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Artikel 2 [Freie Entfaltung der Persönlichkeit; Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit; Freiheit der Person]

(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) 1 Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. 2 Die Freiheit der Person ist unverletzlich. 3 In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

I. Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit

1. Bedeutung und Systematik des Grundrechts

Das in Art. 2 I gewährleistete Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit dient als Folge der weiten Interpretation seines Inhalts iSd Garantie der allgemeinen Handlungsfreiheit (Rn. 2 ff.) als Auffanggrundrecht gegenüber den speziellen Freiheitsrechten und ist daher nur subsidiär anwendbar. Sobald also der Schutzbereich eines besonderen Freiheitsrechts beeinträchtigt ist, tritt Art. 2 I als allgemeines Freiheitsrecht zurück (BVerfGE 6, 32 (37); 77, 84 (118); 83, 182 (194); 89, 1 (13)). Ein Rückgriff auf diese Vorschrift ist daher auch dann unzulässig, wenn sich ein Eingriff in das spezielle Freiheitsrecht als verfassungsmäßig erweist (v. Münch/Kunig/Kunig Art. 2 Rn. 12; Jarass/Pieroth/Jarass Art. 2 Rn. 2 f.).

2. Schutzbereich

a) Sachlicher Schutzbereich

aa) Allgemeine Handlungsfreiheit

Der Inhalt des Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ist seit langem geklärt. Nach der im frühen Schrifttum teilweise vertretenen sog. Persönlichkeitskerntheorie sollte Art. 2 I lediglich den „Kernbezirk des Persönlichen“ garantieren, der den Menschen als geistig-sittliche Person kennzeichnet; die Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung erfasse nämlich nur das Grundgesetz und sei damit sehr eng, sodass auch der Schutzbereich des Grundrechts lediglich einen Kernbereich der Persönlichkeitsentfaltung abdecken könne (s. Peters FS Laun, 1953, 669 (673); Peters, Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, 1963, 48 f.; s. ferner zu diesem Komplex Stern/Sodan/Möstl/G. Kirchhof § 109 Rn. 32 f.). Dem hielt das BVerfG im grdl. „Elfes-Urteil“ aus dem Jahr 1957 entgegen, „es wäre nicht verständlich, wie die Entfaltung innerhalb dieses Kernbereichs gegen das Sittengesetz, die Rechte anderer oder sogar gegen die verfassungsmäßige Ordnung einer freiheitlichen Demokratie sollte verstoßen können“ (BVerfGE 6, 32 (36)). Eine vergleichsweise enge Inhaltsbestimmung schlug 1989 der Bundesverfassungsrichter Grimm in einem Sondervotum vor: Das „individuelle Verhalten, das mangels spezieller Grundrechtsgarantien den Schutz von Art. 2 Abs. 1 GG beanspruchen“ wolle, müsse „eine gesteigerte, dem Schutzgut der übrigen Grundrechte vergleichbare Relevanz für die Persönlichkeitsentfaltung besitzen“ (BVerfGE 80, 164 (165); vgl. ferner Hesse Rn. 428). Das BVerfG hingegen vertritt in stRspr die Auffassung, Art. 2 I gewährleiste die allgemeine Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne (BVerfGE 6, 32 (36 ff.); 54, 143 (146); 74, 129 (151 f.); 80, 137 (152); 108, 186 (234); 111, 54 (81); 112, 1 (21); 113, 88 (103); 128, 1 (68)). Neben dem systematischen Schluss von der in Art. 2 I Hs. 2 genannten weiten Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung (Rn. 12) auf den Inhalt des Grundrechts verwies das BVerfG als Argument für einen umfassenden Schutzbereich auch auf die Entstehungsgeschichte der Norm. Eine Entwurfsfassung lautete nämlich: „Jedermann hat die Freiheit, zu tun und zu lassen, was die Rechte anderer nicht verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“ (Drs. ParlRat 1.49–543). Dieser Wortlaut wurde nur aus stilistischen, nicht aber aus inhaltlichen Gründen geändert (vgl. BVerfGE 6, 32 (38 f.); 80, 137 (154)). Zudem erfüllt der umfassende Schutz der menschlichen Handlungsfreiheit eine „wertvolle Funktion in der Freiheitssicherung“ (BVerfGE 80, 137 (154)); die Existenz grundrechtsfreier Räume darf nicht hingenommen werden (Lege Jura 2002, 753 (754)). Schließlich führt der Begriff der Persönlichkeitsentfaltung zu schwer lösbaren Abgrenzungsproblemen bei der Anwendung einschränkender Theorien (BVerfGE 80, 137 (154); MKS/Starck Art. 2 Rn. 10; Sachs/Rixen Art. 2 Rn. 45). Der drohenden Ausuferung des Grundrechts kann mit der weiten Schrankenregelung begegnet werden.

Damit erfasst der Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit „ jedes menschliche Verhalten ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht ihm für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt“; geschützt ist nicht nur das Handeln, sondern auch das Nichthandeln (Sachs/Rixen Art. 2 Rn. 52; vgl. ferner BVerfG [K] NJW 2008, 2701; 2010, 1289; VerfGH Bln LVerfGE 19, 3 (9)). Aus Art. 2 I folgen u. a.: die Ausreisefreiheit (Art. 11 Rn. 2), die Vertragsfreiheit (BVerfGE 8, 274 (328); 74, 129 (152); 95, 267 (303 f.); 103, 197 (215); 114, 1 (34 f.); 117, 163 (181); 126, 286 (300); 134, 204 (222)), soweit diese sich nicht auf den Bereich beruflicher Betätigung bezieht, in dem Art. 12 I einschlägig ist (Art. 12 Rn. 14), die Fortbewegungsfreiheit etwa mit dem Auto (vgl. BVerwGE 30, 235 (238); BVerwG NJW 1988, 432 f.) oder einem Pferd (BVerfGE 80, 137 (154 f.)), die Freiheit von Zwangsmitgliedschaft in öffentlich-rechtlichen Verbänden (Art. 9 Rn. 7) oder in verfahrensrechtlicher Hinsicht die freie Wahl des Verteidigers (BVerfGE 45, 272 (295)). Aus Art. 2 I iVm Art. 20 III (dazu allg. Art. 20 Rn. 34 ff.) werden vom BVerfG jew. das „ allgemeine Prozessgrundrecht auf ein rechtsstaatliches, faires Verfahren “ (BVerfG [K] NJW 2011, 591 (592); vgl. auch BVerfGE 38, 105 (111); 65, 171 (174); 66, 313 (318); 86, 288 (317 f.); BVerfG [K] NJW 2012, 2790 (2792); 2014, 3506; 2015, 1083; 2015, 1235 (1236); nach BVerfG [K] NJW 2016, 626 (627) und NJW 2016, 2018 (2019) soll zudem die Effektivität des Rechtsschutzes über Art. 2 I iVm Art. 20 III geschützt sein) und das Recht auf Vertrauensschutz hergeleitet (BVerfGE 128, 90 (105); BVerfG [K] NVwZ-RR 2011, 378; 2016, 898 f.; s. zum Vertrauensschutz durch Art. 14 I 1 Art. 14 Rn. 36 ff. sowie zum Rückwirkungsverbot näher Art. 20 Rn. 59 ff.). Die Unschuldsvermutung im Strafverfahren hat als besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips nach Art. 2 I iVm Art. 20 III Verfassungsrang und ist gem. Art. 6 II EMRK Bestandteil des positiven Rechts im Rang eines Bundesgesetzes (BVerfG [K] NJW 2017, 1539 f.). Umstr. ist in Rspr. und Literatur, ob öffentlich-rechtliche Geldleistungspflichten in die durch Art. 2 I geschützte allgemeine Handlungsfreiheit als Auffanggrundrecht eingreifen oder deren Auferlegung an dem spezielleren Grundrecht der Eigentumsfreiheit zu messen ist (dazu Art. 14 Rn. 11). Geschützt wird auch die Freiheit, mit anderen Personen zusammenzutreffen, welche im Rahmen von Maßnahmen zur Bekämpfung der SARS-CoV-2-Pandemie mehrfach eingeschränkt wurde (Stern/Sodan/Möstl/G. Kirchhof § 109 Rn. 49).

Dagegen werden die Freiheit wirtschaftlicher Betätigung sowie die Wettbewerbsfreiheit regelmäßig durch die speziellere Grundrechtsnorm des Art. 12 I geschützt (Art. 12 Rn. 14). Insoweit kommt auch die Eigentumsgarantie des Art. 14 I als spezielleres Freiheitsrecht in Betracht (Art. 14 Rn. 12). Zum Schutz des Anspruchs auf Überschussbeteiligung aus einer kapitalbildenden Lebensversicherung hat das BVerfG allerdings neben Art. 14 I ergänzend Art. 2 I herangezogen (BVerfG [K] NJW 2017, 1593 (1594)).

Im Rahmen seiner Rspr. hat das Bundesverfassungsgericht mit der Entscheidung zum Klimaschutz die allgemeine abwehrrechtliche Dimension – insbes. der allgemeinen Handlungsfreiheit – um das neue Institut der intertemporalen Freiheitssicherung erweitert (hierzu ausführl. Stern/Sodan/Möstl/G. Kirchhof § 109 Rn. 63 ff.). Der Grundrechtschutz erstreckt sich dabei nun auch auf eine zum Teil ungewisse Zukunft (Stern/Sodan/Möstl/G. Kirchhof § 109 Rn. 63).

bb) Allgemeines Persönlichkeitsrecht

Aus Art. 2 I iVm Art. 1 I folgt das sog. allgemeine Persönlichkeitsrecht. Zweck dieses Rechts ist es, vor dem Hintergrund der Menschenwürde „die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen zu gewährleisten, die sich durch die traditionellen konkreten Freiheitsgarantien nicht abschließend erfassen lassen“ (BVerfGE 54, 148 (153); 72, 155 (170); vgl. etwa auch BVerfGE 101, 361 (380); 114, 339 (346)). Die tatbestandlichen Voraussetzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts werden also enger gezogen als diejenigen der allgemeinen Handlungsfreiheit; das Recht auf Respektierung des geschützten Freiheitsbereichs ergänzt das aktive Element der Persönlichkeitsentfaltung, dh die allgemeine Handlungsfreiheit (BVerfGE 54, 148 (153)). Das allgemeine Persönlichkeitsrecht wird durch Art. 2 I gewährleistet. Bei der Bestimmung seines Schutzumfangs ist jedoch Art. 1 I heranzuziehen, der insoweit als „Interpretationsdirektive und Schutzverstärkung für Art. 2 I“ wirkt (Sachs/Rixen Art. 2 Rn. 103). Im Privatrecht ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht als „sonstiges Recht“ iSd §§ 823 I und 1004 I BGB anerkannt (s. dazu näher BVerfG [K] NJW 2012, 1643 f.; Ehmann JuS 1997, 193 (195 f.); DHS/Di Fabio Art. 2 I Rn. 143 ff.). Die Rechtsfigur des allgemeinen Persönlichkeitsrechts „füllt Lücken im Persönlichkeitsschutz aus, die hier trotz Anerkennung einzelner Persönlichkeitsrechte verblieben und im Laufe der Zeit aus verschiedenen Gründen immer fühlbarer geworden waren“ (BVerfGE 34, 269 (281)). Das allgemeine Persönlichkeitsrecht tritt hinter die Spezialregelungen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Art. 10 I) sowie der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 I) zurück (vgl. BVerfGE 120, 274 (302 ff.)).

In der umfangreichen Judikatur des BVerfG (dazu Degenhart JuS 1992, 361 (363 ff.); Jarass NJW 1989, 857 (858 f.)) sind mehrere geschützte Komplexe erkennbar. So hat der Grundrechtsträger das Recht, das Ob und Wie der Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit zu bestimmen. Dazu zählen im Besonderen das Recht am eigenen Bild (BVerfGE 34, 238 (246); 35, 202 (220); 87, 334 (340); 97, 228 (268); 101, 361 (381 ff.); 120, 180 (198); BVerfG [K] NJW 2019, 1277 (1278 f.)) und am eigenen Wort (BVerfGE 34, 238 (246) – „heimliche Tonbandaufnahmen“), das Recht auf Gegendarstellung im angemessenen Umfang (BVerfGE 63, 131 (142 f.)), der Schutz vor einem Zwang zur Selbstbezichtigung (BVerfGE 95, 220 (241)) sowie der Schutz der persönlichen Ehre (BVerfGE 54, 148 (154); 114, 339 (346)). Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt den Grundrechtsträger auch dagegen, dass ihm „Äußerungen in den Mund gelegt werden, die er nicht getan hat und die seinen von ihm selbst definierten sozialen Geltungsanspruch beeinträchtigen“ (BVerfGE 54, 148 (155); 54, 208 (217); vgl. auch BVerfG [K] NJW 2011, 740 (742)). Das allgemeine Persönlichkeitsrecht verleiht dem Einzelnen jedoch keinen Anspruch darauf, „nur so in der Öffentlichkeit dargestellt zu werden, wie es ihm genehm ist“ (BVerfGE 97, 125 (149); vgl. auch BVerfGE 82, 236 (269); BVerfG [K] NJW 2010, 1587 (1589); 2011, 511). Die jüngere Rspr. des BVerwG leitet aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht die Entscheidungsbefugnis eines unheilbar kranken Menschen darüber her, wann und wie sein Leben enden soll, vorausgesetzt, er kann seinen Willen frei bilden und entsprechend handeln (BVerwG NJW 2017, 2215 (2217 f.); zur staatlichen Schutzpflicht s. Brade/Tänzer NVwZ 2017, 1435 (1437 f.)). Vor Anordnung einer Betreuung steht dem Betroffenen, gestützt auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht, eine vorherige Anhörung zu (BVerfG [K] NJW 2016, 2259 f.). Generell genießt die Privatsphäre besonderen Schutz (BVerfGE 47, 46 (73) – „Sexualität“; 80, 367 (373 ff.) – „Tagebuch“; 121, 69 (90) – zwangsweise Durchsetzung der Umgangspflicht). Der Einzelne soll das Recht haben, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen, und seine Persönlichkeit in einem abgeschirmten Bereich entfalten können (Sachs/Rixen Art. 2 Rn. 69). Der Schutz erstreckt sich zum einen auf „Angelegenheiten, die wegen ihres Informationsinhalts typischerweise als ‚privat‘ eingestuft werden, weil ihre öffentliche Erörterung oder Zurschaustellung als unschicklich gilt“, sowie auf „einen räumlichen Bereich, in dem der Einzelne zu sich kommen, sich entspannen oder auch gehen lassen kann“ (BVerfGE 101, 361 (382 f.); vgl. ferner BVerfGE 120, 180 (199); s. zur Unzulässigkeit der Dauerobservation eines entlassenen Sicherungsverwahrten BVerfG [K] DVBl 2013, 169 f. mit Anm. Söllner). Überdies stehen als zentrale Elemente der Individualität das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung (BVerfGE 79, 256 (268 ff.); 90, 263 (270 ff.); BGHZ 204, 54 (56); s. auch Fink/Grün NJW 2013, 1913 f.), das jedoch keinen isolierten, rechtsfolgenlosen Abstammungsklärungsanspruch gegenüber dem mutmaßlich leiblichen, aber nicht rechtlichen Vater beinhaltet (BVerfGE 141, 186 (200 f.)), und das Recht eines Mannes auf Kenntnis der Abstammung des ihm rechtlich zugeordneten Kindes (BVerfGE 117, 202 (225 ff.)), das Recht am eigenen Namen (BVerfGE 78, 38 (49); 109, 256 (266); 123, 90 (102); BVerfG [K] NJW 2007, 671; s. speziell zum Schutz des Vornamens eines Menschen BVerfGE 116, 243 (262 f.)), das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung (BVerfGE 47, 46 (73); 120, 224 (238 f.); 128, 109 (124)) und damit „das Finden und Erkennen der eigenen geschlechtlichen Identität sowie der eigenen sexuellen Orientierung“ (BVerfGE 121, 175 (190)), das Recht, geschlechtliche Beziehungen zu einem Partner nicht offenbaren zu müssen (BVerfGE 138, 377 (387)), und das Recht auf einen schuldenfreien Eintritt in die Volljährigkeit (BVerfGE 72, 155 (170)) als Konkretisierungen des persönlichen Selbstbestimmungsrechts unter dem Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Durch Art. 2 I iVm Art. 1 I ist ggf. ein finanzieller Ausgleich der Persönlichkeitsverletzung erforderlich: „Die staatliche Pflicht, den Einzelnen vor Gefährdungen seines Persönlichkeitsrechts durch Dritte zu schützen […], auf die der Anspruch auf Entschädigung bei Persönlichkeitsrechtsverletzung zurückgeht […], kann sich dann bis zur Gebotenheit einer Geldentschädigung verdichten“ (BVerfG [K] NJW-RR 2017, 879 (880)). Die Geldentschädigung setzt aber eine „hinreichende Schwere“ der Persönlichkeitsverletzung und das „Fehlen einer anderweitigen Genugtuungsmöglichkeit“ voraus (BVerfG [K] NVwZ 2017, 1198 (1199)).

Nach Auffassung des BVerfG schützt das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch die geschlechtliche Identität derjenigen Personen, die weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen sind (zB Intersexuelle ). Das Gericht führt aus, der Zuordnung zu einem Geschlecht komme „für die individuelle Identität unter den gegebenen Bedingungen herausragende Bedeutung zu; sie nimmt typischerweise eine Schlüsselposition sowohl im Selbstverständnis einer Person als auch dabei ein, wie die betroffene Person von anderen wahrgenommen wird“ (BVerfGE 147, 1 (19)). Dort, wo das Recht Ansprüche und Pflichten in Anknüpfung an das Geschlecht festlegt, wie etwa im Personenstandsrecht, verletze bereits das „Offenlassen“ der Geschlechtsangabe bei der Eintragung in das Geburtenregister das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Betroffenen (BVerfGE 147, 1 (21)).

Vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht umfasst ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Danach kann der Betroffene grds. selbst entscheiden, ob, wann und wie persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden (BVerfGE 65, 1 (41 f.) – „Volkszählung“; 113, 29 (46); 115, 320 (341); 117, 202 (228); 118, 168 (184); 120, 351 (359 ff.); 120, 378 (397 ff.); 128, 1 (42); vgl. auch BVerfGE 133, 277 (316 f. und 320) – Antiterrordatei; BVerwGE 141, 329 (332); zum Grundrechtsschutz gegen staatliche Überwachungsmaßnahmen s. Heidebach DÖV 2015, 593 (595 ff.)). „Zu diesen grundrechtlich geschützten Daten gehören auch solche, die Informationen über genetische Merkmale einer Person enthalten, aus denen sich im Abgleich mit den Daten einer anderen Person Rückschlüsse auf die Abstammung ziehen lassen“ (BVerfGE 117, 202 (228); vgl. auch BVerfGE 103, 21 (32)). Bezogen auf den Zugang zu Krankenunterlagen leitet das BVerfG aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung und aus der personalen Würde des Patienten einen Anspruch auf Einsicht in die ihn betreffenden Krankenunterlagen her (BVerfG [K] NJW 1999, 1777 f.; 2006, 1116 (1117)). Dies gilt auch für Patienten im Strafvollzug (BVerfG [K] NJW 2017, 1014 (1015)). Aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung folgt ferner eine staatliche Schutzpflicht (vgl. Vor Art. 1 Rn. 25 ff.). So muss der informationelle Selbstschutz tatsächlich möglich sein. Dies ist besonders relevant bei Vertragsverhältnissen, bei denen einer der Vertragspartner ein solches Gewicht hat, „dass er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann“ (BVerfG [K] NJW 2013, 3086 (3087) – betr. u. a. die versicherungsvertragliche Obliegenheit zur Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht im Rahmen eines Vertrags über eine Berufsunfähigkeitsversicherung).

Angesichts der durch die moderne Informationstechnik begründeten neuartigen Gefährdungen der Persönlichkeit kreierte das BVerfG auch ein „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ als spezifische Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (BVerfGE 120, 274 (302 f.); 141, 220 (303 f.) – jew. ohne die Hervorhebungen; s. auch Papier NJW 2017, 3025 (3028)). Diese trete zu den anderen Konkretisierungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, „wie dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung, sowie zu den Freiheitsgewährleistungen der Art. 10 und 13 GG hinzu, soweit diese keinen oder keinen hinreichenden Schutz gewähren“; die moderne Informationstechnik begründe „neuartige Gefährdungen der Persönlichkeit“ (BVerfGE 120, 274 (303)). Allerdings findet das aus Art. 2 I iVm Art. 1 I abgeleitete Grundrecht nur insoweit Anwendung, als andere Freiheitsgewährleistungen, etwa aus Art. 10 I, Art. 13 I, sowie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung keine oder keinen hinreichenden Schutz gewähren (BVerfGE 120, 274 (302 ff.); BVerfG [K] NJW 2016, 3508 (3510)). Diese besondere Persönlichkeitsgefährdung erblickt das BVerfG in der Angewiesenheit des Einzelnen auf die Nutzung informationstechnischer Systeme, denen er persönliche Daten „anvertraue“; Zugriffe Dritter auf ein solches System gingen in ihrem „Gewicht für die Persönlichkeit des Betroffenen über einzelne Datenerhebungen, vor denen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schützt, weit hinaus“ (BVerfGE 120, 274 (313)). Die damit vorgenommene Abgrenzung zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist jedoch problematisch: Dieses Recht „wird zur kleinen Münze, wenn sein Anwendungsbereich auf einzelne Datenerhebungen reduziert wird“ (Gurlit NJW 2010, 1035 (1037); krit. etwa auch Britz DÖV 2008, 411 (413 f.)). Im Anschluss an das sog. Google-Urteil des EuGH v. 13.5.2014 (NVwZ 2014, 857 (864 f.)), mit dem das Gericht „die Grundlagen für ein neues europäisches Grundrecht auf Vergessenwerden “ geschaffen hat (Boehme-Neßler NVwZ 2014, 825 (829) – ohne die Hervorhebungen; s. auch Buchholtz AöR 140 [2015], 121 (127 ff.)), dürften sich auch aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht Ansprüche gegenüber Internet-Suchmaschinenbetreibern auf Löschung bestimmter Daten herleiten lassen. Bedeutung für die Auslegung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung dürfte auch das Urt. des EuGH v. 8.4.2014 zur Vorratsdatenspeicherung erlangen. Nach Auffassung des Gerichts sind „Ausnahmen vom Schutz personenbezogener Daten und dessen Einschränkungen auf das absolut Notwendige“ zu beschränken; dem wurde die RL 2006/24/EG (ABl. 2006 L 105, 54) nicht gerecht (EuGH NJW 2014, 2169 (2172); s. zu den verfassungs- und unionsrechtlichen Anforderungen des Datenschutzes Kahl/Kühling AöR 141 [2016], 165 (173 ff.)). Zuvor hatte das BVerfG die zeitweise verdachtslose Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten nach § 113a TKG aF als verfassungskonform angesehen (BVerfGE 125, 260 (347 f.)). Bedeutsam im Hinblick auf Internetdienste ist ferner das Urt. des EuGH v. 6.10.2015, mit dem das Gericht die „Safe-Harbor“ -Entscheidung der Europäischen Kommission zur Übermittlung personenbezogener Daten aus einem Mitgliedstaat der EU in die USA beanstandet hat. Der EuGH führte hierzu wie folgt aus: „Insbesondere verletzt eine Regelung, die es Behörden generell gestattet, generell auf den Inhalt elektronischer Kommunikation zuzugreifen, den Wesensgehalt des durch Art. 7 der Charta garantierten Grundrechts auf Achtung des Privatlebens“ (EuGH NJW 2015, 3151 (3157)).

Ferner entfaltet das allgemeine Persönlichkeitsrecht über die autonome Lebensgestaltung hinaus auch Schutzwirkungen für die Beendigung des Lebens und über das Lebensende hinaus. In der Literatur wird für ein postmortales Persönlichkeitsrecht plädiert (s. Hufen NVwZ 2019, 1325 (1326 f.); vgl. auch Höfling ZRP 2019, 2 (3 f.)). Mit Urt. v. 26.2.2020 stellte das BVerfG fest, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch „ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben “ umfasst (BVerfGE 153, 182 (261)).

Für die ganz oder teilw. automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten bzw. die nichtautomatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten, die in einem Dateisystem gespeichert sind oder gespeichert werden sollen, findet die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO; VO [EU] 2016/679 v. 27.4.2016, ABl. 2016 L 119, 1) Anwendung (vgl. Art. 2 I DSGVO). Ausweislich des Art. 1 II DSGVO hat die Verordnung das Ziel, Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen und insbes. deren Recht auf Schutz personenbezogener Daten zu schützen. Seit dem 25.5.2018 entfaltet die DSGVO verbindliche Wirkung in den Mitgliedstaaten (Art. 99 DSGVO) und genießt gegenüber dem einfachen Recht Anwendungsvorrang. Für einige grundrechtssensible Bereiche statuiert die DSGVO ausdrückliche Regelungen. So besteht für das „Recht auf Vergessenwerden“ eine Bestimmung in Art. 17 DSGVO. Die Wertungen des Urt. des EuGH v. 6.10.2015 (NJW 2015, 3151 – „Safe-Harbour“; →  Rn. 6b) haben Eingang in Art. 45 DSGVO gefunden (vgl. Sydow/Sydow, Europäische Datenschutzgrundverordnung, 2017, Einl. Rn. 97 ff.). Gleichwohl wird das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bei der Verarbeitung personenbezogener Daten hierdurch nicht obsolet (vgl. Paal/Pauly/Paal/Pauly, DS-GVO, 2017, Einl. Rn. 15; vgl. auch Papier NJW 2017, 3025 (3031)).

b) Personeller Schutzbereich

aa) Allgemeine Handlungsfreiheit

Auf die allgemeine Handlungsfreiheit können sich alle natürlichen Personen berufen (BVerfGE 53, 185 (203)). Art. 2 I setzt allerdings „die Existenz einer wenigstens potentiell oder zukünftig handlungsfähigen Person als unabdingbar voraus“; Träger des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ist daher nur die lebende Person, sodass der Schutz aus diesem Grundrecht mit dem Tod erlischt (BVerfGE 30, 173 (194); BVerfG [K] NJW 2006, 3409; vgl. Vor Art. 1 Rn. 40). Zugunsten von Ausländern wirkt Art. 2 I im Bereich derjenigen Freiheitsrechte, die lediglich Deutschen gewährt werden (näher Vor Art. 1 Rn. 36 ff.). Das Grundgesetz trifft im Bereich der „Deutschen-Grundrechte“ keine Entscheidung zum Ausschluss des Schutzes dieser Freiheitsrechte für Nicht-Deutsche durch das Auffanggrundrecht. Daher kann sich ein Ausländer bei der Ausübung eines Berufs zwar nicht auf Art. 12 I, aber auf seine allgemeine Handlungsfreiheit berufen (BVerfGE 78, 179 (196 f.); 104, 337 (346); 128, 1 (68); BVerfG [K] NVwZ 2017, 229 f.; Degenhart JuS 1990, 161 (167 f.) mwN). Auch inländische juristische Personen des Privatrechts werden aufgrund von Art. 19 III durch die allgemeine Handlungsfreiheit geschützt (vgl. BVerfGE 44, 353 (372); ferner Art. 19 Rn. 14 ff.), nach der Rspr. des BVerfG als Folge einer „Anwendungserweiterung“ des Art. 19 III ferner juristische Personen des Privatrechts mit einem Sitz im EU-Ausland (näher Art. 19 Rn. 18).

bb) Allgemeines Persönlichkeitsrecht

Unter dem Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts stehen alle natürlichen Personen. Ob es nach Art. 19 III auch für juristische Personen gilt (vgl. allg. Art. 19 Rn. 14 ff.), ist in Rspr. und Literatur wegen seiner dogmatischen Nähe zur Menschenwürdegarantie umstr. (s. zur Diskussion etwa BGHZ 81, 75 (78); 98, 94 (97 f.); BVerwGE 82, 76 (78); Jarass NJW 1989, 857 (860); v. Münch/Kunig/Kunig/Kämmerer Art. 2 Rn. 15; Sachs/Rixen Art. 2 Rn. 77). „Für das allgemeine Persönlichkeitsrecht lässt sich nicht allgemein angeben, ob es seinem Wesen nach auf juristische Personen anwendbar ist. Dies ist vielmehr für die verschiedenen Ausprägungen dieses Grundrechts differenziert zu beurteilen. So dient der Schutz vor einem Zwang zur Selbstbezichtigung vor allem der Menschenwürde des Betroffenen, so dass diese Gewährleistung auf juristische Personen nicht erstreckt werden kann […]. Andererseits genießen juristische Personen beispielsweise den Schutz des Rechts am gesprochenen Wort, soweit es hierfür auf einen besonderen personalen Kommunikationsinhalt nicht ankommt“ (BVerfGE 118, 168 (203) – ohne die Hervorhebungen; vgl. ferner BVerfGE 95, 220 (242)). Dazu führte das BVerfG aus: „Der Anwendung des Rechts am gesprochenen Wort auf juristische Personen steht nicht entgegen, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht seinem Ursprung nach ein die freie Entfaltung der Persönlichkeit gewährleistendes Individualrecht ist, das seine Grundlage insoweit auch in dem Schutz der Menschenwürde findet. Denn es geht […] nur um das Recht am gesprochenen Wort als einer Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Der Schutz dieses Rechts hängt nicht von einem besonderen personalen Kommunikationsinhalt ab. Es soll gesichert sein, dass sich die Beteiligten in der Kommunikation eigenbestimmt und situationsangemessen verhalten können. Insofern ist auch eine juristische Person, die durch natürliche Personen kommuniziert, einer grundrechtstypischen Gefährdungslage ausgesetzt“ (BVerfGE 106, 28 (43)). Zurückhaltender sind dagegen Hinweise des BVerfG zum Recht am eigenen Bild. In einem Beschluss heißt es, dass der Schutz „auf keinen Fall weiter reichen [kann] als das entsprechende Recht einer natürlichen Person. Eher dürfte der Schutz schwächer sein, da die juristische Person sich anders als die natürliche nicht auch auf den im allgemeinen Persönlichkeitsrecht mitumfassten Schutz der Menschenwürde i. S. des Art. 1 I GG berufen kann“ (BVerfG [K] NJW 2005, 883).

Unzweifelhaft ist mittlerweile, dass eine juristische Person Grundrechtsträgerin des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung zu sein vermag. Dieses gewährt einer juristischen Person „einen Grundrechtsschutz vor Gefährdungen, die von staatlichen informationellen Maßnahmen ausgehen können“ (BVerfGE 118, 168 (204)). Für die Eröffnung des Grundrechtsschutzes kommt es allerdings maßgeblich auf die Bedeutung der betroffenen Informationen für den grundrechtlich geschützten Tätigkeitskreis der juristischen Person an.

3. Eingriffe

Eine Beeinträchtigung der allgemeinen Handlungsfreiheit liegt unzweifelhaft vor, wenn es sich um einen „klassischen Grundrechtseingriff“ (Vor Art. 1 Rn. 47) handelt. Umstr. ist, ob auch mittelbare, faktische Beeinträchtigungen Eingriffe in die allgemeine Handlungsfreiheit darstellen. Dies wird im Schrifttum gelegentlich mit dem Hinweis auf eine vermeintliche Ausuferung des Grundrechtsschutzes verneint (s. Kingreen/Poscher Rn. 544 ff.; Pietzcker FS Bachof, 1984, 131 (146)). Es ist jedoch kein überzeugender Grund dafür ersichtlich, Art. 2 I von den allgemeinen Anforderungen an Grundrechtseingriffe (Vor Art. 1 Rn. 48 f.) auszunehmen, mit deren Hilfe sich der befürchteten Ausuferung des Grundrechtsschutzes durchaus begegnen lässt. Bzgl. des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gilt, dass sich alle beeinträchtigenden staatlichen Maßnahmen als Eingriffe qualifizieren lassen, wie zB die Erhebung, Speicherung, Verwendung oder Weitergabe personenbezogener Daten (vgl. BVerfGE 65, 1 (43); 84, 239 (279); BVerfG [K] NJW 2008, 3489). Auch die mit Entkleidungen verbundenen Durchsuchungen von Strafgefangenen stellen Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar (BVerfG [K] NJW 2013, 3291; 2015, 3158 (3159); s. zur Unzulässigkeit pauschaler Durchsuchung von Strafgefangenen vor Besuchen BVerfG [K] NJW 2017, 725 (726)).

4. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

a) Grundrechtsschranken

Art. 2 I Hs. 2 enthält eine sog. Schrankentrias: Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit steht jedem nur zu, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

aa) Verfassungsmäßige Ordnung

Die verfassungsmäßige Ordnung steht in der Verfassungspraxis im Vergleich zu den beiden übrigen Schrankenvorbehalten eindeutig im Vordergrund. Seit dem „Elfes-Urteil“ interpretiert das BVerfG die verfassungsmäßige Ordnung iSd Art. 2 I Hs. 2 – anders als etwa in Art. 9 II (Art. 9 Rn. 15) – als „ allgemeine Rechtsordnung […], die die materiellen und formellen Normen der Verfassung zu beachten hat, also eine verfassungsmäßige Rechtsordnung sein muß“ (BVerfGE 6, 32 (38) – ohne die Hervorhebungen; vgl. etwa auch BVerfGE 80, 137 (153); 90, 145 (172); 96, 10 (21); 111, 54 (81 f.); 113, 88 (103)). Zur Begründung dienen der systematische Schluss vom weiten Schutzbereich auf einen weiten Schrankenvorbehalt und ein Hinweis auf die Entstehungsgeschichte des Art. 2 I (s. näher BVerfGE 6, 32 (37 ff.)). Das systematische Argument erweist sich allerdings als klassischer Zirkelschluss: Denn das BVerfG hatte den Schutzumfang von Art. 2 I zuvor gerade aus der weiten Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung gefolgert (vgl. Rn. 2). Allgemeine Handlungsfreiheit und allgemeines Persönlichkeitsrecht stehen letztlich unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt (s. BVerfGE 6, 32 (38); teilweise wird von einem Rechtsvorbehalt gesprochen, um insbes. auch Richterrecht und Gewohnheitsrecht mit zu erfassen, s. hierzu näher v. Münch/Kunig/Kunig/Kämmerer Art. 2 Rn. 39).

bb) Rechte anderer

In Art. 2 I kann ferner zugunsten der Rechte Dritter eingegriffen werden. Bloße Drittinteressen genügen nicht (Sachs/Rixen Art. 2 Rn. 91; MKS/Starck Art. 2 Rn. 34). Es bedarf jedoch einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage zugunsten der Rechte Dritter. Solche Ermächtigungsgrundlagen sind prinzipiell bereits vom Begriff der „verfassungsmäßigen Ordnung“ gedeckt. Daher konnte die Schranke der Rechte anderer bisher keine eigenständige Bedeutung erlangen (Degenhart JuS 1990, 161 (164); v. Münch/Kunig/Kunig/Kämmerer Art. 2 Rn. 41; Stern/Sodan/Möstl/Kirchhof § 109 Rn. 90).

cc) Sittengesetz

Als dritte Schranke der allgemeinen Handlungsfreiheit und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nennt Art. 2 I Hs. 2 das Sittengesetz. Ob darunter überlieferte Moralvorstellungen, die Grundsätze von Treu und Glauben oder Verhaltensmaßstäbe der großen christlichen Konfessionen (so BVerfGE 6, 389 (435)) zu verstehen sind, ist umstr. (s. zum Diskussionsstand Höfling JuS 2017, 617 (620 f.); Sachs/Rixen Art. 2 Rn. 94 ff.; Stern/Sodan/Möstl/Kirchhof § 109 Rn. 92 ff.). Jedenfalls ist auch hier eine einfachgesetzliche Rechtsgrundlage erforderlich, womit auch diese Schranke in der „verfassungsmäßigen Ordnung“ aufgeht und damit praktisch bedeutungslos bleibt (vgl. Degenhart JuS 1990, 161 (164); MKS/Starck Art. 2 Rn. 36; krit. Höfling JuS 2017, 617 (620 ff.)).

b) Grenzen der Einschränkbarkeit

Eine wirksame Begrenzung des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit durch die verfassungsmäßige Ordnung erfordert nicht nur die Vereinbarkeit der beeinträchtigenden Rechtsnorm mit der außerhalb des Art. 2 I liegenden grundgesetzlichen Ordnung, insbes. der Kompetenzordnung. Die Norm muss vielmehr auch die grundrechtliche Substanz des Art. 2 I selbst wahren (Degenhart JuS 1990, 161 (169)). Einem „Leerlaufen“ als Folge des allgemeinen Gesetzesvorbehalts wird dadurch entgegengewirkt (BVerfGE 6, 32 (40 f.)). Insbes. darf die staatliche Maßnahme nicht unverhältnismäßig (vgl. Vor Art. 1 Rn. 60 ff.) in die allgemeine Handlungsfreiheit bzw. in das allgemeine Persönlichkeitsrecht eingreifen (BVerfGE 17, 306 (314); 44, 353 (373); 55, 159 (165); 75, 108 (154 f.); 80, 137 (153); BVerfG [K] NJW 2016, 2170 (2171)). So kann bspw. der mit einer Betreuung verbundene schwerwiegende Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit des Betroffenen nur unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zulässig sein; diesem Erfordernis trägt § 1896 I und II BGB Rechnung (BVerfG [K] NJW 2015, 1666).

Für öffentlich-rechtliche Zwangsvereinigungen, die nicht an Art. 9 I, sondern an Art. 2 I zu messen sind (vgl. Art. 9 Rn. 7), wurden in der Judikatur verschiedene Anforderungen aufgestellt. Nach stRspr des BVerfG gehören Vorschriften über die Gründung öffentlich-rechtlicher Verbände mit Pflichtmitgliedschaft nur dann zur „verfassungsmäßigen Ordnung“ iSv Art. 2 I Hs. 2, wenn diese Vereinigungen „legitime öffentliche Aufgaben“ wahrnehmen (s. etwa BVerfGE 10, 89 (102 f.); 10, 354 (363); 38, 281 (297 ff.); 78, 320 (329); 146, 164 (198); BVerfG [K] NVwZ 2007, 808 (811)). Damit seien solche „Aufgaben gemeint, an deren Erfüllung ein gesteigertes Interesse der Gemeinschaft“ bestehe, die aber so beschaffen seien, dass „sie weder im Wege privater Initiative wirksam wahrgenommen werden“ könnten „noch zu den im engeren Sinn staatlichen Aufgaben“ zählten, „die der Staat selbst durch seine Behörden wahrnehmen“ müsse (BVerfGE 38, 281 (299); vgl. ferner BVerfGE 146, 164 (198); BVerfG [K] NVwZ 2002, 335 (336); 2007, 808 (811)). In Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit wird in der Judikatur aus Art. 2 I das Recht abgeleitet, nicht durch Zwangsmitgliedschaft in „unnötigen“ Körperschaften in Anspruch genommen zu werden (s. BVerfGE 38, 281 (298); 146, 164 (196); BVerwGE 59, 231 (233); 64, 115 (117); 64, 298 (301); 80, 334 (336); 109, 97 (99); OVG NRW DVBl 2014, 1411). Tritt eine Industrie- und Handelskammer einem überregionalen, privatrechtlich organisierten Dachverband bei, spricht das BVerwG allen Kammermitgliedern gestützt auf Art. 2 I einen Anspruch auf Austritt der Kammer aus dem Dachverband zu, wenn sich dieser in einer Weise betätigt, „die faktisch seine Aufgaben und zugleich den Kompetenzrahmen seiner Mitgliedskammern überschreitet“ und „wenn die kompetenzwidrige Tätigkeit sich nicht als atypischer ‚Ausreißer‘ darstellt, sondern die konkrete Gefahr erneuten kompetenzüberschreitenden Handelns besteht“ (BVerwGE 154, 296 (301); vgl. auch BVerfGE 146, 164 (207)). Speziell zur gesetzlichen Krankenversicherung hat das BVerfG ausgeführt: „Der Schutz in Fällen von Krankheit ist in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine der Grundaufgaben des Staates. Ihr ist der Gesetzgeber nachgekommen, indem er durch Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung als öffentlich-rechtlicher Pflichtversicherung für den Krankenschutz eines Großteils der Bevölkerung Sorge getragen und die Art und Weise der Durchführung dieses Schutzes geregelt hat“ (BVerfGE 68, 193 (209); vgl. auch BVerfGE 123, 186 (242 f.); 124, 25 (37)). Mit der Feststellung der prinzipiellen Zulässigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung als sozialer Pflichtversicherung ist freilich noch nicht dargetan, dass die jew. konkrete Ausdehnung des Versichertenkreises den verfassungsrechtlichen Anforderungen entspricht (s. dazu näher Sodan/Sodan, Handbuch des Krankenversicherungsrechts, 3. Aufl. 2018, § 2 Rn. 104 ff.). Aus dem prinzipiellen Gestaltungsspielraum, den das BVerfG dem Gesetzgeber zur Regelung der Sozialversicherung zugesteht (vgl. etwa BVerfGE 10, 354 (371); 44, 70 (89); 48, 227 (234); 53, 313 (326)), darf keinesfalls ein „Belastungsblankett“ gefolgert werden (s. dazu W. Leisner, BB-Beilage 6 zu Heft 13/1996, 3). Das BVerfG hat im Rahmen der Anwendung des Art. 2 I aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zutr. das Gebot abgeleitet, dass „das Maß der den Einzelnen durch seine Pflichtzugehörigkeit treffenden Belastung noch in einem vernünftigen Verhältnis zu den ihm und der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen steht“ (BVerfGE 38, 281 (302)). Insoweit bestehen jedoch etwa gegen das Modell der sog. „Bürgerversicherung“, das unter Aufhebung der bisherigen Versicherungspflichtgrenze für Arbeiter und Angestellte (vgl. § 5 I Nr. 1, § 6 I Nr. 1 iVm VI SGB V) sowie unter Einbeziehung auch der Selbständigen und Beamten eine umfassende soziale „Einwohner-Krankenversicherung“ vorsieht, erhebliche Bedenken (s. dazu im Einzelnen Sodan ZRP 2004, 217 (218 ff.); Sodan VVDStRL 64 [2005], 144 (149 ff.); vgl. auch Depenheuer NZS 2014, 201 ff.).

Für das allgemeine Persönlichkeitsrecht hat das BVerfG als besonderen Verhältnismäßigkeitsmaßstab die sog. Sphärentheorie entwickelt. Danach ist die Intimsphäre „als letzter unantastbarer Bereich menschlicher Freiheit“ (BVerfGE 6, 32 (41); vgl. auch BVerfGE 130, 1 (22)) dem Zugriff staatlicher Gewalt völlig entzogen; eine Abwägung nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip findet hier nicht statt (vgl. BVerfGE 27, 1 (6); 32, 373 (378 f.); 34, 238 (245); 80, 367 (373); BVerfG [K] NJW 2009, 3357 (3359); VerfGH Bln NJW 2004, 593). Zur Intimsphäre gehören etwa „Äußerungen innerster Gefühle oder […] Ausdrucksformen der Sexualität“ (BVerfGE 109, 279 (315) – „Lauschangriff“; s. ferner BVerfGE 119, 1 (29 f.); 130, 1 (22)). In die Privatsphäre, dh in den Bereich privater, der Öffentlichkeit entzogener Lebensgestaltung, darf nur unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zugunsten überwiegender Allgemeininteressen oder im Hinblick auf grundrechtlich geschützte Interessen Dritter eingegriffen werden (vgl. BVerfGE 27, 344 (351); 34, 238 (246); 96, 56 (61); 115, 320 (345 f.); 120, 224 (239)). Die „verstärkten Rechtfertigungsanforderungen“ tragen der Schutzverstärkung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch Art. 1 I Rechnung (Sachs/Rixen Art. 2 Rn. 103). Eingriffe in die Sozialsphäre, in der sich das Individuum bewusst in der Öffentlichkeit bewegt, können aber nach den allgemeinen Kriterien wie Eingriffe in die allgemeine Handlungsfreiheit gerechtfertigt sein (vgl. BVerfGE 35, 202 (220); 80, 367 (373)).

Für Eingriffe in die informationelle Selbstbestimmung (Rn. 6) verlangt das BVerfG eine bereichsspezifische Rechtsgrundlage, „aus der sich die Voraussetzungen und der Umfang der Beschränkungen klar und für den Bürger erkennbar ergeben und die damit dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entspricht“ (BVerfGE 65, 1 (44); 115, 166 (190); vgl. auch BVerfG [K] NJW 2009, 3293 (3294); 2010, 2717). „Bestimmtheitsmängel können die Beachtung des verfassungsrechtlichen Übermaßverbots beeinträchtigen, da sie die Beurteilung der Geeignetheit und Erforderlichkeit einer Maßnahme erschweren und das Risiko einer Unangemessenheit des Eingriffs erhöhen“ (BVerfGE 120, 378 (427); vgl. auch BVerfGE 110, 33 (55)). „Ist die Ermächtigung unklar, weil sie eine Auslegung, nach welcher auch eingriffsintensive Zwecksetzungen zugelassen sind, nicht hinreichend deutlich ausschließt, ist auch für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit das dadurch ermöglichte weite Verständnis ihrer Zwecksetzung und Reichweite zu Grunde zu legen“ (BVerfGE 120, 378 (427)). „Eine informationsbezogene Maßnahme kann sich bereits deshalb als schwerwiegend darstellen, weil die erhobenen Informationen für die Persönlichkeit des Betroffenen hohe Relevanz haben oder weil sie auf eine Weise erlangt werden sollen, die die Persönlichkeit erheblich berührt […] oder weil Möglichkeiten für eine weitergehende Verarbeitung und Verknüpfung dieser Informationen und zur Nutzung zu einer Vielzahl von Zwecken bestehen […]. Demgegenüber wiegt der Eingriff geringer, wenn eine gesetzliche Ermächtigung lediglich die Nutzung bestimmter, im Gesetz ausdrücklich aufgezählter Informationen, die für sich genommen keine gesteigerte Persönlichkeitsrelevanz aufweisen, zu einem näher bestimmten Zweck zulässt“ (BVerfGE 118, 168 (197)). Ein weniger schwerer Eingriff liegt auch dann vor, wenn unerlaubt publizierte Informationen in der Öffentlichkeit bereits weit verbreitet waren (BVerfG [K] NJW 2017, 466 (467)).

II. Rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit

1. Bedeutung der Grundrechte

„Das menschliche Leben stellt innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar“ (BVerfGE 49, 24 (53); vgl. ferner BVerfGE 115, 118 (139) – „Luftsicherheitsgesetz“). Art. 2 II 1 enthält „ein Bekenntnis zum grundsätzlichen Wert des Menschenlebens“ (BVerfGE 18, 112 (117); 39, 1 (36)). Aus seinem objektiv-rechtlichen Gehalt (vgl. allg. Vor Art. 1 Rn. 20 ff.) folgt eine Pflicht der staatlichen Organe zum Schutz der darin gewährleisteten Rechtsgüter (Rn. 23 ff.).

2. Schutzbereiche

a) Sachliche Schutzbereiche

aa) Recht auf Leben

Das Recht auf Leben schützt „ die biologisch-physische Existenz jedes Menschen vom Zeitpunkt ihres Entstehens an bis zum Eintritt des Todes unabhängig von den Lebensumständen des Einzelnen, seiner körperlichen und seelischen Befindlichkeit, gegen staatliche Eingriffe“ (BVerfGE 115, 118 (139) – ohne die Hervorhebungen). Das grundrechtlich geschützte Leben beginnt nach Ansicht des BVerfG „jedenfalls vom 14. Tage nach der Empfängnis (Nidation, Individuation) an“ (BVerfGE 39, 1 (37); offenlassend BVerfGE 88, 203 (251); weitergehend v. Münch/Kunig/Kunig Art. 2 Rn. 49, demzufolge Leben bereits mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle beginnt; vgl. im Übrigen Art. 1 Rn. 24 f.). Es endet mit dem Erlöschen der Hirnströme (s. zum Streitstand Heun JZ 1996, 213 ff.; Merkel Jura 1999, 113 (118 ff.)). Die Schutzwürdigkeit des menschlichen Lebens hängt nicht von seiner voraussichtlichen individuellen Dauer ab (s. etwa BVerfGE 115, 118 (152 und 158)).

Das Grundrecht hat keine negative Kehrseite. Es beinhaltet kein Recht auf den Freitod (s. zB Roellecke JZ 1991, 1045 (1046); v. Münch/Kunig/Kunig/Kämmerer Art. 2 Rn. 64; aA Kingreen/Poscher Rn. 567). Daher sind lebensrettende Maßnahmen gegen den Willen des Betroffenen nicht an Art. 2 II 1 Alt. 1, sondern an Art. 2 I zu messen (Dreier/Schulze-Fielitz Art. 2 II Rn. 32).

bb) Recht auf körperliche Unversehrtheit

Art. 2 II 1 gewährleistet zunächst die körperliche Integrität im biologisch-physiologischen Sinne (BVerfGE 56, 54 (73); Schütz JuS 1996, 498 (502)) und damit auch das diesbezügliche Selbstbestimmungsrecht (BVerfGE 128, 282 (300); 129, 269 (280); 133, 112 (131)). Vor psychischen Beeinträchtigungen schützt Art. 2 II 1 zumindest dann, wenn diese zu Wirkungen führen, die körperlichen Schmerzen vergleichbar sind; dies gilt etwa für „psychische Folterungen, seelische Quälereien und entsprechende Verhörmethoden“ (BVerfGE 56, 54 (75)).

cc) Grundrechtliche Schutzpflichten

Aus Art. 2 II 1 iVm Art. 1 I 2 folgt die Pflicht der staatlichen Organe, sich schützend und fördernd vor die Rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu stellen und sie insbes. vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren; der Staat ist insoweit also nicht zur Unterlassung verpflichtet, sondern zum Handeln aufgefordert (Vor Art. 1 Rn. 25). Das BVerfG hat in seiner Judikatur für eine Feststellung der Verletzung einer grundrechtlichen Schutzpflicht wiederholt zur Voraussetzung erhoben, dass die staatlichen Organe entweder „gänzlich untätig geblieben“ oder „die bisher getroffenen Maßnahmen evident unzureichend sind“ (BVerfG [K] NJW 1996, 651; 1998, 2961 (2962); vgl. ferner BVerfGE 85, 191 (212); 89, 276 (286); 92, 26 (46); BVerfG [K] NVwZ 2010, 702 (703); NJW 2010, 1943 (1944 f.)). Auf der Grundlage einer solchen Evidenzkontrolle verneinte das BVerfG jeweils Verletzungen der Schutzpflicht für Leben und körperliche Unversehrtheit durch das Unterlassen bestimmter Maßnahmen zur Fluglärmbekämpfung (BVerfGE 56, 54 (80 ff.); BVerfG [K] NVwZ 2008, 780 (784 f.); 2009, 1489 (1492 f.); 2009, 1494 ff.), durch gesetzliche Vorschriften im Bauleitplanungs- und Immissionsschutzrecht für die Straßenfestsetzung in Bezug auf den Lärmschutz (BVerfGE 79, 174 (202)), durch die fachgerichtliche Ablehnung eines immissionsschutzrechtlich begründeten nachbarlichen Abwehranspruchs gegen eine Mobilfunksendeanlage (BVerfG [K] NVwZ 2007, 805 f.), durch Regelungen von Verkehrsverboten zur kurzfristigen Bekämpfung erhöhter Ozonkonzentrationen (BVerfG [K] NJW 1996, 651), durch Unterlassen der Festsetzung von Geschwindigkeitsbeschränkungen im Straßenverkehr (BVerfG [K] NJW 1996, 651 (652)) und einer Verstärkung des Nichtraucherschutzes (BVerfG [K] NJW 1998, 2961 (2962); vgl. jedoch speziell zur Schutzpflicht betr. den Nichtraucherschutz in Gaststätten und Diskotheken BVerfGE 121, 266 (356 f.)) sowie durch Vorschriften des Waffengesetzes, welche den Umgang mit Waffen und Munition unter Berücksichtigung der Belange der öffentlichen Sicherheit und Ordnung regeln (BVerfG [K] NVwZ 2013, 502 f.). Bei „komplexen Sachverhalten, über die noch keine verlässlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen“, verlangt die staatliche Schutzpflicht „auch von den Gerichten nicht, ungesicherten wissenschaftlichen Theorien zur Durchsetzung zu verhelfen […]; im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten obliegt aber allen Stellen, die öffentliche Gewalt ausüben, eine gesteigerte Verantwortung, wenn sie Entscheidungen treffen, die auf ungewissen Folgenabschätzungen beruhen. Dies gilt gerade dann, wenn wissenschaftlich und praktisch noch unerschlossenes Neuland betreten wird“ (BVerfG [K] NVwZ 2010, 702 (703); vgl. ferner bereits BVerfG [K] NVwZ 2007, 805; s. etwa zur Idee einer Helmpflicht für Radfahrer Schaks/Szymanski NVwZ 2015, 1108 (1109 f.)). Ferner treffen den Staat Schutzpflichten zur Erhaltung des Kindeswohls aus Art. 2 I und II iVm Art. 6 II 2 (BVerfG [K] NJW 2017, 1295 (1296)). Das BVerfG nimmt eine Schutzpflicht zur Berücksichtigung der Wertentscheidungen des Rechts auf körperliche Unversehrtheit in der Zwangsvollstreckung an, insbes. im Hinblick auf psychische Erkrankungen des Betroffenen. „Eine […] vorgenommene Würdigung aller Umstände kann in besonders gelagerten Einzelfällen dazu führen, dass die Vollstreckung für einen längeren Zeitraum und – in absoluten Ausnahmefällen – auf unbestimmte Zeit einzustellen ist“ (BVerfG [K] NJW 2016, 3090 (3091)).

Das Grundgesetz vermittelt zwar grds. keinen Anspruch auf Strafverfolgung Dritter; nach der Rspr. des BVerfG konkretisiert jedoch die wirksame Verfolgung von Gewaltverbrechen und vergleichbaren Straftaten die staatliche Schutzpflicht aus Art. 2 II 1 iVm Art. 1 I 2, die Grundlage subjektiver öffentlicher Rechte sein kann: Insoweit ist ein Anspruch auf eine effektive Strafverfolgung gegeben, sofern der Einzelne nicht in der Lage ist, erhebliche Straftaten gegen Leben und körperliche Unversehrtheit abzuwehren und „ein Verzicht auf die effektive Verfolgung solcher Taten zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt führen kann. […] Bei Kapitaldelikten kann ein solcher Anspruch auf der Grundlage von Art. 6 I und II iVm Art. 2 II 1 und Art. 1 I […] auch nahen Angehörigen zustehen“ (BVerfG [K] NJW 2015, 3500 (3501); s. auch BVerfG [K] NJW 2015, 150; DVBl 2015, 700). Werden medizinische Zwangsbehandlungen bei im Maßregelvollzug Untergebrachten planmäßig durchgeführt, gebietet Art. 2 II 1 iVm Art. 19 IV eine vorherige Ankündigung, die es dem Betroffenen ermöglicht, rechtzeitig Rechtsschutz zu ersuchen (BVerfGE 146, 294 (312)).

Nach der Rspr. des BVerfG räumt Art. 2 II 1 iVm dem Sozialstaatsprinzip einem Versicherten „keinen subjektiven Anspruch auf die Gewährung konkreter Leistungen durch die gesetzliche Krankenversicherung ein“ (BVerfG [K] NJW 1998, 1775 (1776) – ohne die Hervorhebungen; vgl. aus dem Schrifttum etwa Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, 1994, 83, 239; Francke GesR 2003, 97 (99)). In einem Kammerbeschluss des BVerfG aus dem Jahre 1997 heißt es dazu näher: „Zwar trifft es zu, daß durch Art. 2 II 1 GG die freie Selbstbestimmung des Patienten über ärztliche Heileingriffe verbürgt ist mit der Folge, daß diesem allein auch die Letztentscheidung über die in seinem Fall anzuwendende Therapie belassen ist […]. Jedoch ergibt sich daraus kein verfassungsrechtlicher Anspruch gegen die Krankenkassen auf Bereitstellung entsprechender medizinischer Versorgung oder auf Gewährung finanzieller Leistungen hierfür. Ein mit der Verfassungsbeschwerde durchsetzbarer Anspruch auf Bereithaltung spezieller Gesundheitsleistungen, die der Heilung von Krankheiten dienen oder jedenfalls bezwecken, daß sich Krankheiten nicht weiter verschlimmern, kann aus Art. 2 II 1 GG nicht hergeleitet werden. Aus Art. 2 II 1 GG folgt zwar eine objektivrechtliche Pflicht des Staates, sich schützend und fördernd vor das Rechtsgut des Art. 2 II 1 GG zu stellen […]. Daran hat sich auch die Auslegung des geltenden Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung zu orientieren. Der mit einer solchen Schutzpflicht verbundene grundrechtliche Anspruch ist jedoch im Hinblick auf die den zuständigen staatlichen Stellen einzuräumende weite Gestaltungsfreiheit bei der Erfüllung der Schutzpflichten nur darauf gerichtet, dass die öffentliche Gewalt Vorkehrungen zum Schutz des Grundrechts trifft, die nicht völlig ungeeignet oder völlig unzulänglich sind“ (BVerfG [K] NJW 1997, 3085). Daran knüpfte das BVerfG in einem grdl. Beschl. v. 6.12.2005 mit dem Hinweis an, aus den Grundrechten auf Leben und körperliche Unversehrtheit folge „regelmäßig kein verfassungsrechtlicher Anspruch gegen die Krankenkassen auf Bereitstellung bestimmter und insbesondere spezieller Gesundheitsleistungen“ (BVerfGE 115, 25 (44)). Dem Gesetzgeber sei „es im Rahmen seines Gestaltungsspielraums grundsätzlich erlaubt, den Versicherten über den Beitrag hinaus zur Entlastung der Krankenkassen und zur Stärkung des Kostenbewusstseins in der Form von Zuzahlungen zu bestimmten Leistungen zu beteiligen, jedenfalls, soweit dies dem Einzelnen finanziell zugemutet werden“ könne; die gesetzlichen Krankenkassen seien „von Verfassungs wegen nicht gehalten, alles zu leisten, was an Mitteln zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit verfügbar ist“ (BVerfGE 115, 25 (46)). Das BVerfG stellte jedoch zugleich klar, dass es „mit den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar“ ist, „einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht“ (BVerfGE 115, 25, Ls. – „Nikolaus-Beschluss“; s. zu den Auswirkungen dieser Entscheidung Hauck NJW 2007, 1320 ff.). Insofern könnten diese Grundrechte „in besonders gelagerten Fällen die Gerichte zu einer grundrechtsorientierten Auslegung der maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechts verpflichten“ (BVerfGE 115, 25 (45) – ohne die Hervorhebungen; s. allg. zu weiteren sich aus Grundrechtsvorschriften ergebenden Konsequenzen für die Krankenversicherung Sodan/Sodan, Handbuch des Krankenversicherungsrechts, 3. Aufl. 2018, § 2 Rn. 52 ff.). Seit dem 1.1.2012 gilt mit § 2 Ia 1 SGB V (eingefügt durch Art. 1 Nr. 1 GKV-VStG v. 22.12.2011 [BGBl. I 2983] eine Regelung, welche die soeben genannte Judikatur des BVerfG einfachgesetzlich im Wesentlichen umsetzt: Danach können „Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht,“ auch eine von § 2 I 3 SGB V „abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht“. Im Hinblick die „zumindest wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung“ ist der Gesetzgeber einer entspr. Erweiterung durch das BSG (vgl. BSGE 96, 153 (160 f.); BSG SozR 4–2500 § 31 Nr. 8 Rn. 16 ff.) gefolgt. Das BVerfG stellte aber in einem Beschl. v. 10.11.2015 klar: „Es blieb dem Gesetzgeber zwar unbenommen, die vom Bundessozialgericht vorgenommene Anspruchserweiterung in § 2 Abs. 1a SGB V nachzuzeichnen. Diese Änderung des einfachen Gesetzesrechts vermag jedoch den hier im Verfahren der Verfassungsbeschwerde allein maßgeblichen verfassungsunmittelbaren Anspruch für sich genommen nicht zu erweitern“ (BVerfGE 140, 229 (235 f.); vgl. ferner BVerfG [K] NJW 2017, 2096 (2097)). Anknüpfungspunkt eines derartigen Anspruchs ist „das Vorliegen einer durch nahe Lebensgefahr gekennzeichneten individuellen Notlage“ (BVerfGE 140, 229 (236); BVerfG [K] NJW 2008, 3556 (3557); 2014, 2176 (2177); 2017, 2096 (2097); s. zur Entwicklung der Rspr. näher Bockholdt NZS 2017, 569 ff.).

Auch in anderen Entscheidungen erkannte das BVerfG, dass sich eine Evidenzkontrolle im Falle erheblicher Gefährdungen bedeutsamer Rechtsgüter dem Gesetzgeber gegenüber als zu großzügig erweisen kann. Einen strengeren Maßstab legte das Gericht nicht nur in seiner Judikatur zum Atomrecht (vgl. BVerfGE 49, 89 (142 f.); 53, 30 (57 ff.)), sondern vor allem auch in Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch an (vgl. BVerfGE 39, 1 (51 ff.); 88, 203 (251 ff.)). Im jüngeren „Nasciturus-Urteil“ von 1993 wich das BVerfG ausdrücklich vom Maßstab einer Evidenzkontrolle unter Hinweis auf den Schutz menschlichen Lebens ab (BVerfGE 88, 203 (262 f.)); es machte dem zur Neuregelung verpflichteten Gesetzgeber außerordentlich detaillierte Vorgaben (BVerfGE 88, 203 (insbes. 270 ff.); krit. dazu Dreier Jura 1994, 505 (513)). In dieser Entscheidung wurde dem Gesetzgeber die Beachtung des Untermaßverbotes auferlegt (Vor Art. 1 Rn. 28). In seinem Urt. v. 15.2.2006 zum Luftsicherheitsgesetz stellte das BVerfG klar: „Zwar kann sich […] in besonders gelagerten Fällen, wenn anders ein effektiver Lebensschutz nicht zu erreichen ist, die Möglichkeit der Auswahl der Mittel zur Erfüllung der Schutzpflicht auf die Wahl eines bestimmten Mittels verengen […]. Die Wahl kann aber immer nur auf solche Mittel fallen, deren Einsatz mit der Verfassung in Einklang steht“ (BVerfGE 115, 118 (160); vgl. bereits BVerfGE 46, 160 (164 f.)).

Verletzt der Staat seine objektive Schutzpflicht, „so liegt darin zugleich eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, gegen die sich der Betroffene mit Hilfe der Verfassungsbeschwerde zur Wehr setzen kann“ (BVerfGE 77, 170 (214); vgl. ferner BVerfGE 77, 381 (402 f.); 79, 174 (201 f.)). Aus der staatlichen Schutzpflicht erwächst also ein Schutzrecht des Betroffenen (Vor Art. 1 Rn. 26).

b) Personelle Schutzbereiche

Zu dem durch Art. 2 II 1 geschützten Personenkreis gehört jede natürliche Person. Für juristische Personen gilt dies nicht (BVerwGE 54, 211 (220); vgl. Art. 19 Rn. 20). Umstr. ist, ob auch der Nasciturus Grundrechtsträger ist. Das BVerfG sprach vom „eigenen Lebensrecht des Ungeborenen“, das „nicht erst durch die Annahme seitens der Mutter begründet wird, sondern dem Ungeborenen schon aufgrund seiner Existenz zusteht“ (BVerfGE 88, 203 (252)). Zugunsten einer eigenen Grundrechtssubjektivität des Nasciturus lassen sich die Schutzwürdigkeit des ungeborenen Lebens, der Abwehrcharakter der Grundrechte sowie die Notwendigkeit der Effektivität des Grundrechtsschutzes anführen (Fink Jura 2000, 210 (213 f.); iE ebenso v. Münch/Kunig/Kunig/Kämmerer Art. 2 Rn. 92 ff.).

3. Eingriffe

Aufgrund seines Abwehrcharakters schützt Art. 2 II 1 Leben und körperliche Unversehrtheit zunächst gegen alle „klassischen Grundrechtseingriffe“ (vgl. Vor Art. 1 Rn. 47). Auch faktische oder nur mittelbare Beeinträchtigungen können in den Schutzbereich eingreifen (vgl. BVerfGE 66, 39 (60); ferner Vor Art. 1 Rn. 48 f.). Im Falle einer Abschiebung sind nach Art. 2 II 1 und 2 iVm Art. 19 IV die Aufnahmebedingungen im Abschiebungszielstaat zu berücksichtigen (BVerfG [K] NVwZ 2017, 1196 ff.; 2017, 1530 f.). Sofern eine völkerrechtlich verbindliche Zusicherung vorliegt, ist dennoch im Einzelfall zu prüfen, ob die Zusicherung die Gefahr einer gegen Art. 1 I und Art. 2 II 1 sowie Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung des Abgeschobenen im Zielstaat wirksam ausschließt (BVerfG [K] NVwZ 2017, 1526 (1529)). Zu Auslieferungen in einen Staat, in welchem dem Ausgelieferten die Todesstrafe droht, legte das BVerfG bereits in einem Beschl. aus dem Jahr 1982 dar, gegen eine bestimmte Auslieferung seien im Hinblick auf Art. 2 II 1 und Art. 102 „dann keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken zu erheben, wenn der Auszuliefernde in dem ersuchenden Staat hinreichend vor der Vollstreckung einer ihm drohenden Todesstrafe geschützt wird“ (BVerfGE 60, 348 (354)). Auch die Erweiterung der Personensorge der Eltern um das Recht zur – nicht notwendig religiös motivierten – Einwilligung in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des Knaben (§ 1631d BGB) ist ein Eingriff in das Grundrecht des Kindes aus Art. 2 II 1 (näher Art. 4 Rn. 17).

Die körperliche Unversehrtheit ist durch jede wesentliche Veränderung der Beschaffenheit der körperlichen Substanz betroffen, dh nicht nur durch Gesundheitsschädigungen, sondern auch durch Heileingriffe (HStR VII/Müller-Terpitz § 147 Rn. 42 – zB Zwangsernährung, Blutentnahme). Daher greift etwa die medizinische Behandlung eines Untergebrachten gegen seinen natürlichen Willen in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit ein (BVerfGE 128, 282 (300); 129, 269 (280)). Auch eine Einwilligung des Betreuers eines Untergebrachten lässt dann die Eingriffsqualität nicht entfallen (BVerfGE 133, 112 (131)). In das Recht auf körperliche Unversehrtheit greift ferner ein gesetzlicher Impfzwang ein (Trapp DVBl 2015, 11 (14)). Zum Erlass von Rechtsverordnungen, durch die bedrohte Teile der Bevölkerung zur Teilnahme an Schutzimpfungen (s. zur Legaldefinition dieses Begriffs § 2 Nr. 9 IfSG) verpflichtet werden können, ermächtigt § 20 VI und VII IfSG (s. speziell zu Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie Stern/Sodan/Möstl/Sodan § 87 Rn. 72 ff.). Wird vom Bundesminister der Verteidigung ein Befehl erlassen, der allen männlichen Soldaten der Bundeswehr Regeln zum Tragen des Haupthaars vorschreibt, so stellt das damit verbundene Abschneiden der Haartracht zwar eine physische Beeinträchtigung dar; jedoch ist diese unwesentlich, solange keine entstellende oder verunstaltende Frisur verlangt wird. Das Recht der körperlichen Unversehrtheit eröffnet nämlich keinen Schutz vor jeglicher als unangenehm empfundenen Einwirkung auf den Körper. Ein solcher Schutz wäre unerreichbar; denn das gesellschaftliche Zusammenleben führt generell zu vielfältigen Berührungen der körperlichen Sphäre. Daher liegt in diesem Falle kein Grundrechtseingriff vor (BVerwGE 46, 1 (7 f.); 103, 99 (101); 125, 85 (88); 149, 1 (5); aA HStR VII/Müller-Terpitz § 147 Rn. 43; Sachs/Rixen Art. 2 Rn. 154).

4. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

a) Grundrechtsschranken

Die Rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit dürfen gem. Art. 2 II 3 nur aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden. Wegen der besonderen Bedeutung dieser Grundrechte ist jeweils ein formelles Gesetz erforderlich (HStR VII/Müller-Terpitz § 147 Rn. 55), das die verfahrensrechtlichen und materiellen Voraussetzungen für die Zulässigkeit des Eingriffs hinreichend klar und bestimmt regelt (BVerfGE 133, 112 (132); vgl. ferner BVerfG [K] NJW 2013, 1941 (1942); 2013, 1943 (1945)).

b) Grenzen der Einschränkbarkeit

Eingriffe müssen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Vor Art. 1 Rn. 60 ff.) genügen. Dabei sind strenge Maßstäbe anzulegen. Ferner ist die mit dem Recht auf Leben eng verknüpfte Menschenwürdegarantie des Art. 1 I zu beachten (BVerfGE 115, 118 (152)). Ein Todesschuss zur Geiselbefreiung kann daher nur ultima ratio sein (Sachs/Rixen Art. 2 Rn. 182). Eine spezielle „Schranken-Schranke“ enthält Art. 104 I 2 (Art. 104 Rn. 6). Danach dürfen festgehaltene Personen, dh Personen im staatlichen Gewahrsam, weder seelisch noch körperlich misshandelt werden. Eine weitere Eingriffsbeschränkung liegt in dem Verbot der Todesstrafe (Art. 102). Diese Vorschrift enthält kein eigenständiges Grundrecht (Art. 102 Rn. 1). Todesstrafe ist die von Staats wegen angeordnete Tötung eines Menschen zur Ahndung einer Straftat; nicht erfasst sind daher präventive Maßnahmen wie etwa der polizeiliche Todesschuss („finaler Rettungsschuss“, Art. 102 Rn. 2).

III. Freiheit der Person

1. Bedeutung und Systematik des Grundrechts

Art. 2 II 2 schützt gemeinsam mit Art. 104 die Freiheit der Person. Diese „nimmt – als Grundlage und Voraussetzung der wesentlichen Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen – einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Das kommt darin zum Ausdruck, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG die Freiheit der Person als ‚unverletzlich‘ bezeichnet, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung ausdrücklich nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG besondere Verfahrensgarantien für ihre Beschränkung statuiert“ (BVerfGE 130, 372 (388); vgl. ferner BVerfGE 117, 71 (95); 128, 326 (372); BVerfG [K] NJW 2006, 668 (669)). Sie hat daher „unter den grundrechtlich verbürgten Rechten ein besonderes Gewicht“ (BVerfGE 65, 317 (322); vgl. ferner BVerfG [K] NVwZ 2011, 39). Das Grundrecht ist dem Rechtsinstitut des „Habeas Corpus“ (vgl. zur geschichtlichen Entwicklung Sodan/Ziekow § 20 Rn. 2 f.) entlehnt, welches das Festhalten von Personen durch die öffentliche Gewalt begrenzt und regelt (Hantel JuS 1990, 865). Art. 104 statuiert kein eigenständiges Grundrecht, sondern legt Verfahrensregeln bei Eingriffen fest; Art. 2 II 2 und Art. 104 wurden lediglich aus redaktionellen, nicht aus systematischen Gründen getrennt (Art. 104 Rn. 1). „Die formellen Gewährleistungen des Art. 104 GG stehen mit der materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 II 2 GG in unlösbarem Zusammenhang“ (BVerfG [K] NVwZ 2007, 1044 (1045); 2008, 304 (305); NJW 2009, 2659 (2661); NVwZ 2011, 38; fast wortgleich bereits BVerfGE 10, 302 (322); 58, 208 (220)). Zugleich fordert die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 II 2 ein Mindestmaß an zuverlässiger Wahrheitserforschung im Strafverfahren (BVerfG [K] NJW 2020, 1501 (1502)).

2. Schutzbereich

a) Sachlicher Schutzbereich

aa) Positive Bewegungsfreiheit

Aus dem systematischen Verhältnis zu Art. 2 I und zu Art. 104 ergibt sich, dass Art. 2 II 2 lediglich dem Schutz der körperlichen Bewegungsfreiheit dient, nicht etwa der Freiheit von jeglichem staatlichen Zwang (HStR VII/Wittreck § 151 Rn. 8 ff.; vgl. auch BVerfGE 130, 76 (110 f.); BVerfG [K] NVwZ 2007, 1044 (1045); 2008, 304 (305)). Gewährleistet ist die Freiheit, den gegenwärtigen Ort zu verlassen und einen anderen Ort aufzusuchen ( positive Bewegungsfreiheit; s. Sachs/Rixen Art. 2 Rn. 229 mwN). Art. 2 II 2 schützt also gegen Eingriffe wie Verhaftung, Festnahme und ähnliche Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs (BVerfGE 22, 21 (26); BVerfG [K] NVwZ 2011, 38). Die Freiheit zum Aufsuchen eines bestimmten Ortes wird dagegen nicht gewährt (BVerfGE 94, 166 (198); 96, 10 (21); HStR VII/Wittreck § 151 Rn. 8). Dafür sprechen sowohl die Entstehungsgeschichte des Art. 2 II 2 als auch dessen Parallelität zu Art. 104. Generell empfiehlt sich zur Bestimmung des Schutzbereichs der Freiheit der Person ein Blick auf Art. 104 I 2; so ist etwa ein Jugendlicher, dem verboten wird, ein bestimmtes Tanzlokal zu betreten, keine „festgehaltene Person“ iSd Art. 104 I 2. Die Freiheit der Person ist abzugrenzen von der durch Art. 2 I geschützten Fortbewegungsfreiheit (Rn. 3) und der in Art. 11 I gewährleisteten Freizügigkeit (zu dessen Schutzbereich Art. 11 Rn. 2 ff.).

bb) Negative Bewegungsfreiheit

Umstr. ist, ob auch die sog. negative Bewegungsfreiheit erfasst ist, dh die Freiheit, einen bestimmten Ort zu meiden bzw. nicht zu verlassen. Dies wird in der Literatur teilweise mit dem Argument bejaht, das Gebot, sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort aufzuhalten, enthalte ein Bündel von Verboten, andere Orte aufzusuchen (so AK/Correl Art. 2 II Rn. 158). Das Grundrecht droht jedoch auszuufern, wenn auch solche Verhaltensweisen geschützt werden, die keinen Bezug mehr zum „Habeas-Corpus-Recht“ aufweisen (Sachs/Rixen Art. 2 Rn. 232). Auch hier müssen die Entstehungsgeschichte des Grundrechts und die Parallelität von Art. 2 II 2 und Art. 104 Beachtung finden. Der Schutzbereich der negativen Bewegungsfreiheit ist daher auf die Freiheit von einer zwangsweise durchgesetzten Verpflichtung zum Erscheinen an einem bestimmten Ort zu beschränken (vgl. BVerfGE 22, 21 (26); Sachs/Degenhart Art. 104 Rn. 4).

cc) Grundrechtliche Schutzpflicht

Nach der Rspr. des BVerfG konkretisiert die wirksame Verfolgung von Gewaltverbrechen und vergleichbaren Straftaten die staatliche Schutzpflicht nicht nur aus Art. 2 II 1 iVm Art. 1 I 2 (Rn. 23a), sondern auch aus Art. 2 II 2 iVm Art. 1 I 2 mit der Folge, dass diese Schutzpflicht Grundlage subjektiver öffentlicher Rechte sein kann: Insoweit ist ein Anspruch auf eine effektive Strafverfolgung gegeben, sofern der Einzelne nicht in der Lage ist, erhebliche Straftaten gegen die Freiheit der Person abzuwehren und „ein Verzicht auf die effektive Verfolgung solcher Taten zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt führen kann“ (BVerfG [K] NJW 2015, 150; DVBl 2015, 700; NJW 2015, 3500 (3501)).

b) Personeller Schutzbereich

Grundrechtsberechtigt sind alle natürlichen Personen. Auf juristische Personen ist das Grundrecht der Freiheit der Person nicht anwendbar (Art. 19 Rn. 20).

3. Eingriffe

Art. 104 kennt zwei Arten von Eingriffen in die Freiheit der Person: Freiheitsbeschränkungen und Freiheitsentziehungen. Eine Freiheitsbeschränkung ist gegeben, „wenn jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinen Willen daran gehindert wird, einen Ort oder Raum aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich (tatsächlich und rechtlich) zugänglich ist“; eine Freiheitsentziehung als schwerste Form der Freiheitsbeschränkung liegt vor, „wenn die – tatsächlich und rechtlich an sich gegebene – körperliche Bewegungsfreiheit durch staatliche Maßnahmen nach jeder Richtung hin aufgehoben wird“ (BVerfGE 94, 166 (198); BVerfG [K] DVBl 2011, 623 (624); auch Art. 104 Rn. 3). Dazu gehören alle Formen der Haft, die Unterbringung in einer geschlossenen Anstalt (BVerfGE 134, 33 (60)) oder längerer Polizeigewahrsam (vgl. Sachs/Degenhart Art. 104 Rn. 6). Hier genügt wegen der höheren Eingriffsintensität bereits die Anordnung der Maßnahme, zB die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe (BVerfGE 14, 174 (186)).

4. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

a) Grundrechtsschranken

In die Freiheit der Person kann nur aufgrund eines formellen Gesetzes eingegriffen werden. Art. 104 I 1 überlagert insoweit Art. 2 II 3. Beschränkungen der Freiheit der Person folgen aus Art. 12 II und III (vgl. Art. 12 Rn. 36 ff.).

b) Grenzen der Einschränkbarkeit

aa) Anforderungen des Art. 104

Besondere Schranken für Eingriffe in die Freiheit der Person werden in Art. 104 aufgestellt (zu Einzelheiten Art. 104 Rn. 4 ff.). Art. 104 I gilt für alle Freiheitsbeschränkungen. Das Erfordernis eines formellen Gesetzes statuiert eine „Schranken-Schranke“. Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich misshandelt werden. Art. 104 II–IV betreffen nur Freiheitsentziehungen. Gem. Art. 104 II 1 bedarf die Freiheitsentziehung grds. einer vorherigen richterlichen Anordnung. Jedenfalls ist nach Art. 104 II 2 diese unverzüglich, dh allenfalls mit sachlich zu rechtfertigender Verzögerung (Art. 104 Rn. 8), spätestens aber bis zum Ende des nächsten Tages, nachzuholen (BVerfG [K] NVwZ 2017, 555 (556)). Für die Freiheitsentziehung zur Strafverfolgung muss der vorläufig Festgenommene spätestens am Tage nach der Festnahme dem Richter vorgeführt werden (Art. 104 III 1). Von jeder richterlichen Entscheidung zur Freiheitsentziehung ist unverzüglich ein Angehöriger des Festgehaltenen oder eine Person seines Vertrauens zu benachrichtigen (Art. 104 IV). Aus Art. 2 II 2 iVm Art. 104 ergeben sich Anforderungen an die Bestimmtheit, etwa bei der Festsetzung von Arbeitsauflagen (BVerfG [K] NJW 2016, 148 (150)).

bb) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

Die Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Vor Art. 1 Rn. 60 ff.) muss berücksichtigen: „Die Freiheit der Person ist ein so hohes Rechtsgut, daß sie nur aus besonders gewichtigen Gründen eingeschränkt werden darf“ (BVerfGE 22, 180 (219); 117, 71 (96); fast wortgleich BVerfGE 35, 185 (190); 45, 187 (223); 105, 239 (247); BVerfG [K] NJW 2007, 3560 (3561); 2009, 2659 (2661); NVwZ 2009, 1033). Der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beherrscht in besonderem Maße die Anordnung und den Vollzug freiheitsentziehender Maßnahmen. Daher darf eine Freiheitsentziehung nur aufgrund eines Gesetzes angeordnet und aufrechterhalten werden, wenn überwiegende Belange des Gemeinwohls dies zwingend gebieten. Zu solchen Belangen, gegenüber denen der Freiheitsanspruch eines Beschuldigten unter Umständen zurücktreten muss, gehören die unabweisbaren Erfordernisse einer wirksamen Strafrechtspflege. Art. 2 II 2 kommt insoweit auch verfahrensrechtliche Bedeutung zu. Freiheitsentziehende Maßnahmen bedürfen im Hinblick auf Art. 2 II 2 einer hinreichenden gerichtlichen Sachaufklärung (BVerfGE 58, 208 (222); s. zur einstweiligen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Erziehungsanstalt nach § 126a StPO BVerfG [K] BeckRS 2017, 123193 Rn. 41 f.). Bei der Untersuchungshaft setzt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Haftdauer auch unabhängig von der zu erwartenden Strafe Grenzen (BVerfGE 20, 45 (49 f.); 20, 144 (148)). Der Freiheitsanspruch des Beschuldigten gewinnt gegenüber dem Interesse der Allgemeinheit an einer wirksamen Strafverfolgung mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft regelmäßig an Bedeutung (BVerfGE 53, 152 (159); BVerfG [K] NJW 2006, 668 (669); 2006, 672 (673); 2006, 677 (680); vgl. bereits BVerfGE 36, 264 (270)). Gleiches gilt für die Abwägung zwischen dem Freiheitsrecht des Einzelnen und einem Interesse der Allgemeinheit an der Verhinderung etwaiger zukünftiger rechtswidriger Taten durch zwangsweise Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (BVerfG [K] NJW 2013, 3228 (3229)). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird nicht verletzt durch die Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe über den durch die besondere Schwere der Schuld bedingten Zeitpunkt hinaus aus Gründen der Gefährlichkeit des Straftäters (BVerfGE 117, 71 (95 f.); s. zur Aussetzung der Vollstreckung des Restes einer lebenslangen Freiheitsstrafe BVerfG [K] NJW 2009, 1941 f.). Art. 2 II 2 verbietet jedoch den ausnahmslosen Ausschluss der Anrechnung der Zeit einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung auf Freiheitsstrafen aus einem anderen Urteil als demjenigen, in welchem diese Maßregel angeordnet worden ist (BVerfG [K] NJW 2012, 516 (517)). Auch die Bestimmungen über die regelmäßige Überprüfung des weiteren Vollzugs der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§§ 67d II, VI, 67e StGB) dienen der Wahrung des Übermaßverbots (BVerfG [K] NStZ-RR 2005, 92 (94); 2005, 187 (188)). Eine nachträglich angeordnete oder verlängerte Freiheitsentziehung durch Sicherungsverwahrung ist wegen der hohen Intensität dieses Eingriffs nur „nach Maßgabe strikter Verhältnismäßigkeitsprüfung und zum Schutz höchster Verfassungsgüter zulässig“, dh wenn „der gebotene Abstand zur Strafe gewahrt wird, eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist“ und die Voraussetzungen des Art. 5 I 2 lit. e EMRK erfüllt sind (BVerfGE 128, 326 (388 f., 399); zur Bedeutung der EMRK für die Auslegung des Grundgesetzes auch Vor Art. 1 Rn. 2a, Art. 1 Rn. 31, Art. 103 Rn. 16). Die präventive Ingewahrsamnahme zur Verhinderung von Straftaten, die nicht dem Schuldausgleich dient, ist nur zulässig, wenn „der Schutz hochwertiger Rechtsgüter dies unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfordert“ (BVerfG [K] NVwZ 2016, 1079). Abschiebehaft darf nur angeordnet und aufrechterhalten werden, wenn keine Umstände vorliegen, welche die Durchführung der Abschiebung auf längere Zeit oder auf Dauer verhindern (BVerfG [K] NJW 2009, 2659).