Artikel 40 [Präsident; Geschäftsordnung]
(1) 1 Der Bundestag wählt seinen Präsidenten, dessen Stellvertreter und die Schriftführer. 2 Er gibt sich eine Geschäftsordnung.
(2) 1 Der Präsident übt das Hausrecht und die Polizeigewalt im Gebäude des Bundestages aus. 2 Ohne seine Genehmigung darf in den Räumen des Bundestages keine Durchsuchung oder Beschlagnahme stattfinden.
I. Parlamentsautonomie, Geschäftsordnung
Die sog. „Parlamentsautonomie“ (BVerfGE 44, 308 (314); 104, 310 (332); 108, 251 (274)) wird in Art. 40 rahmenmäßig, durch Hinweis auf die GeschO (Art. 40 I 2), und durch Einzelbestimmungen geregelt; sie betrifft Organisation, Rechte, und Verfahren des BTags als solchen, als Verfassungsorgan (BVerfGE 11, 115 (116); 80, 188 (222)), mit Rechtswirkungen nach außen (vgl. auch Art. 40 II, 41, 46–48) und, vor allem, im Innenbereich des BTags.
Der BT muss sich eine GeschO geben (Art. 40 I 2), sie wird wie andere Autonomieerlasse als „Satzung“ bezeichnet (BVerfGE 1, 144 (148); krit. MKS/Achterberg/Schulte Art. 40 Rn. 37 ff.), beinhaltet aber Rechtssätze eigener Art. Sie kann Außen- wie Innenwirkung entfalten. Im normativen Rang stehen ihre Bestimmungen unter der Verfassung, die zu ihrem Erlass ermächtigt, und, nach hL, unter den Gesetzen (str., krit. etwa MKS/Achterberg/Schulte Art. 40 Rn. 40 ff.). Dafür spricht, dass autonom gesetztes Recht grds. formellem und materiellem Gesetzesrecht nachgeordnet ist, für dessen Erlass nach der Verfassung besondere – strengere – Regelungen (Art. 76 ff., 80) gelten. Davon zu unterscheiden ist die (str.) Frage, ob/wieweit der BT frei ist, hier als Gesetz- oder GeschO-Geber tätig zu werden (vgl. MKS/Achterberg/Schulte Art. 40 Rn. 43 ff.). Soweit das GG nicht ausdrücklich GeschO-Recht vorsieht (Art. 10 II 2, 41 III, 45b S. 2, 45c II), soll der BT die Gesetzesform wählen dürfen, wenn der BR nicht an der Gesetzgebung beteiligt ist, gewichtige sachliche Gründe für Gesetzeserlass sprechen und der Kern der GeschO-Autonomie nicht berührt ist (BVerfGE 70, 324 (361)). Letztere beiden Voraussetzungen sind jedoch unklar und unpraktikabel. Die Regelung durch GeschO-Recht allein ist jedenfalls zulässig (vgl. Böckenförde/Mahrenholz, BVerfGE 70, 324 (376 ff.)). Für die Bereiche der Selbstorganisation des BTags (BVerfGE 80, 180 (219); 102, 224 (236)) und des parlamentarischen Geschäftsganges, der auch die Beschlussfähigkeit betrifft (BVerfGE 44, 308 (314 ff.)), sowie bei Strafverfahren gegen Abgeordnete (BVerfGE 104, 310 (332)) gilt: Der BT soll allein „Herr im eigenen Haus“ sein. Ihm steht hier – wie generell – ein weiter Gestaltungsspielraum für das GeschO-Recht zu (BVerfGE 80, 188 (220); 84, 304 (321)); im Einzelfall darf der BT mit 2/3 -Mehrheit von der GeschO abweichen (§ 127 GeschOBTag).
GeschO ist nur das Normenwerk, das sich der BT „gibt“, es ist nach § 127 GeschOBTag auszulegen; dazu gehören auch die Verhaltensregelungen für Abgeordnete (§ 44b AbgG; BVerfGE 118, 277 (359)). Nicht jede längere, ergänzende oder abweichende Praxis kann als Verfassungs- oder Parlamentsgewohnheitsrecht begriffen werden (vgl. zu diesem HStR II/Zeh § 43); die Bildung eines solchen lässt sich allerdings – hier wie allg. – normativ durch geschriebenes Recht nicht ausschließen. Tatsächliche Beachtung einer Regel (Observanz) allein schafft jedenfalls kein GeschO-Recht.
Für Rechtsfolgen von Verstößen gegen GeschO-Recht (vgl. BVerfGE 10, 4 (19)), Verfahren und Organisation betr. – soweit sie nicht durch das Abweichungsrecht (Rn. 3) oder die bindende Auslegung (§§ 126, 127 GeschOBTag) ausgeschlossen werden – gelten die allg. Grundsätze. Ihre Ergebnisse werden nur rechtsfehlerhaft, wenn sie sich eindeutig gerade auf die Verletzungen zurückführen lassen. Erlassene Gesetze werden nicht unwirksam (favor legis, BVerfGE 29, 221 (234)).
II. Präsident, Stellvertreter, Schriftführer
Laut Art. 40 I 1 werden der Präsident und seine Stellvertreter – einer für jede Fraktion (§ 2 II GeschOBTag – in besonderen Wahlhandlungen mit verdeckten Stimmzetteln gewählt (§§ 2, 49 GeschOBTag); sie sind Verfassungsorgane iSv Art. 93 I Nr. 1. Dass nur ein Vertreter der stärksten Fraktion zum Präsidenten gewählt wird, entspricht zwar ausnahmsloser Praxis, ergibt sich aber nicht aus der GeschO, auch nicht aus deren § 7 VI, ebenso wenig aus Gewohnheitsrecht; die Wahl eines anderen, etwa eines besonders bedeutenden Abgeordneten, muss möglich bleiben. Die Wahlentscheidungen gelten für die gesamte Wahlperiode (§ 2 I GeschOBTag), Abwahl ist allenfalls mit 2/3 -Mehrheit (§ 126 GeschOBTag) möglich. Durch Art. 40 I 1 ist das zwar nicht ausdrücklich gedeckt, es ist jedoch sachgerecht, um diese Ordnungsinstanzen nicht wechselndem Mehrheitswillen auszuliefern. Präsident und Stellvertreter bilden das Präsidium (§ 5 GeschOBTag); zulässige (Mit-)Entscheidungsbefugnis hat dieses nur in Personalfragen der Spitzenbeamten des BTags (§ 7 IV 4 GeschOBTag).
Die Aufgaben des Präsidenten und seiner Vertreter ergeben sich aus GG (Art. 40 II, 54 IV 2) und GeschO (§§ 7, 8 GeschOBTag); sie handeln nach außen wie nach innen für „den Bundestag“ (BVerfGE 1, 115 (116); 80, 188 (222); § 7 I 1 GeschOBTag). Ihre Befugnisse sind nach der GeschOBTag: Das Recht zur unparteiischen Leitung der Sitzungen (§§ 21–28, 46, 48 III, 51 II) GeschOBTag, zur Ausübung von Hausrecht und Polizeigewalt (Rn. 9) (§ 7 II GeschOBTag; vgl. hierzu Ramm NVwZ 2020, 1461), zum Vertragsschluss, und zu Ausgabenanweisungen für den BT (§ 7 III) sowie die Personalgewalt über die öffentlichen Bediensteten des BTags (§ 7 IV). – Die Schriftführer unterstützen den Präsidenten in den Sitzungen und außerhalb (§§ 8, 9 GeschOBTag) nach dessen Weisungen.
III. Ausschüsse, Ältestenrat
Soweit Ausschüsse nicht im GG geregelt sind (vgl. Art. 44–45c), ist der BT aufgrund der Parlamentsautonomie (Rn. 1) frei, wie viele Ausschüsse und mit welchen Aufgaben(gebieten) er solche einrichten will. Darf Näheres nicht durch Bundesgesetz geregelt werden (so aber Art. 41 III – WPG; Art. 94 II 1 – Ausschuss für die Wahl der Richter nach § 6 BVerfGG), so dürfen den nach der GeschOBTag gebildeten Ausschüssen keine beschließenden Rechte für den BT übertragen werden, weder durch GeschO noch durch BTags-Beschluss (BVerfGE 44, 308 (316 f.)). Die Vorbereitungstätigkeit der Ausschüsse für die Arbeit des Plenums (BVerfGE 1, 144 (152)) – näher §§ 62 ff. GeschOBTag –, welche dessen Entscheidungen meist weitestgehend vorprägt (BVerfGE 44, 368 (376 ff.); 70, 324 (363); 80, 188 (221)), ist jedoch von solchem Gewicht, dass ihre Zusammensetzung nach Stärke der Fraktionen (Art. 38 Rn. 11) der des Plenums entsprechen muss („Spiegelbild“ – BVerfGE 96, 264 (282); 112, 118 (133 ff.); Steinbach DÖV 2016, 286; § 12 GeschOBTag). Alle parlamentarischen Gruppierungen müssen aber nicht in jedem Ausschuss vertreten sein (BVerfGE 70, 324 (364)). Zu fraktionslosen Abgeordneten vgl. Art. 38 Rn. 12. Ausschussmitglieder und Stellvertreter dürfen durch die Fraktionen oder Gruppen bestimmt werden (BVerfGE 77, 1 (39 ff.)). Näheres zu Aufgaben, Organisation und Verfahren der Ausschüsse regeln die §§ 54 ff. GeschOBTag, insbes. auch die Öffentlichkeit der Beratungen (§§ 69 ff. GeschOBTag). Unterausschüsse sind zulässig (näher § 55 GeschOBTag); auch für sie gelten im Wesentlichen die Regelungen über Ausschüsse.
Der Ältestenrat ist ein ständiger notwendiger Ausschuss kraft GeschO (näher § 6 GeschOBTag) von großer praktischer Bedeutung. Da er nicht auf verfassungsrechtlicher Grundlage beruht, sind seine Beschlussrechte (§ 6 III 1, 2 GeschOBTag) insoweit problematisch.
IV. Hausrecht, Polizeigewalt, Durchsuchungen, Beschlagnahmen nach Abs. 2
Hausrecht umfasst alle privat- und öffentlich-rechtlichen Befugnisse, die sich aus dem Besitz-/Verwaltungsrecht sämtlicher dem BT dienenden Immobilien (vgl. VerfGH Bln LVerfGE 4, 12 (18)) ergeben. Die Polizeigewalt, als dessen Bestandteil (BVerfGE 108, 251 (273)), beinhaltet alle Befugnisse, welche Behörden und Vollzugskräften zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung nach den Grundsätzen des gemeinen deutschen Sicherheitsrechts zustehen; sie wird durch eigene Polizeibeamte (§§ 1, 2 BPolBG) oder über Amtshilfeersuchen (Art. 35) ausgeübt, stets unter Weisungsrecht des Präsidenten (Rn. 6). Das Hausrecht richtet sich gegen jedermann; es umfasst auch Sitzungsgewalt gegenüber Teilnehmern und Ordnungsgewalt gegen andere in Sitzungen Anwesende. Das für den Erlass einer Hausordnung erforderliche Einvernehmen des Wahlprüfungsausschusses (§ 7 II 2 GeschOBTag) ist bedenklich.
Durchsuchungen und Beschlagnahmen sind alle derartigen Maßnahmen (vgl. §§ 94 ff. StPO), gleich von welchen Hoheitsträgern angeordnet, nicht aber nach dem Wortlaut Verhaftungen und Festnahmen (str.; vgl. Sachs/Magiera Art. 40 Rn. 33), schon weil dafür Besonderes gilt (Art. 46 II–IV). Durchsuchungen und Beschlagnahmen müssen vom BTags-Präsidenten vorher erlaubt werden, nicht „genehmigt“ iSv § 184 BGB. Ein (betroffener) Abgeordneter kann darauf nicht verzichten und eine „Genehmigung“ des BTags-Präsidenten nur im Organstreit (Art. 93 I 1) rügen, wenn sie willkürlich ist oder ihn in seinem Abgeordnetenstatus gröblich verletzt (BVerfGE 108, 251 (273 ff.)).