nach Art. 35 bewirkt keinerlei Kompetenzverschiebungen iSv Erweiterungen gesetzlicher Aufgaben oder Befugnisse, sie sichert lediglich Kompetenzerfüllung über organisationsrechtliche Grenzen hinweg. Unabhängig von der hierarchischen Stellung der beteiligten Instanzen erfolgt sie in Gleichordnung zwischen diesen. Abgelehnt werden kann das Ersuchen wegen Gefährdung einer Aufgabenerfüllung, Unverhältnismäßigkeit des Aufwandes oder besserer Eignung anderer Instanzen.

Dritte haben keinen Anspruch auf ein Ersuchen. Dieses rechtfertigt als solches keine zusätzliche Rechtsbeeinträchtigung ihnen gegenüber, Rechtsschutz wird ihnen insoweit, (insbes.) gegen (Grund-)Rechtsbeeinträchtigungen, durch unzulässige Kompetenzverschiebungen, von den jew. zuständigen Gerichten gewährt. Dies gilt vor allem im Fall eines nicht durch Gesetz erlaubten Datentransfers im Wege der Rechts- und Amtshilfe; unzulässig ist, allein im Namen der Amtshilfe, eine ständige weitgehende Vernetzung zwischen Datenbeständen von Instanzen, welche laufenden Zugriff auf jene erlaubt.

II. Zusammenwirken bei Notfällen nach Abs. 2 und 3

In Notfällen einer (drohenden) Störung der „öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ – ein Begriff des allg. Polizeirechts – können „Einrichtungen und Kräfte“ – auch behördliche Hilfen – des Bundesgrenzschutzes durch ein Land angefordert werden. Dies ist kein Amtshilfeersuchen: Die Angeforderten unterstehen dem Recht des anfordernden Landes und dem vollen Weisungsrecht von dessen zuständigen Instanzen (§ 11 II BundesgrenzschutzG), auch hinsichtlich von deren Befehlsstruktur. Die Anforderung ist nach (prognostischer) Beurteilung seitens der Landesinstanz zu treffen, nach den allg. Grundsätzen des Polizeirechts (Opportunitätsprinzip); jedoch besteht eine Verpflichtung zum Schutz von Verfassungsgütern, wenn es sich um Störungen von besonderer Bedeutung und gesteigertem Schwierigkeitsgrad ihrer Bewältigung handelt, was dieses Beurteilungsermessen verengt. Der Bund kann die Hilfe nur wegen vorrangiger eigener Aufgaben ablehnen (§ 11 IV 1 BundesgrenzschutzG); im Übrigen ist er auch an die Einzelanforderungen des Landes gebunden. Eine „Spontanhilfe“ kommt nur bei schwerwiegender „Gefahr im Verzug“ als Geschäftsführung ohne Auftrag in Betracht.

Bei Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen (Art. 35 II 2) gelten die Grundsätze nach Rn. 4 mit folgenden Besonderheiten: „Naturkatastrophen“ sind nachweisbar nicht von Menschen, sondern von Naturkräften verursachte schwere Schadensereignisse, „Unglücksfälle“, alle übrigen schwerwiegenden (Schadenshöhe), auch schuldhaft verursachten Schadensfälle. Unmittelbar bevorstehende Ereignisse gehören jedenfalls iSd polizeilichen konkreten Gefahr dazu; trotz des Wortlauts „bei“ muss der Schaden noch nicht eingetreten sein. Die Bestimmung gilt auch bei drohenden Attentaten. Der Einsatz militärischer Waffengewalt darf nur durch die BReg angeordnet werden; er ist nur im Rahmen von Art. 87a IV zulässig (BVerfGE 132, 1 (9 f.); vgl. BVerfGE 115, 118 (143 ff.)). Angefordert werden können auch staatliche Hilfen iwS aus mehreren oder allen Ländern, des Bundesgrenzschutzes und der Bundeswehr, nach Wahl des betroffenen Landes, unter dessen Recht und Weisungsbefugnis, was hier dem Recht nach Art. 65a vorgeht.

Art. 35 III bringt lediglich Sonderbestimmungen für „Ereignisse von katastrophaler Dimension“, nicht innere Unruhen, verursacht durch nichtstaatliche Angreifer (BVerfGE 132, 1 (13)). Solche Vorgänge müssen über ein Land hinaus drohen oder bereits Schäden verursacht haben, die zuständigen Landesinstanzen, insbes. die Polizei, darf aber nicht in der Lage oder willens sein, dies wirksam zu bekämpfen. Allein die BReg (BVerfGE 133, 241 (260)) kann hier – auch in Eilfällen – im Rahmen prognostischen Beurteilungsermessens Landesregierungen anweisen, ihre Polizeikräfte anderen Ländern zur Verfügung zu stellen, und Einheiten des Bundesgrenzschutzes und der Streitkräfte zu deren Unterstützung einsetzen. Die Aufgaben bleiben aber solche (polizeiliche) der betroffenen Länder, alle eingesetzten Kräfte unterstehen deren Rechts- und Weisungsgewalt; die BReg darf nur – verhältnismäßig – koordinierend zur Unterstützung der Länder handeln. Ihre Maßnahmen sind jederzeit auf Verlangen des BRats aufzuheben, im Übrigen unverzüglich nach Beseitigung der Gefahr. Rechtsschutz kann im Verfahren nach Art. 93 I Nr. 3 gewährt werden.