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Artikel 68 [Auflösung des Bundestages]

(1) 1 Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen. 2 Das Recht zur Auflösung erlischt, sobald der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler wählt.

(2) Zwischen dem Antrage und der Abstimmung müssen achtundvierzig Stunden liegen.

I. Die Vertrauensfrage

Die „Vertrauensfrage“ ist ein Antrag, den nur der BKanzler – nicht die BReg – im BT, nicht frist- (AK/H.-P. Schneider GG Art. 68 (2002) Rn. 2), nicht wortlautgebunden („Antrag nach Art. 68 GG“), einbringt. Die Antragsbefugnis liegt alleine in seiner Hand, er hängt weder von vorherigen Konsultationen, Beschlüssen oder Ratschlägen der BReg oder des Parlaments ab. Ihre Beantwortung zeigt nur (unverbindlich), ob BKanzler und BReg in absehbarer Zeit mit einer Mehrheit für ihre Anträge im BT rechnen können („Handlungsfähigkeit“). Von jeher (vgl. Art. 24 RV 1871, Art. 54 WRV) wurden mit ihrer Stellung, zu der keine Verpflichtung besteht, zwei Ziele verfolgt, nach dem GG nun in freier Entscheidung des BKanzlers: Bewahrung/Stärkung der parlamentarischen Unterstützung des BKanzlers durch disziplinierenden Druck auf eine „Kanzlermehrheit“, und/oder Eröffnung des Weges zu Neuwahlen des BTags. Beides, durch „positive“ wie „negative“ Vertrauensfrage (vgl. II.), ist grds. zulässig (BVerfGE 62, 1 (38 ff.); 114, 121 (149 ff.)); eine „unechte Vertrauensfrage“ gibt es nicht. Auch im Verteidigungsfall kann die Vertrauensfrage gestellt werden, allerdings nicht mit dem Ziel der BTags-Auflösung (Art. 115h III).

Voraussetzung ist faktisch-politisch, dass die Handlungsfähigkeit von BKanzler, BReg und BMinistern unsicher ist (vgl. MKS/Epping Art. 68 Rn. 16 ff.), nach BVerfGE 62, 1 (42, 44) ist dies (auch) rechtlich eine ungeschriebene (Tatbestands-)Voraussetzung. Die Vertrauensfrage soll als „politische Leitentscheidung“ (BVerfGE 62, 1 (35)) zulässig sein aufgrund einer faktischen Prognosefeststellung des BKanzlers, welche nur nicht eindeutig unrichtig sein dürfe (BVerfGE 114, 121 (161), sog. Evidenzmaßstab); das BVerfG müsse sich im Übrigen seiner Einschätzung anschließen, nach politischen Wahrscheinlichkeiten dürfe es nicht forschen, öffentliche Stellungnahmen und Einschätzungen nicht aufdecken. Selbst ein möglicher „Missbrauch“ der Vertrauensfrage zu der vom GG eng begrenzten Parlamentsauflösung durch die Exekutive (BKanzler, BPräsident) erlaube nähere rechtliche Eingrenzung nicht. Diskutiert wird, ob dadurch nicht einer Parlamentsauflösung die Tore geöffnet werden (Rn. 7; vgl. MKS/Epping Art. 68 Rn. 12 ff.). Vor allem englische Erfahrungen zeigen, dass damit der Exekutive eine scharfe rechtliche Waffe zur Verfügung steht, was den Parlamentarismus zugunsten des „Kanzlerprinzips“ zurückdrängt, durch Zeitbestimmung der Wahlen und Druck auf die Abgeordneten (mit Mandatsverlust).

II. Positive und Negative Vertrauensfrage, Verbindung mit einem Sachantrag

Der BKanzler stellt die Frage, ihm das Vertrauen auszusprechen. Die Formulierung erweckt den Eindruck einer positiven Erwartungshaltung, das Vertrauen auch ausgedrückt zu bekommen. Damit würde Art. 68 missverstanden: Denn als Verteidigungsinstrument des Kanzlers soll ihm die Versagung des Vertrauens aufgrund verlorener Mehrheit in die Lage versetzen können, den BPräsidenten um Auflösung des BTags zu bitten. Diese negative, als auflösungsgerichtet bezeichnete (vgl. BVerfGE 114, 121) Vertrauensfrage bei tatsächlich verlorener Mehrheit (zum Streit, wenn dies auch bei bestehenden Mehrheitsverhältnissen durchgeführt wird, wonach nach vermittelnder Auffassung nur die Plausibilität der Entscheidung des BKanzlers überprüfbar ist, BVerfGE 62, 1 ff.; 114, 121 ff.; vgl. Sachs/Brinktrine Art. 68 Rn. 15) steht ihm von Verfassung wegen zu.

Die Objektivierung des Tatbestandes von Art. 68 – Vertrauensgewährung oder ‐verweigerung, ohne jegliche diesbezügliche Unterstellung von (persönlichen) Motiven oÄ – befreit zugleich von einer Untersuchung, das Vorgehen nach Art. 68 einem solchen zu unterziehen, beim BKanzler oder den Abgeordneten, etwa durch den BPräsidenten. Ebenso wenig hat dieser die zu Grunde liegende politische Krise zu beurteilen; die Entscheidung über den Weg gem. Art. 68 als solche trifft der BKanzler als rechtlich nicht überprüfbare politische Leitentscheidung [Rn. 2] (BVerfGE 62, 1 (35)) unter vollem Einschätzungsspielraum (BVerfGE 114, 121 (157)) desselben.

Trotz dieser weiten Auslegung und dem damit einhergehenden Missbrauchsgedanken verbietet es sich, als Folge dessen von einem faktischen Selbstauflösungsrecht des BTags auszugehen, was das GG jedenfalls nicht will (vgl. hierzu Hahn DVBl 2008, 151). Den selbstregulierenden Kräften gerade im politischen Raum ist vielmehr zu vertrauen, dass missbräuchliche, allzu konstruierte oder gar künstlich herbeigeführte Konstellationen ihr Ziel verfehlen und am Ende politisch entlarvt und demokratisch abgestraft werden oder an rechtlich überprüfbaren Evidenzkriterien für verfassungsrechtliche Unzulässigkeit scheitern (etwa für den Fall der Absicht vorgezogener BTags-Wahlen, vgl. DHS/Herzog Art. 68 Rn. 84).

Die Stellung der Vertrauensfrage kann zurückgenommen (AK/H.-P. Schneider GG Art. 68 (2002) Rn. 9) und wiederholt werden. Möglich ist sie, nach freier Entscheidung des BKanzlers, nur als solche (isoliert) oder verbunden mit einem Sachantrag, insbes. einer Gesetzesinitiative, auch für ein verfassungsänderndes Gesetz (das im Gesetzgebungsnotstand nach Art. 81 nicht beschlossen werden darf). Die Sachfrage muss von einigem politischen Gewicht sein (einschränkender MKS/Epping Art. 68 Rn. 11); das Zustimmungsquorum des Art. 68 I (Kanzlermehrheit) ist für den Sachantrag nicht erforderlich, sondern idR die einfache Mehrheit (Sachs/Brinktrine Art. 68 Rn. 29).

III. Der Beschluss des Bundestages

Über die Vertrauensfrage darf der BT mit seiner Mehrheit nach Art. 121 erst nach 48 Stunden abstimmen, Art. 68 II – Zeit für Überlegung und Rücknahme. Ein Endtermin ist nicht vorgesehen. Wird zwischenzeitlich ein Misstrauensantrag (Art. 67) gestellt, so ist zuerst über diesen abzustimmen. Kommt zum angesetzten Termin eine Abstimmung mangels Beschlussfähigkeit des BT nicht zustande, so bleibt das Verfahren in der Schwebe (hM; Sachs/ Brinktrine Art. 68 Rn. 31).

Bei Verweigerung des Vertrauens entscheidet der BKanzler frei, ob er als „Minderheitskanzler“, uU im „Gesetzgebungsnotstand“ (Art. 81), im Amt bleiben, seinen Rücktritt erklären und damit das Verfahren nach Art. 63 auslösen, oder dem BPräsidenten die Auflösung des BTags vorschlagen will.

IV. Die Auflösung des Bundestages

Der BPräsident ist frei (aA BVerfGE 62, 1 (63)), ob er dem Auflösungsvorschlag des BKanzlers folgen will; dessen Einschätzung (vgl. Rn. 2) bindet ihn nicht. Überlegungen, wann er (nicht) auflösen sollte, finden im GG keine Stütze. Die Auflösungsbefugnis wächst dem BPräsidenten umgekehrt überhaupt nur dann zu, wenn ihre formellen und materiellen Voraussetzungen vorliegen: Formell sind dies diejenigen des Art. 68. Materiell kommt noch das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der sog. „politischen Unstabilität“ hinzu, die ohne Auflösung des BTags nicht behoben werden kann (vgl. Sachs/Brinktrine Art. 68 Rn. 33), wobei dem BPräsidenten hier nur ein eingeschränktes Prüfungsrecht zukommt bei im Übrigen Einbeziehungspflicht v. BT und BKanzler (BVerfGE 62, 1 (50); str. für ein vollständiges Prüfungsrecht Rottmann Sondervotum BVerfGE 62, 108 (111)). Unabhängig von der Prüfung der Auflösungsvoraussetzungen bleibt der BPräsident im Übrigen frei bei seiner Entscheidung, ob er die Auflösung des BTags mit der damit verbundenen Verkürzung der Wahlperiode politisch für sinnvoll hält und ob sie von ihm politisch vertreten werden kann (BVerfGE 62, 1 (50 f.))

Die Auflösung des BTags ist ein staatsleitender Organisationsakt, sie bewirkt organisatorische Veränderungen im Gefüge der Verfassungsorgane. Eine Auflösung muss der BKanzler gegenzeichnen (Art. 58), sie ist form- und begründungsfrei, aber nur innerhalb von 21 Tagen nach Eingang des Vorschlags beim BPräsidenten zulässig; sie kann vom BPräsidenten rückgängig gemacht werden. Sie bewirkt nur, dass nach Art. 39 ein neuer BT gewählt werden muss. Bis zu dessen Zusammentritt (Art. 39 II) bleiben sämtliche Befugnisse des alten BTags unberührt, auch das Recht zur Wahl eines anderen BKanzlers (Art. 67 I 2). Macht der alte BT davon Gebrauch – in beliebig vielen Wahlgängen –, so „erlischt“ das Auflösungsrecht, dh es entfallen dessen Wirkungen (aA MKS/Epping Art. 68 Rn. 47 ff. (49): es dürfe keinen „Wettlauf „ zwischen BPräsident und BT geben,, also kein Auflösungsrecht durch den BPräsidenten, solange im BT „ernsthafte Bemühungen zur Krisenbewältigung“ stattfänden).

Das Auflösungsrecht des BPräsidenten ist auf 21 Tage ab Verkündung des Abstimmungsergebnisses im BT zeitlich befristet. Es erlischt, wenn in der Zwischenzeit der BT einen anderen Kanzler gewählt hat; der Versuch der Kanzlerwahl nach Art. 68 I 2 kann mehrmals unternommen werden, Art. 63 gilt nicht (vgl. Sachs/Brinktrine Art. 68 Rn. 36, Abwehr der Auflösung ).

Im Gegensatz zum konstruktiven Misstrauensvotum, das in der Hand des BTags liegt, und angesichts des Mehrheitsverlusts der bisherigen Regierung durch Neuwahl eines Kanzlers, welche das Vorhandensein einer neuen regierungsfähigen Mehrheit im Parlament zu demonstrieren vermag, ist die Vertrauensfrage ein Verteidigungsinstrument des BKanzlers, das bei unsicheren Mehrheitsverhältnissen präventiv eingesetzt werden kann: Bei einer drohenden Auflösung des BTags wirkt sie disziplinierend, bei bereits verlorener Mehrheit mündet sie in Neuwahlen. Mit der Vertrauensfrage kann der BKanzler einem konstruktiven Misstrauensvotum zuvorkommen.