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Artikel 9 [Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit]

(1) Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden.

(2) Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten.

(3) 1 Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. 2 Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. 3 Maßnahmen nach den Artikeln 12a, 35 Abs. 2 und 3, Artikel 87a Abs. 4 und Artikel 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden.

I. Bedeutung und Systematik des Art. 9

Art. 9 beinhaltet zwei Grundrechtskomplexe. Art. 9 I schützt die allgemeine Vereinigungsfreiheit. Art. 9 III garantiert das Recht, Vereinigungen zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen (Koalitionen) zu bilden, und statuiert damit eine spezielle Vereinigungsfreiheit (vgl. etwa BVerfGE 84, 212 (224)). Die allgemeine Vereinigungsfreiheit wird gemeinhin zu den demokratischen Grundrechten bzw. den Kommunikationsgrundrechten gezählt. Damit steht sie den Freiheiten aus Art. 5, 8, 17 und 21 nahe (Dreier/Bauer Art. 9 Rn. 20), erschöpft sich jedoch nicht in der Gewährleistung des demokratischen Meinungsbildungsprozesses, sondern schützt auch die wirtschaftliche Vereinigungsfreiheit, dh die Freiheit, sich zu Personen- und Kapitalgesellschaften zu vereinen (Stern/Becker/Rixen Art. 9 Rn. 16; Sodan LKV 2012, 193 (198)). „Mit dem Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden, gewährleistet Art. 9 Abs. 1 GG ein konstituierendes Prinzip der demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes: das Prinzip freier sozialer Gruppenbildung“ (BVerfGE 50, 290 (353); 149, 160 (192); vgl. auch BVerfGE 146, 164 (194)). Art. 9 III gehört sowohl zu den Kommunikationsfreiheiten (Sachs/Höfling Art. 9 Rn. 3) als auch zu den „Wirtschaftsgrundrechten“ (vgl. Dreier/Bauer Art. 9 Rn. 20). „Die Koalitionsfreiheit ist erst unter den Bedingungen moderner Industriearbeit entstanden, die sich im 19. Jahrhundert entwickelt haben. Bei der Auslegung dieses Grundrechts kann deshalb nur bedingt auf einen traditionell feststehenden Inhalt zurückgegriffen werden“ (BVerfGE 50, 290 (366 f.)).

II. Allgemeine Vereinigungsfreiheit

1. Schutzbereich

a) Begriff der „Vereinigung“

Art. 9 I spricht von „Vereinen und Gesellschaften“. Beide Begriffe lassen sich unter dem Oberbegriff „Vereinigung“ zusammenfassen. Auch Art. 9 II verwendet diesen Terminus. Eine Vereinigung iSd Art. 9 I ist ein auf Dauer angelegter, freiwilliger Zusammenschluss einer Mehrheit natürlicher oder juristischer Personen, welcher der Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks dient und eine organisierte Willensbildung aufweist (BVerwGE 106, 177 (181)). Diese Begriffsbestimmung entspricht weitgehend der Legaldefinition in § 2 I VereinsG. Das BVerfG hat bisher noch nicht entschieden, welche Mindestanzahl von Personen für eine Mehrheit von Personen erforderlich ist. Zur Gewährleistung eines umfassenden Grundrechtsschutzes wird man einen Zusammenschluss zweier Personen genügen lassen müssen (so auch Dreier/Bauer Art. 9 Rn. 39; Jarass/Pieroth/Jarass Art. 9 Rn. 3).

Durch die Merkmale der „Dauerhaftigkeit“ und der „organisierten Willensbildung“ unterscheidet sich die Vereinigung von der Versammlung iSd Art. 8 I. Diese Merkmale sind weit auszulegen. Daher genießen auch vorübergehende Zusammenschlüsse den Schutz des Grundrechts, etwa Bürgerinitiativen (Sachs/Höfling Art. 9 Rn. 16). Lediglich ein Mindestmaß an organisatorischer Stabilität ist erforderlich, nicht etwa regelmäßige Zusammenkünfte oder eine bestimmte Organisationsform (Dreier/Bauer Art. 9 Rn. 41). Die Art des verfolgten Zwecks ist unerheblich (Zweckoffenheit). Denkbar sind politische, kulturelle, sportliche, künstlerische, aber auch wirtschaftliche Ziele der Vereinigung (HStR VII/Merten § 165 Rn. 39 ff.). Daher bezieht sich der Grundrechtsschutz auch auf Personen- und Kapitalgesellschaften (HStR VII/Merten § 165 Rn. 32 f.). Das BVerfG nimmt in dieser Frage allerdings einen eher zweifelnden Standpunkt ein (s. BVerfGE 50, 290 (355 f.); 124, 25 (34); auch Rn. 9). Die Rechtsfähigkeit der Vereinigung ist nicht von Bedeutung (BVerfGE 80, 244 (253); 84, 372 (378)).

b) Geschützte Verhaltensweisen

Als Individualgrundrecht schützt die Vereinigungsfreiheit die Vereinigungsgründung (Gründungsfreiheit), das Recht, einer Vereinigung beizutreten (Beitrittsfreiheit), sowie die spezifische, individuelle Betätigung innerhalb der Vereinigung (Betätigungsfreiheit); vgl. BVerfGE 50, 290 (354); 123, 186 (230); Murswiek JuS 1992, 116 (117).

Als kollektives Grundrecht garantiert Art. 9 I „das Recht auf Entstehen und Bestehen“ (BVerfGE 13, 174 (175); 80, 244 (253)). Vom Schutz erfasst sind also Existenz und Funktionsfähigkeit des Vereins sowie dessen Selbstbestimmung über die eigene Organisation, das Verfahren der Willensbildung und die Geschäftsführung ( interne Organisationsautonomie – vgl. BVerfGE 30, 227 (241); 50, 290 (353 f.); 62, 354 (373); 84, 372 (378 f.); 123, 186 (237)). „Denn ohne solche Selbstbestimmung könnte von einem freien Vereinigungswesen keine Rede sein; Fremdbestimmung würde dem Schutzzweck des Art. 9 Abs. 1 GG zuwiderlaufen“ (BVerfGE 50, 290 (354)). Gewährleistet ist grds. ferner das Recht der Vereinigung, über die Aufnahme und den Ausschluss von Mitgliedern selbst zu entscheiden (BVerfGE 124, 25 (34); BVerfG [K] NJW 2023, 976 (977) – Ausschluss aus Sportverein wegen NPD-Mitgliedschaft).

Die Betätigung der Vereinigung nach außen ist jedoch – mit Ausnahme zumindest der Mitgliederwerbung (s. BVerfGE 84, 372 (378)) – nicht geschützt (vgl. etwa BVerfGE 70, 1 (25); Sachs/Höfling Art. 9 Rn. 18 ff.; v. Münch/Kunig/Winkler Art. 9 Rn. 48 und 59 f.; HStR VII/Merten § 165 Rn. 52; v. Mutius Jura 1984, 193 (196)). Hierbei ist vor allem zu beachten, dass Art. 9 I im Gegensatz zu Art. 9 III keinen speziellen Vereinigungszweck vorsieht. Daher ist die Koalitionsbetätigung zum Zwecke der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen unzweifelhaft in Art. 9 III 1 verbrieft. Aus dem Wortlaut des Art. 9 I lässt sich ein solcher Schutzumfang dagegen nicht herleiten. Ferner droht die Aushebelung des Art. 19 III; denn Vereinigungen könnten sich durch die Festlegung eines bestimmten Zwecks wie etwa des Schutzes der Menschenwürde zu Trägerinnen von Grundrechten machen, die nicht nach Art. 19 III auf sie anwendbar sind (Sodan LKV 2012, 193 (199)). Das BVerfG sieht im Interesse eines effektiven Grundrechtsschutzes jedenfalls einen „Kernbereich des Vereinsbestandes und der Vereinstätigkeit“ als gewährleistet an (BVerfGE 30, 227 (241)). So erkannte das BVerfG etwa die „Möglichkeit zu einer wirkungsvollen Mitgliederwerbung“ als vom Schutzbereich dieses Grundrechts umfasst an (BVerfGE 84, 372 (378)). Richtigerweise ist zwischen geschützten vereinszwecksichernden und ungeschützten vereinszweckrealisierenden Tätigkeiten zu differenzieren (Sachs/Höfling Art. 9 Rn. 18 ff.). Vereinszwecksichernde Maßnahmen sind neben der Namensführung und Mitgliederwerbung auch die Darstellung nach außen sowie die Geschäftsführung. Vereinszweckrealisierende Tätigkeiten können nur über das jeweils einschlägige Grundrecht iVm Art. 19 III Grundrechtsschutz genießen (Murswiek JuS 1992, 116 (117); vgl. auch BVerfG [K] NJW 2015, 612 f. zu einem Rauchverbot bei öffentlich zugänglichen Vereinsveranstaltungen).

c) „Negative“ Vereinigungsfreiheit

Art. 9 I gewährleistet auch das Recht, einer privaten Vereinigung fernzubleiben oder aus dieser auszutreten (BVerfGE 38, 281 (298); vgl. ferner BVerfGE 10, 89 (102); 50, 290 (354)). Umstr. ist, ob die Zwangsinkorporation in öffentlich-rechtliche Vereinigungen wie etwa berufsständische Zwangszusammenschlüsse (zB Ärztekammern) den Schutzbereich der Vereinigungsfreiheit berührt. Ein erheblicher Teil des Schrifttums bejaht diese Frage: Der öffentlich-rechtliche Zwangszusammenschluss beinhalte „die wohl stärkste Form des Eingriffs in die Vereinigungsfreiheit“, weil der Tatbestand dieser Freiheit „schon durch die staatliche Organisationsgewalt selbst ausgeschaltet“ werde (Scholz AöR 100 [1975], 80 (124 f.)); das Problem der Zulässigkeit öffentlich-rechtlicher Zwangsmitgliedschaften sei „eine Frage der Zuordnung des Prinzips freier sozialer Gruppenbildung“ und „der Erfordernisse sachgemäßer öffentlicher Verwaltung“, nicht aber eine solche der Rechtsformen (Hesse Rn. 414; zust. Bethge JA 1979, 281 (285); ähnl. auch Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, 66). Gegen die Einschlägigkeit der „negativen“ Vereinigungsfreiheit spricht hier jedoch zunächst die Entstehungsgeschichte des Art. 9: Zur Zeit der Ausarbeitung des Grundgesetzes und auch schon wesentlich früher bestand eine große Anzahl öffentlich-rechtlicher Körperschaften, die auf dem Beitrittszwang beruhten; dazu zählten insbes. Berufsverbände. Hätte der Verfassungsgeber den Schutz durch Art. 9 I auch auf diese erstrecken wollen, so wäre es in Anbetracht der Bedeutung dieser Organisationen naheliegend gewesen, einen diesbezüglichen besonderen Hinweis zu geben; eine solche Aussage kann aber weder den Beratungen des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee noch denen des Parlamentarischen Rates entnommen werden (vgl. dazu BVerfGE 146, 164 (194 f.)); BVerfG [K] NVwZ 2002, 335 (336); BVerwG NJW 1962, 1311 (1312); EGH der Rechtsanwaltskammern der Britischen Zone DVBl 1952, 371). Darüber hinaus gilt es zu bedenken, dass sich die „negative“ Vereinigungsfreiheit als spiegelbildliche Entsprechung der „positiven“ Vereinigungsfreiheit qualifizieren lässt, letztere aber nicht die Befugnis zur Errichtung öffentlich-rechtlicher Verbände verleiht; von dieser Prämisse her kann die „negative“ Vereinigungsfreiheit als Korrelat der „positiven“ Vereinigungsfreiheit nicht den Anspruch auf Freibleiben von Eingliederung in öffentlich-rechtliche Zwangskörperschaften enthalten (vgl. OVG NRW OVGE 14, 276 (293); HStR VII/Merten § 165 Rn. 62; Sodan, Berufsständische Zwangsvereinigung auf dem Prüfstand des Grundgesetzes, 1991, 24 f.). Daher sind Pflichtmitgliedschaften in öffentlich-rechtlichen Verbänden am Auffanggrundrecht des Art. 2 I zu messen (s. etwa BVerfGE 10, 89 (102); 15, 235 (239); 78, 320 (329 f.); 92, 53 (69); 109, 96 (109 f.); 115, 25 (42 f.); 123, 186 (262); 146, 164 (196); Sodan NJW 2003, 1761 (1765)). In Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Vor Art. 1 Rn. 60 ff.) wird in der Judikatur aus Art. 2 I abgeleitet, dass „der Gesetzgeber im Hinblick auf die grundsätzliche Freiheitsvermutung des Art. 2 Abs. 1 GG und auf den aus Art. 9 Abs. 1 GG zu folgernden Vorrang der freien Verbandsbildung die Notwendigkeit der Errichtung solcher öffentlich-rechtlicher Körperschaften sorgfältig prüfen muß. Dem Einzelnen erwächst aus Art. 2 Abs. 1 GG das Recht, nicht durch Zwangsmitgliedschaft von ‚unnötigen‘ Körperschaften in Anspruch genommen zu werden“ (BVerfGE 38, 281 (298); s. ferner BVerwGE 59, 231 (233); 64, 115 (117); 64, 298 (301); 80, 334 (336); 109, 97 (99)). Art. 2 I vermittelt dem Zwangsmitglied insoweit ferner „ein Abwehrrecht gegen solche Eingriffe des Verbandes […], die sich nicht im Wirkungskreis legitimer öffentlicher Aufgaben halten“ (BVerwGE 64, 115 (117); s. zu Einzelfällen Sodan/Ziekow/Sodan VwGO § 42 Rn. 461).

d) Ausgestaltungspflicht

Aus Art. 9 I ergibt sich eine gesetzgeberische Ausgestaltungspflicht bezüglich der Organisation und Willensbildung von Vereinigungen. Die Vereinigungsfreiheit ist nämlich auf Regelungen angewiesen, welche die Vereinigungen „in die allgemeine Rechtsordnung einfügen, die Sicherheit des Rechtsverkehrs gewährleisten, Rechte der Mitglieder sichern und den schutzbedürftigen Belangen Dritter oder auch öffentlichen Interessen Rechnung tragen. Demgemäß ist mit der verfassungsrechtlichen Garantie der Vereinigungsfreiheit seit jeher die Notwendigkeit einer gesetzlichen Ausgestaltung dieser Freiheit verbunden, ohne die sie praktische Wirksamkeit nicht gewinnen könnte. Diese Notwendigkeit gehört von vornherein zum Inhalt des Art. 9 Abs. 1 GG, der sich unter dem hier wesentlichen Aspekt nur bestimmen läßt, indem die Bindungen geklärt werden, denen der ausgestaltende Gesetzgeber unterliegt. Dieser ist durch Art. 9 Abs. 1 GG nicht an die überkommenen Rechtsformen und Normenkomplexe des Vereins- und Gesellschaftsrechts gebunden. Aus der Notwendigkeit einer Ausgestaltung kann nicht folgen, daß eine bestimmte bestehende Ausgestaltung Verfassungsrang erhielte. Auf der anderen Seite darf der Gesetzgeber die Ausgestaltung nicht nach seinem Belieben vornehmen. Diese hat sich vielmehr an dem Schutzgut des Art. 9 Abs. 1 GG zu orientieren; sie muß auf einen Ausgleich gerichtet sein, der geeignet ist, freie Assoziation und Selbstbestimmung der Vereinigung unter Berücksichtigung der Notwendigkeit eines geordneten Vereinslebens und der schutzbedürftigen sonstigen Belange zu ermöglichen und zu erhalten“ (BVerfGE 50, 290 (354 f.)). Diese Ausgestaltungspflicht erstreckt sich daher nur auf eine „Mindestausstattung“ (Sachs/Höfling Art. 9 Rn. 38).

e) Personeller Schutzbereich

Grundrechtsträger sind Deutsche iSd Art. 116 und inländische juristische Personen, die sich zu Vereinigungen iSv Art. 9 I zusammenschließen wollen. Neben dieser Ausgestaltung als Individualgrundrecht eröffnet Art. 9 I zur Sicherstellung der Effektivität des Grundrechts auch ein Freiheitsrecht der Vereinigung selbst ( Kollektivgrundrecht – vgl. BVerfGE 13, 174 (175); 30, 227 (241); 50, 290 (354); 80, 244 (253); 84, 372 (378)). Ein Rückgriff auf Art. 19 III ist dabei nicht notwendig. Art. 9 I bildet damit ein „Doppelgrundrecht“ (Dreier/Bauer Art. 9 Rn. 34 f.; krit. Sachs/Höfling Art. 9 Rn. 26 f.). Das BVerfG hat es bislang offen gelassen, ob Schutzgut und Inhalt des Art. 9 I die Anwendung der Vereinigungsfreiheit auf Wirtschaftsgesellschaften wie private Krankenversicherer zulassen, insoweit jedoch erhebliche Zweifel zum Ausdruck gebracht: „Denn im Unterschied zu dem Typus der Vereinigungen, die das Grundrecht der Vereinigungsfreiheit seiner Geschichte und seiner heutigen Geltung nach primär schützen will, tritt bei diesen Gesellschaften das personale Element bis hin zur Bedeutungslosigkeit zurück“ (BVerfGE 124, 25 (34), im Anschluss an BVerfGE 50, 290 (355)). Anders verhält es sich jedenfalls bei kleineren Versicherungsvereinen iSd § 210 VAG nF (ehemals § 53 VAG aF), „weil der Aspekt der freien sozialen Gruppenbildung bei solchen Vereinen von Gewicht ist“ (BVerfGE 124, 25 (34 f.)). Ausländische Personen sind auf das Auffanggrundrecht des Art. 2 I verwiesen (vgl. Vor Art. 1 Rn. 36 ff.).

f) Verhältnis zu spezielleren Vereinigungsfreiheiten

Die Freiheit der Vereinigung zu Religionsgemeinschaften ist in Art. 4 I und II iVm Art. 140 GG und Art. 137 II WRV geschützt. Auch weltanschauliche Vereinigungen können sich lediglich auf die Weltanschauungsfreiheit des Art. 4 I berufen. Art. 21 gewährleistet die Parteienfreiheit, Art. 9 III die Freiheit zur Bildung von Koalitionen. Alle genannten Rechte verdrängen aufgrund ihrer Spezialität die allgemeine Vereinigungsfreiheit.

2. Eingriffe

Das Vereinigungsverbot stellt den schwerwiegendsten Eingriff in Art. 9 I dar. Ein weiteres Beispiel ist die präventive Kontrolle der Vereinigungen durch ein Konzessionssystem. Ebenso beeinträchtigt die Untersagung des Vereinsbeitritts die Vereinigungsfreiheit. Auch bloß faktische Beeinträchtigungen (vgl. allg. Vor Art. 1 Rn. 48 f.) wie etwa nachrichtendienstliche Beobachtungen von Vereinsaktivitäten lassen sich als Grundrechtseingriffe qualifizieren (Sachs/Höfling Art. 9 Rn. 36). Die zulässige Ausgestaltung der Vereinigungsfreiheit ist dagegen kein Eingriff (BVerfGE 50, 290 (354 f.); Jarass/Pieroth/Jarass Art. 9 Rn. 13).

3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

a) Rechtfertigung von Vereinigungsverboten

Gem. Art. 9 II sind Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, verboten. Der Wortlaut des Art. 9 II suggeriert zunächst eine Schutzbereichsbegrenzung. So formuliert auch das BVerfG: „Mit dieser abschließenden Festlegung von Verbotsgründen beschränkt Art. 9 Abs. 2 GG das kollektive Recht auf Fortbestand der Vereinigung und setzt dem Grundrecht der Vereinigungsfreiheit von Verfassungs wegen eine eigenständige Grenze. Art. 9 GG ist dahin auszulegen, daß Abs. 1 die Vereinigungsfreiheit lediglich mit der sich aus Abs. 2 ergebenden Einschränkung gewährleistet“ (BVerfGE 80, 244 (253 mwN)). Jedoch sprechen der Vergleich mit Art. 21 II und die Grundsätze der Rechtssicherheit sowie der Grundrechtseffektivität für die Einordnung als Grundrechtsschranke (v. Mutius Jura 1984, 193 (199); Jarass/Pieroth/Jarass Art. 9 Rn. 17; von einer Schranke der Vereinigungsfreiheit spricht nunmehr auch BVerfGE 149, 160 (193)). Die Rechtsfolge des Art. 9 II – das Vereinigungsverbot – tritt nicht automatisch ein, sondern erst durch eine konkretisierende Verbotsverfügung, die eine konstitutive Wirkung entfaltet (BVerwGE 47, 330 (351)). Die Zuständigkeit richtet sich nach § 3 II VereinsG. Die Verbotsgründe sind in Art. 9 II abschließend geregelt (Murswiek JuS 1992, 116 (121)).

Vereinigungen, deren Zweckbestimmung oder Tätigkeiten den Strafgesetzen zuwiderlaufen, sind verboten. Damit sind allgemeine Strafgesetze gemeint. Vereinsspezifisches Sonderstrafrecht kann keine Berücksichtigung finden (Sachs/Höfling Art. 9 Rn. 45). Anderenfalls könnte der Gesetzgeber gezielt einzelne Vereinsgattungen bekämpfen und somit die Vereinigungsfreiheit aushöhlen. „Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, daß das Verhalten der Mitglieder der Vereinigung zugerechnet werden kann. Eine durch die Mitglieder verwirklichte Strafgesetzwidrigkeit muß den Charakter der Vereinigung prägen. […] Die Strafgesetzwidrigkeit einer Vereinigung ist auch dann gegeben, wenn deren Mitglieder zwar spontan und aufgrund eines eigenen Entschlusses Straftaten begehen, dabei aber immer wieder geschlossen als Vereinigung auftreten, so daß die Straftaten sich nach außen als Vereinsaktivitäten darstellen, und die Vereinigung diesen Umstand kennt und billigt oder jedenfalls widerspruchslos hinnimmt“ (BVerwGE 80, 299 (306 f.); vgl. BVerwG NVwZ 2013, 870 (874)). Dem Verein zurechenbar ist ferner die Proklamation des fraglichen Verhaltens in der Vereinssatzung oder während der Gründungsversammlung (v. Mutius Jura 1984, 193 (199)).

Ferner sind Vereinigungen verboten, die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richten. „Grundsätzlich rechtfertigt sich das Verbot einer Vereinigung nach Art. 9 Abs. 2 GG nicht bereits bei Äußerungen, welche die verfassungsmäßige Ordnung des Grundgesetzes ablehnen oder ihr andere Grundsätze entgegenstellen. Gegen die verfassungsmäßige Ordnung des Grundgesetzes ‚richten‘ sich grundsätzlich nur Vereinigungen, die den Willen haben, ihre mündlich oder schriftlich verbreiteten verfassungsfeindlichen Ziele in die Tat umzusetzen […]. Die verfassungsfeindliche Vereinigung muß in kämpferisch-aggressiver Form das Ziel verfolgen, die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik zu untergraben. Um ein Verbot nach Art. 9 Abs. 2 GG rechtmäßig zu erlassen, sind daher grundsätzlich im Zeitpunkt der Verbots- und Auflösungsverfügung Tatsachen festzustellen, die eine Tätigkeit der Vereinigung mit dem Ziele der Verwirklichung ihrer verfassungsfeindlichen Absichten ergeben“ (BVerwGE 37, 344 (358 f.) – ohne die Hervorhebungen; vgl. ferner BVerfGE 149, 160 (197 f.); BVerwG DVBl 2003, 873 (877); NVwZ 2013, 870 (871)). Eine mangelnde Akzeptanz der verfassungsmäßigen Ordnung genügt ebenso wenig wie das unzurechenbare Handeln einzelner Mitglieder (v. Mutius Jura 1984, 193 (199 f.)).

Der Begriff der verfassungsmäßigen Ordnung erfasst nicht – anders als in Art. 2 I – sämtliche formell und materiell verfassungsgemäßen Rechtsnormen (Art. 2 Rn. 12), sondern beschränkt sich auf die freiheitliche demokratische Grundordnung (Stern/Sodan/Möstl/Schaks § 116 Rn. 55; aA Jarass/Pieroth/Jarass Art. 9 Rn. 19). Die Bestimmung dieses Begriffs erfordert dem BVerfG zufolge „eine Konzentration auf wenige, zentrale Grundprinzipien, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich sind“ (BVerfGE 144, 20 (205) – NPD-Verbotsverfahren; näher Art. 21 Rn. 36 f.). Diese sind insbes. die in Art. 1 I verankerte Menschenwürde, das Demokratieprinzip und der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit (BVerfGE 149, 160 (197)).

Schließlich sind Vereinigungen, die sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, von Art. 9 II erfasst. Dazu gehören diejenigen, die mit aggressiv-kämpferischer Haltung die rassische oder nationale Minderwertigkeit bestimmter Gruppen oder in den internationalen Beziehungen Gewalt oder vergleichbar schwerwiegende völkerrechtswidrige Handlungen aktiv propagieren und ggf. fördern (BVerfGE 149, 160 (200 mwN); BVerfG [K] NVwZ 2020, 226 (227) – Vereinsverbot wegen mittelbarer Unterstützung der Hisbollah; Murswiek JuS 1992, 116 (121)). Zugleich knüpft Art. 9 II in vereinsspezifischer Ausprägung an das allgemeine verfassungsrechtliche Verbot des Art. 26 I an (Sachs/Höfling Art. 9 Rn. 47).

b) Rechtfertigung milderer Beeinträchtigungen

Art. 9 II ermöglicht nicht nur Vereinigungsverbote, sondern auch mildere Eingriffe zur Unterdrückung der missbilligten Zielsetzungen (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 9 Rn. 22). Ferner kann zugunsten kollidierender Verfassungsgüter (Vor Art. 1 Rn. 53), welche sich in der erforderlichen Abwägung als vorrangig erweisen, in die Vereinigungsfreiheit eingegriffen werden (v. Mutius Jura 1984, 193 (201)). Eingriffe in die Vereinigungsfreiheit sind demnach außerhalb von Verboten nach Art. 9 II „zulässig, sofern andere Grundrechte oder Rechtsgüter mit Verfassungsrang einen solchen Eingriff in den Schutzbereich der Vereinigungsfreiheit rechtfertigen“ (BVerfGE 124, 25 (36)). Das BVerfG zählt zu diesen Rechtsgütern etwa das Sozialstaatsgebot (Art. 20 Rn. 20 ff.) und hält den Gesetzgeber für berechtigt, einen Kontrahierungszwang privater Krankenversicherer bzgl. des sog. Basistarifs (s. dazu Sodan/Sodan, Handbuch des Krankenversicherungsrechts, 3. Aufl. 2018, § 45 Rn. 6 ff., 20 ff.; vgl. ferner Art. 12 Rn. 31a) zu regeln und „auf diese Weise für den der privaten Krankenversicherung zugewiesenen Personenkreis einen ausreichenden und bezahlbaren Versicherungsschutz zu gewährleisten“ (BVerfGE 124, 25 (37); vgl. auch BVerfGE 123, 186 (242 f.)). Für kleinere Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit wäre jedoch ein allgemeiner Kontrahierungszwang im Basistarif mit Art. 9 I unvereinbar: Aufgrund einer vom BVerfG vorgenommenen verfassungskonformen Auslegung des § 12 Ib 1 VAG aF (§ 152 II 1 VAG nF) und des § 193 V 1 VVG müssen die kleineren Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit lediglich diejenigen Antragsteller, die zu ihrem satzungsmäßigen Mitgliederkreis gehören, zu den Konditionen des Basistarifs versichern (BVerfGE 124, 25 (39 ff.)).

c) Verhältnismäßigkeitsprinzip

Eingriffe in die allgemeine Vereinigungsfreiheit, dh sowohl Verbote als auch mildere Beeinträchtigungen, müssen dem Verhältnismäßigkeitsprinzip (Vor Art. 1 Rn. 60 ff.) genügen, dh zur Erreichung des verfolgten Zwecks geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ieS sein (vgl. BVerfGE 30, 227 (243)). Die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit kann zu einer restriktiven Auslegung der Verbotsgründe führen. So ist ein Vereinsverbot „unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nicht schon dann gerechtfertigt, wenn eine ihrem Wesen nach unbedenkliche oder sogar förderungswürdige Vereinigung auch einzelne verfassungsfeindliche Aktionen unternimmt und wenn diese Aktionen sich durch mildere Verwaltungsmittel als die Auflösung der Vereinigung hinreichend wirksam verhindern lassen“ (BVerwGE 37, 344 (361 f.)).

III. Koalitionsfreiheit

1. Schutzbereich

a) Begriff der Koalition

Vereinigungen iSd Art. 9 III 1 (Koalitionen, daher auch „Koalitionsfreiheit“, s. BVerfGE 4, 96 (105); 50, 290 (367)) unterscheiden sich von den durch Art. 9 I geschützten Vereinigungen durch besondere Merkmale, die neben die allgemeinen Voraussetzungen der Vereinigung treten. Ihr Zweck muss auf die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen gerichtet sein. Art. 9 III 1 erlaubt daher – anders als Art. 9 I – keine Zweckoffenheit der Koalition (Sodan JZ 1998, 421 (422)). Koalitionen sind durch Gegnerfreiheit (BVerfGE 50, 290 (368); 100, 214 (223)), dh durch eine zumindest überwiegende Zusammensetzung nur aus Arbeitgebern oder lediglich aus Arbeitnehmern, sowie eine Gegnerunabhängigkeit gekennzeichnet (vgl. BVerfGE 18, 18 (28); 50, 290 (368)), also eine wirtschaftliche Unabhängigkeit von der Gegenpartei.

Das BVerfG und ein Teil des Schrifttums erachten ferner die Überbetrieblichkeit der Koalition als erforderlich (BVerfGE 4, 96 (106); 18, 18 (28); 50, 290 (368); 58, 233 (247); grds. zust. Dreier/Bauer Art. 9 Rn. 78; v. Münch/Kunig/Winkler Art. 9 Rn. 130 f.; vgl. ferner Jarass/Pieroth/Jarass Art. 9 Rn. 35, der annimmt, dass auf diese Anforderung in Sonderfällen verzichtet werden könne). Anderenfalls soll es der Koalition an der notwendigen Unabhängigkeit (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 9 Rn. 35) und sozialen Mächtigkeit (v. Münch/Kunig/Winkler Art. 9 Rn. 131; vgl. auch BVerfGE 84, 212 (229)) mangeln. Es ist jedoch nicht einzusehen, warum große und mächtige Gewerkschaften gegenüber weniger einflussreichen Koalitionen privilegiert werden sollten. Eine solche Sichtweise beruht auf der von der grundgesetzlichen Ordnung nicht geteilten Ideologie des Klassenkampfes. Sie wird weder durch den Wortlaut des Art. 9 III 1 noch durch dessen systematische Stellung gestützt (Ehmann ZRP 1996, 314 (320); Sodan JZ 1998, 421 (428)). Als Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe muss Art. 9 III 1 erst recht kleineren Gewerkschaften Schutz gewährleisten. Die Grundrechtsträgerschaft kann nicht von der Wirkungsmacht der Koalition abhängen. Daher können weder die Überbetrieblichkeit noch die soziale Macht der Vereinigung brauchbare Kriterien des Koalitionsbegriffs sein (Sodan JZ 1998, 421 (428 f.)). Auch eine Kampfbereitschaft der Koalition ist nicht erforderlich, da die Wahl der Mittel zur Zweckrealisation gerade durch die Koalitionsfreiheit gedeckt und der Arbeitskampf nur eines der geschützten Mittel ist (BVerfGE 18, 18 (32); 50, 290 (368); 148, 296 (344)). Das BVerfG weist zutr. darauf hin, dass „die sinnvolle Ordnung und Befriedung des Arbeitslebens, um die es Art. 9 Abs. 3 GG geht, auf verschiedenen Wegen angestrebt werden“ kann: „nicht nur durch Gestaltungen, die, wie das Tarifsystem, durch die Grundelemente der Gegensätzlichkeit der Interessen, des Konflikts und des Kampfes bestimmt sind, sondern auch durch solche, die Einigung und Zusammenwirken in den Vordergrund rücken“ (BVerfGE 50, 290 (371)).

b) Personeller Schutzbereich

Ausweislich des Wortlauts in Art. 9 III 1 steht die Koalitionsfreiheit „jedermann und für alle Berufe“ offen. Damit sind alle natürlichen Personen, ob auf Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberseite, geschützt ( individuelle Koalitionsfreiheit – BVerfGE 84, 212 (224)). Auch Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst können sich auf die Koalitionsfreiheit berufen (BVerfGE 88, 103 (114); 148, 296 (343)), nicht aber grds. „alle Menschen in ihrer Eigenschaft als Angehörige eines Berufes“ (offen lassend insoweit BSGE 103, 243 (265); BSG NZS 2017, 539 (548)). Art. 9 III 1 ist im Unterschied zu Art. 9 I kein „Deutschen-Grundrecht“; die Norm schützt daher auch Ausländer. Ferner sind die Koalitionen selbst ohne Rückgriff auf Art. 19 III vom personellen Schutzbereich erfasst ( kollektive Koalitionsfreiheit; vgl. BVerfGE 4, 96 (101 f.); 50, 290 (367); 84, 212 (224); 92, 365 (393); 148, 296 (343)). Wie die allgemeine Vereinigungsfreiheit bildet die Koalitionsfreiheit damit ein „Doppelgrundrecht“ (Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, 1964, 88).

c) Geschützte Verhaltensweisen

Die individuelle Koalitionsfreiheit garantiert die Gründung und den Beitritt zu einer Koalition sowie den Verbleib in dieser (vgl. etwa BVerfGE 19, 303 (312); 28, 295 (304); 50, 290 (367); 57, 220 (245)). Ferner schützt sie die Teilnahme an der verfassungsrechtlich geschützten Koalitionstätigkeit, wozu das BVerfG auch die Mitgliederwerbung (BVerfGE 93, 352 (358)) und die Werbung vor Personalratswahlen zählt (BVerfGE 51, 77 (87 f.)). Überdies ist die Freiheit gewährleistet, einer Koalition fernzubleiben oder aus dieser auszutreten ( „negative“ Koalitionsfreiheit – BVerfGE 50, 290 (367); 116, 202 (218)). Das BVerfG legt den Schutzbereich des Art. 9 III 1 insoweit sehr eng aus. „Allein dadurch, daß jemand den Vereinbarungen fremder Tarifvertragsparteien unterworfen wird, ist ein solcher spezifisch koalitionsrechtlicher Aspekt nicht betroffen. Auch sofern sich hieraus für den Betroffenen ein Druck ergeben sollte, sich der Arbeitgeberorganisation anzuschließen, um Einfluß auf die Vereinbarungen nehmen zu können, ist die durch Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG geschützte negative Koalitionsfreiheit nicht verletzt“ (BVerfGE 64, 208 (213 f.)).

Die kollektive Koalitionsfreiheit schützt „auch die Koalitionen selbst in ihrem Bestand, ihrer Organisation und ihrer Tätigkeit, soweit diese gerade in der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen besteht“ (BVerfGE 88, 103 (114) – ohne die Hervorhebungen). Wegen des spezifischen in Art. 9 III 1 genannten Vereinigungszwecks sind damit auch koalitionszweckrealisierende Betätigungen erfasst. Geschützt sind „alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen“ (BVerfGE 146, 71 (114 f.); 148, 296 (344)). Zur Klärung der Grenzen des geschützten Koalitionszwecks hat das BVerfG bisher wenig beigetragen (Überblick bei Sodan JZ 1998, 421 (423)). Zu den Arbeitsbedingungen gehören all jene Umstände, die sich auf das Arbeitsverhältnis selbst beziehen; dazu zählen insbes. Lohnhöhe und Arbeitszeit (vgl. Jarass/Pieroth/Jarass Art. 9 Rn. 34). Aus dieser Zwecksetzung ergibt sich vor allem das Recht zum Abschluss von Tarifverträgen ( Tarifautonomie, s. etwa BVerfGE 84, 212 (224)). Das „Zurücktreten des Staates zugunsten der Tarifparteien gewinnt seinen Sinn ebensosehr aus dem Gesichtspunkt, daß die unmittelbar Betroffenen besser wissen und besser aushandeln können, was ihren beiderseitigen Interessen und dem gemeinsamen Interesse entspricht, als der demokratische Gesetzgeber, wie aus dem Zusammenhang mit dem für die Gestaltung nicht öffentlich-rechtlicher Beziehungen charakteristischen Prinzip der ‚Privatautonomie‘, im Grunde also der Entscheidung des Grundgesetzes zugunsten des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates“ (BVerfGE 34, 307 (317)). Allerdings ist die Tarifautonomie nicht uferlos gewährleistet. Arbeitsbedingungen setzen die Existenz von Arbeitsplätzen voraus. Deren Erhaltung dient vor allem die Stabilität des Preisniveaus des Faktors Arbeit. Im Tarifgebiet muss die Summe der Kosten der Arbeit hinreichend unterhalb der Produktivität der Arbeit liegen (ausf. zu den Grenzen der Tarifautonomie Sodan JZ 1998, 421 (423 ff.)). Wirtschaftsbedingungen sind die für Arbeitnehmer und Arbeitgeber bedeutsamen allgemeinen wirtschafts- und sozialpolitischen Verhältnisse (Sachs/Höfling Art. 9 Rn. 57), wie etwa Maßnahmen zur Senkung der Arbeitslosigkeit oder die Einführung neuer Technologien. „Zu den geschützten Mitteln zählen jedenfalls die Arbeitskampfmaßnahmen, die erforderlich sind, um eine funktionierende Tarifautonomie sicherzustellen […]. Ein solches Mittel ist auch der Streik “ (BVerfGE 88, 103 (114); BVerfG [K] NZA 2020, 667 (668) – jew. ohne die Hervorhebung). Auch moderne Formen des Arbeitskampfes wie gewerkschaftlich getragene, auf Tarifverhandlungen bezogene sog. Flashmob-Aktionen sind von Art. 9 III geschützt (BVerfG [K] NJW 2014, 1874 (1875)). „Das Grundrecht vermittelt jedoch kein Recht auf unbeschränkte tarifpolitische Verwertbarkeit von Schlüsselpositionen und Blockademacht zum eigenen Nutzen“ (BVerfG NJW 2017, 2523, Ls. 1 S. 2). Umgekehrt ist die Aussperrung eine geschützte Tätigkeit, jedenfalls soweit sie „mit suspendierender Wirkung in Abwehr von Teil- oder Schwerpunktstreiks zur Herstellung der Verhandlungsparität eingesetzt“ wird (BVerfGE 84, 212 (225)). Auch die Mitgliederwerbung (BVerfGE 93, 352 (357)) und die gewerkschaftliche Betätigung in Betriebsräten und Personalvertretungen (BVerfGE 19, 303 (321); 50, 290 (372)) dienen der Realisation des Koalitionszwecks. Das BAG hat klargestellt, dass zu der durch Art. 9 III geschützten Koalitionsfreiheit ferner das Recht gehört, „im gesamten Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen die organisierten Gruppeninteressen gegenüber dem Staat und den politischen Parteien darzustellen und zu verfolgen“; daher fallen darunter „auch Aktionen der Gewerkschaften, die nicht auf Mitgliederwerbung oder auf den Abschluss von Tarifverträgen gerichtet sind, sondern mit denen arbeits- oder wirtschaftspolitische Forderungen gegenüber Regierung oder Gesetzgeber vertreten werden sollen“ (BAGE 113, 230 (234); vgl. auch BVerfG [K] NZA 2007, 394 (395)). Aus dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit folgt insoweit also auch ein Zugangsrecht der Koalitionen zu Abgeordneten und Regierungsmitgliedern, sofern sich diese auf entsprechende Kontakte einlassen. Eine solche, durchaus als Lobbyismus (zu diesem Begriff Sodan LKV 2012, 193 (195 f.)) zu bezeichnende, aber eben „spezifisch koalitionsmäßige“ (zu dieser Formulierung BVerfGE 57, 29 (37)) Tätigkeit ist durch Art. 9 III in besonderer Weise grundrechtlich geschützt (näher dazu Sodan LKV 2012, 193 (200 f.)).

Da die Koalitionsfreiheit auch solchen Vereinigungen zukommt, die nicht überbetrieblich organisiert sind (Rn. 20), gewährleistet Art. 9 III 1 nicht nur die Tarifautonomie, sondern zwangsläufig auch eine Betriebsautonomie (s. dazu näher Sodan JZ 1998, 421 (427 ff.)). Betriebsvereinbarungen zeichnen sich durch eine besondere Sachnähe zu den konkreten betrieblichen Arbeitsbedingungen aus.

Andere als koalitionsspezifische Betätigungen der Verbände können nur über die sonstigen Grundrechte iVm Art. 19 III geschützt sein.

d) Unmittelbare Drittwirkung

Gem. Art. 9 III 2 sind Abreden zwischen Privaten, welche die Koalitionsfreiheit einschränken oder zu behindern suchen, nichtig; hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. Die Koalitionsfreiheit entfaltet daher eine grundgesetzlich angeordnete unmittelbare Drittwirkung (Vor Art. 1 Rn. 23), dh einen umfassenden Schutz im Arbeitsverhältnis und im sonstigen Privatrechtsverkehr (BVerfGE 57, 220 (245); Sodan JZ 1998, 421 (426)).

e) Ausgestaltungspflicht

„Mehr noch als die in Art. 9 Abs. 1 GG gewährleistete allgemeine Vereinigungsfreiheit bedarf die Koalitionsfreiheit von vornherein der gesetzlichen Ausgestaltung. Diese besteht nicht nur in der Schaffung der Rechtsinstitute und Normenkomplexe, die erforderlich sind, um die grundrechtlich garantierten Freiheiten ausüben zu können. Die Bedeutung und Vielzahl der von der Tätigkeit der Koalitionen berührten Belange namentlich im Bereich der Wirtschafts- und Sozialordnung machen vielmehr vielfältige gesetzliche Regelungen notwendig, die der Koalitionsfreiheit auch Schranken ziehen können; dies umso mehr, als der Gegenstand der Gewährleistung auf sich wandelnde wirtschaftliche und soziale Bedingungen bezogen ist, die mehr als bei anderen Freiheitsrechten die Möglichkeit zu Modifikationen und Fortentwicklungen lassen müssen“ (BVerfGE 50, 290 (368)). Die Koalitionsfreiheit ist zudem durch den Interessengegensatz zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern geprägt, der gesetzliche Regelungen zum schonenden Ausgleich der gegenläufigen Grundrechtspositionen erfordert (vgl. BVerfGE 88, 103 (115); BVerfG [K] NZA 2020, 1186 (1187)). Der Kernbereich der Koalitionsfreiheit darf jedoch nicht im Zuge der Ausgestaltung angetastet werden. Dies ist der Fall, wenn die Regelungen zum Schutz kollidierender Rechtsgüter sachlich nicht geboten sind (BVerfGE 93, 352 (359)).

2. Eingriffe

Eingriffe in die Koalitionsfreiheit sind etwa gegeben, wenn der Staat eine Zwangsschlichtung vornimmt (vgl. BVerfGE 18, 18 (30)) oder Beamte auf bestreikten Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst einsetzt (BVerfGE 88, 103 (114 f.)). Die zulässige gesetzliche Ausgestaltung des Grundrechts begründet keinen Eingriff (Stern/Becker/Rixen Art. 9 Rn. 69). Aufgrund der unmittelbaren Drittwirkung der Koalitionsfreiheit (Rn. 26) beeinträchtigen tarifvertragliche Differenzierungsklauseln, nach denen tarifgebundene Arbeitnehmer höhere Bezüge erhalten sollen als Arbeitnehmer ohne Koalitionsmitgliedschaft, die „negative“ Koalitionsfreiheit; denn solche Abreden zwingen „freie“ Arbeitnehmer in die Gewerkschaften (BAGE 20, 175 (218 ff.)). Dagegen schützt das Grundrecht der „negativen“ Koalitionsfreiheit nach Auffassung des BVerfG nicht davor, „dass der Gesetzgeber die Ergebnisse von Koalitionsvereinbarungen zum Anknüpfungspunkt gesetzlicher Regelungen nimmt“ (BVerfGE 116, 202 (218); s. ferner BVerfGE 44, 322 (351 f.) zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen). Daher sollen auch Vergabenormen, welche die ausgewählten, aber tarifungebundenen Unternehmen dazu verpflichten, bei der Ausführung der Leistungen ihre Arbeitnehmer nach den geltenden Tarifvereinbarungen zu entlohnen, nicht gegen Art. 9 III verstoßen (BVerfGE 116, 202 (217 ff.); zu Recht krit. Preis/Ulber NJW 2007, 465 ff.; hingegen wurden Vergabenormen, die bei Fehlen tarifvertraglicher Regelungen die Verpflichtung der ausgewählten Unternehmen zur Zahlung eines in der Vergabenorm festgelegten Mindestlohns vorsahen, vom EuGH als unionsrechtswidrig angesehen, s. EuGH Slg. 2008, I-1989–2040 f.)). Ein Eingriff in die Koalitionsfreiheit bzw. die hierüber geschützte Tarifautonomie liegt aber dann vor, wenn staatliche Mindestlohnregelungen (s. aus dem MiLoG insbes. dessen §§ 1 und 3) so ausgestaltet sind, dass sie (anderweitigen) Tarifverträgen, welche niedrigere Entgelte vorsehen als die staatlich festgelegte Mindestlohnvorgabe, generell vorgehen (vgl. auch BVerfGE 44, 322 (352 f.); 55, 1 (24); VG Berlin NVwZ 2008, 804 (806)). Zur Rechtfertigung einer solchen Beseitigung des grundrechtlich geschützten Tarifvorrangs gegenüber staatlichen Mindestlöhnen kann in Ermangelung anderer verfassungsimmanenter Schranken (Rn. 30) und wegen der umfassend anerkannten, zudem gerade aus Art. 9 III resultierenden „Richtigkeitsgewähr“ von Tarifverträgen (BAGE 39, 119 (129); s. dazu auch BVerfG NJW 2017, 2523 (2526)) nur die in Art. 1 I verbürgte Menschenwürdegarantie herangezogen werden, folglich die Beseitigung des Tarifvorrangs lediglich im Hinblick auf nicht einmal existenzsichernde Arbeitsentgelte oder „Hungerlöhne“ (BAG EzA BGB 2002 § 138 Nr. 2, S. 7) mit Art. 9 III vereinbar sein. Außerhalb dessen hingegen ist dem Staat die Beseitigung des Tarifvorrangs in Bezug auf Arbeitsentgelte, deren Aushandeln gerade im Kernbereich der Tarifautonomie liegt, verwehrt (s. ausf. zu dieser Problematik staatlich festgesetzter Mindestlöhne Sodan/Zimmermann NJW 2009, 2001 ff.). Einen Eingriff in die Tarifautonomie stellt ferner eine Regelung dar, die – soweit sich in einem Betrieb die Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften überschneiden – die Verdrängung abgeschlossener Tarifverträge anordnet (BVerfGE 146, 71 (116); näher Rn. 30). Die Regelung kann nach Ansicht des BVerfG bereits vor Eintritt einer Tarifkollision vielfache „grundrechtsbeeinträchtigende Vorwirkungen“ entfalten; zu einer Einschränkung des Streikrechts der Gewerkschaften führe sie indes nicht (BVerfGE 146, 71 (116 f.)).

3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

a) Art. 9 II

Art. 9 III selbst sieht keinen Schrankenvorbehalt vor. Ein Teil der Literatur argumentiert, die Koalitionsfreiheit dürfe nicht unter stärkerem Schutz stehen als die Parteienfreiheit des Art. 21. Die Koalitionsfreiheit sei nur eine spezielle Vereinigungsfreiheit, so dass Art. 9 II angewendet werden müsse (Dreier/Bauer Art. 9 Rn. 93; aA nunmehr v. Münch/Kunig/Winkler Art. 9 Rn. 182). Gegen diese Auffassung ist jedoch die systematische Stellung der Regelung der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 II einzuwenden. Auch Art. 5 II bezieht sich nicht auf Art. 5 III. Außerdem können Koalitionen iSd Art. 9 III schwerlich die Voraussetzungen des Art. 9 II erfüllen. Die Schranke des Art. 9 II gilt daher nicht für die Koalitionsfreiheit (so jetzt auch BVerfGE 146, 71 (118); W. Schmidt NJW 1965, 424 (426); v. Münch/Kunig/Winkler Art. 9 Rn. 182; Sachs/Höfling Art. 9 Rn. 135 f.; Stern/Becker/Rixen Art. 9 Rn. 87 f.).

b) Kollidierendes Verfassungsrecht

Zugunsten kollidierender Verfassungsrechtsgüter (Vor Art. 1 Rn. 53) darf aufgrund eines Gesetzes (Dreier/Bauer Art. 9 Rn. 95) in die Koalitionsfreiheit eingegriffen werden; dies können nicht nur andere Grundrechte Dritter sowie sonstige Rechtsgüter von Verfassungsrang sein, sondern auch gegenläufige Grundrechtspositionen aus Art. 9 III 1 selbst (vgl. BVerfGE 84, 212 (228); BVerfG [K] NZA 2007, 394 (395); NZA 2020, 1186 (1187)). Bspw. ergibt sich aus den in Art. 33 V verankerten „hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums“, „daß die angemessene Alimentierung summenmäßig nicht ‚erstritten‘ und ‚vereinbart‘ wird, sondern einseitig durch Gesetz festzulegen ist, und daß innerhalb des Beamtenrechts die Zulassung eines Streiks ausgeschlossen ist“ (BVerfGE 44, 249 (264) – ohne die Hervorhebung; vgl. ferner BVerfGE 148, 296 (361)), obwohl ein Streik als wirtschaftliche Kampfmaßnahme prinzipiell durch Art. 9 III geschützt ist (vgl. ferner BVerfGE 8, 1 (17); 8, 28 (35); 19, 303 (322); 119, 247 (264, 268); BVerwGE 53, 330 (331); OVG NRW NVwZ 2012, 890 ff.). Das allg. für Beamte geltende Verbot, zur Durchsetzung von Arbeitsbedingungen kollektive Kampfmaßnahmen zu ergreifen, bezeichnete das BVerwG in einem Urt. v. 27.2.2014 erneut als hergebrachten Grundsatz iSv Art. 33 V; dieses Verbot gehe dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit in seinem Anwendungsbereich vor (BVerwGE 149, 117 (125 f.)). Das BVerwG wies aber auch auf Art. 11 EMRK hin, der in seiner durch den EGMR vorgenommenen Auslegung (s. EGMR [Große Kammer] NZA 2010, 1425 (1429 ff.); EGMR [III. Sektion] NZA 2010, 1423 (1424 f.); s. zur Interpretation dieser Rspr. BVerfGE 148, 296 (380 ff.); Sodan/Schaks VSSR 2014, 89 (100 f.)) „allen Angehörigen des öffentlichen Dienstes, die nicht in den Streitkräften, der Polizei und der genuinen Hoheitsverwaltung tätig sind, sowie ihren Gewerkschaften ein Recht auf Kollektivverhandlungen und darauf bezogene kollektive Kampfmaßnahmen“ gewährleiste (BVerwGE 149, 117, Ls. 3). Der Gesetzgeber müsse „für die Beamten außerhalb der genuin hoheitlichen Verwaltung nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz einen Ausgleich der sich gegenseitig ausschließenden Rechtspositionen aus Art. 33 Abs. 5 GG und Art. 11 EMRK herbeiführen“ (BVerwGE 149, 117 (136); s. ferner BVerwG NVwZ 2015, 811 f.; auch Art. 33 Rn. 30a). Jedenfalls für Angestellte und Arbeiter des öffentlichen Dienstes besteht kein Streikverbot. Dies muss u. a. daraus folgen, dass Beamte als „Ausgleich für die fehlende Möglichkeit […], durch Maßnahmen des Arbeitskampfes auf ihre Beschäftigungsbedingungen Einfluss zu nehmen“, über das subjektiv-öffentliche Recht verfügen, nach Art. 33 V „die Verfassungsgemäßheit ihrer Alimentation gerichtlich überprüfen zu lassen“, während den Angestellten des öffentlichen Dienstes diese besondere Kontrollmöglichkeit nicht zusteht (BVerfGE 148, 296 (386)). Krankenhauspersonal kann das Streikrecht entzogen werden, wenn hierdurch die Gesundheit der stationär behandelten Patienten gefährdet wird; zumindest eine Notfallversorgung muss sichergestellt sein. Insoweit kann die Koalitionsfreiheit ggf. hinter die in Art. 2 II 1 garantierten Rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit zurücktreten (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 9 Rn. 59). Auch für Maßnahmen des Arbeitskampfes gilt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. BVerfG [K] NJW 2014, 1874 (1875); ausf. Fischinger RdA 2007, 99 ff.). Zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Systems der Tarifautonomie ist der Gesetzgeber berechtigt, „Regelungen zum Verhältnis der Tarifvertragsparteien“ (auch auf einer der beiden Seiten) „zu treffen, um strukturelle Voraussetzungen dafür herzustellen, dass Tarifverhandlungen einen fairen Ausgleich ermöglichen“ (BVerfGE 146, 71 (124) – ohne die Hervorhebungen). Aufgrund des hohen Gewichts dieses Ziels hat das BVerfG durch Urt. v. 11.7.2017 das Gesetz zur Tarifeinheit v. 3.7.2015 (BGBl. I 1130), wonach im Fall kollidierender Tarifverträge (Rn. 28) in einem Betrieb nur die Rechtsnormen des Tarifvertrags der Mehrheitsgewerkschaft anwendbar sind, für weitgehend mit Art. 9 III vereinbar erklärt (BVerfGE 146, 71 ff.). Zweck des Gesetzes sei es, auf der Arbeitnehmerseite ein koordiniertes und kooperatives Vorgehen in Tarifverhandlungen zu bewirken, um der Ausnutzung von Blockadepositionen einzelner Arbeitnehmergruppen entgegenzuwirken und Tarifkollisionen zu vermeiden (BVerfGE 146, 71 (125)). Der durch das Gesetz neu eingefügte § 4a TVG sei lediglich insoweit nicht mit Art. 9 III vereinbar, „als es an Vorkehrungen fehlt, die sicherstellen, dass die Interessen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG verdrängt wird, im verdrängenden Tarifvertrag hinreichend berücksichtigt werden“ (BVerfGE 146, 71 (72); s. dazu näher Wienbracke NJW 2017, 2506 ff.).

c) Art. 9 III 3

Eine besondere „Schranken-Schranke“ sieht Art. 9 III 3 für die dort abschließend aufgezählten Notstandsmaßnahmen vor. Diese dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen iSd Art. 9 III 1 geführt werden. Daraus folgt jedoch nur, dass das Grundrecht im Notstandsfall keinen weiteren Beschränkungen unterworfen ist als im Normalfall, dh Eingriffe, die im Normalfall nicht gerechtfertigt sind, können dies auch im Fall des Notstands nicht sein (Dreier/Bauer Art. 9 Rn. 96; Jarass/Pieroth/Jarass Art. 9 Rn. 54). Damit können auch Notstandsmaßnahmen die Koalitionsfreiheit beschränken.