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Artikel 95 [Oberste Gerichtshöfe des Bundes]

(1) Für die Gebiete der ordentlichen, der Verwaltungs-, der Finanz-, der Arbeits- und der Sozialgerichtsbarkeit errichtet der Bund als oberste Gerichtshöfe den Bundesgerichtshof, das Bundesverwaltungsgericht, den Bundesfinanzhof, das Bundesarbeitsgericht und das Bundessozialgericht.

(2) Über die Berufung der Richter dieser Gerichte entscheidet der für das jeweilige Sachgebiet zuständige Bundesminister gemeinsam mit einem Richterwahlausschuß, der aus den für das jeweilige Sachgebiet zuständigen Ministern der Länder und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern besteht, die vom Bundestage gewählt werden.

(3) 1 Zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung ist ein Gemeinsamer Senat der in Absatz 1 genannten Gerichte zu bilden. 2 Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.

I. Allgemeines

Art. 95 bestimmt die Grundzüge der Organisation der bundeseigenen Gerichtsbarkeit. Art. 95 I beinhaltet einen Regelungsauftrag an den Bundesgesetzgeber zur obligatorischen Errichtung der fünf obersten Gerichtshöfe des Bundes und zielt dabei auf die Wahrung der Rechtseinheit im Bundesstaat ab, die durch divergierende Entscheidungen von Landesgerichten bedroht sein könnte. Die in Art. 95 III vorgesehene Bildung eines Gemeinsamen Senats der Gerichtshöfe dient ebenfalls der Wahrung der Einheitlichkeit der Rspr. Sie soll der Rechtszersplitterung vorbeugen, die aus der Auffächerung der Rspr. in fünf Fachgerichtszweige resultiert. Die Vorschrift des Art. 95 II regelt ein besonderes Auswahlverfahren der Richter der obersten Gerichtshöfe, das durch demokratische, föderative und exekutive Elemente geprägt wird (SHH/Heusch Art. 95 Rn. 2).

II. Oberste Gerichtshöfe des Bundes

Art. 95 I verpflichtet den Bund, oberste Gerichtshöfe für die Gebiete der ordentlichen, Verwaltungs-, Finanz-, Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit zu errichten. Die Aufzählung ist abschließend, so dass daneben keine weiteren obersten Bundesgerichte geschaffen werden dürfen. Der Bund hat von seiner Kompetenz durch die Errichtung des BGH in Karlsruhe (§§ 12, 123, 130 II GVG), des BVerwG in Leipzig (§§ 2, 10 VwGO), des BFH in München (§ 1 FGO), des BAG in Erfurt (§ 40 I ArbGG) sowie des BSG in Kassel (§ 38 I SGG) Gebrauch gemacht.

Mit der institutionellen Garantie der fünf obersten Gerichtshöfe, die von Verfassungs wegen über eine ausreichende sachliche und personelle Ausstattung verfügen müssen, werden zugleich die fünf Fachgerichtsbarkeiten institutionell abgesichert (Dreier/Schulze-Fielitz Art. 95 Rn. 20). Über die bloße Existenz hinaus ist den Gerichtsbarkeiten auch ein Kernbestand an Sachkompetenzen verfassungsrechtlich garantiert. Eine Zusammenlegung von Gerichtszweigen ist nicht zulässig. Die Aufteilung in diese Gerichtszweige bezweckt eine möglichst qualitativ hochstehende Rspr. Durch Spezialisierung. Die grds. Trennung bedeutet jedoch nicht, dass Rechtsstreitigkeiten eines bestimmten Sachgebiets der jew. Gerichtsbarkeit ausnahmslos zugewiesen werden müssen. Besteht ein enger Sachzusammenhang, kann eine gesetzliche Sonderzuweisung an eine andere Gerichtsbarkeit erfolgen (Sachs/Detterbeck Art. 95 Rn. 5). Die fünf Gerichtszweige und die obersten Gerichtshöfe stehen gleichrangig nebeneinander (BVerfGE 12, 326 (333)), was sich in der besoldungsmäßigen Gleichstellung der Richter widerspiegelt (BVerfGE 12, 326 (333); 55, 372 (388 ff.)).

Die Bezeichnung als „oberste“ Gerichtshöfe bringt zum Ausdruck, dass sie anderen Gerichten übergeordnet sind und grds. als höchstrichterliche Rechtsmittelgerichte fungieren. Den fünf obersten Gerichtshöfen ist aufgetragen, jew. für ihr Gebiet die Rechtseinheit im Bundesstaat zu gewährleisten (BVerfGE 10, 285 (295)). Art. 95 I schließt jedoch nicht aus, dass der Gesetzgeber den obersten Gerichtshöfen auch erstinstanzliche Zuständigkeiten überträgt (BVerfGE 8, 174 (177 f.)); ein Instanzenzug wird durch Art. 95 I nicht gewährleistet (BVerfGE 54, 277 (291 f.)). Umgekehrt können aber auch oberste Landesgerichte, deren Einrichtung § 8 I EGGVG den Ländern ermöglicht, letztinstanzlich als Revisionsgerichte tätig werden (BVerfGE 6, 45 (51 f.)).

III. Richterwahlausschuss

Über die Berufung der Richter der in Art. 95 I genannten obersten Gerichtshöfe entscheidet gem. Art. 95 II der jew. zuständige BMinister gemeinsam mit einem Richterwahlausschuss. Das Verfahren nach Art. 95 II gilt nur für die Berufs-, nicht hingegen für die ehrenamtlichen Richter (BVerfGE 26, 186 (201)). Die Einzelheiten des Verfahrens regelt das RichterwahlG. Der Richterwahlausschuss besteht aus den für das jew. Sachgebiet zuständigen Landesministern und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern, die vom BTag gewählt werden. Die vom BTag bestimmten Mitglieder müssen ihrerseits nicht Mitglieder des BTags sein (MKS/Voßkuhle Art. 95 Rn. 35; DHS/Jachmann-Michel Art. 95 Rn. 129). Nach § 12 I RichterwahlG entscheidet der Richterwahlausschuss in geheimer Abstimmung mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Zu beachten sind dabei zum einen die Wählbarkeitsvoraussetzungen für Bundesrichter, insbes. die Voraussetzungen gem. § 9 und § 10 DRiG sowie das Mindestalter von 35 Jahren (vgl. § 125 II GVG, § 15 III VwGO, § 38 II 2 SGG, § 42 II ArbGG, § 14 II FGO). Zum anderen gilt für die Auswahl der Richter der obersten Gerichtshöfe des Bundes das Leistungsprinzip des Art. 33 II (BVerfGE 143, 22 (29 f.); HStR III/Detterbeck § 66 Rn. 37; MKS/Voßkuhle Art. 95 Rn. 38; v. Münch/Kunig/Meyer Art. 95 Rn. 36; aA Lovens ZRP 2001, 465 (467)). Die Mitglieder des Richterwahlausschusses müssen sich bei ihrer Wahlentscheidung zwar von Art. 33 II leiten lassen, ihre Entscheidung ist aber isoliert nicht gerichtlich überprüfbar. Gäbe es nämlich eine strikte Pflicht, den Besten auszuwählen, könnte der mit der Wahl einhergehende legitimatorische Mehrwert nicht erreicht werden (BVerfGE 143, 22 (33)). Der zuständige BMinister hat sich bei seiner anschließenden Entscheidung den Ausgang der Wahl grds. zu eigen zu machen, es sei denn, die formellen Ernennungsvoraussetzungen für einen Bundesrichter wären nicht erfüllt oder das Ergebnis der Richterwahl wäre vor dem Hintergrund des Art. 33 II nicht mehr nachvollziehbar (BVerfGE 143, 22 (34)). Stimmt der zuständige BMinister der Wahl nicht zu, ist die Berufung des Gewählten gescheitert (§ 13 RichterwahlG). Im Fall der Zustimmung des BMinisters erfolgt die Ernennung durch den BPräsidenten gem. Art. 60 I.

IV. Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes

Art. 95 III 1 verpflichtet den Bund zur Errichtung eines Gemeinsamen Senates der obersten Gerichtshöfe, der die Wahrung der Einheitlichkeit der Rspr. zur Aufgabe hat. Art. 95 II 2 normiert die entspr. Gesetzgebungskompetenz. Seinem Auftrag ist der Gesetzgeber durch das Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rspr. der obersten Gerichtshöfe des Bundes v. 19.6.1968 (BGBl. 1968 I 661) nachgekommen. Der Gemeinsame Senat, der seinen Sitz in Karlsruhe hat, besteht aus den Präsidenten der obersten Gerichtshöfe, den Vorsitzenden Richtern der jew. beteiligten Senate sowie aus je einem weiteren Richter aus diesen Spruchkörpern. Der Gemeinsame Senat ist anzurufen, wenn ein oberster Gerichtshof des Bundes in einer Rechtsfrage von einer Entscheidung eines anderen obersten Gerichtshofs oder des Gemeinsamen Senats abweichen will und die Rechtsfrage sowohl für den erkennenden Senat in der anhängigen Sache als auch für den divergierenden Senat in der bereits entschiedenen Sache entscheidungserheblich ist (BGHZ 91, 111 (114)). Nicht zuständig ist der Gemeinsame Senat hingegen, wenn ein Spruchkörper eines obersten Bundesgerichts von einer Entscheidung eines anderen Spruchkörpers desselben obersten Gerichtshofs abweichen will. Zur Entscheidung über derartige Streitfragen sind die Großen Senate der obersten Gerichtshöfe bzw. der Vereinigte Große Senat des BGH berufen. Die Entscheidung des Gemeinsamen Senats ist für den vorlegenden obersten Gerichtshof bindend. Eine Entscheidung des Gemeinsamen Senats kann nicht mit einer Verfassungsbeschwerde angegriffen werden; tauglicher Beschwerdegegenstand ist allein die anschließende Entscheidung des obersten Gerichtshofs (SHH/Heusch Art. 95 Rn. 29). Ist eine erforderliche Anrufung des Gemeinsamen Senats hingegen unterblieben, liegt darin eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 I 2 (BK/Sydow Art. 95 Rn. 57; DHS/Jachmann-Michel Art. 95 Rn. 160).