Artikel 70 [Gesetzgebung des Bundes und der Länder]
(1) Die Länder haben das Recht der Gesetzgebung, soweit dieses Grundgesetz nicht dem Bunde Gesetzgebungsbefugnisse verleiht.
(2) Die Abgrenzung der Zuständigkeit zwischen Bund und Ländern bemißt sich nach den Vorschriften dieses Grundgesetzes über die ausschließliche und die konkurrierende Gesetzgebung.
I. Allgemeines
Art. 70 regelt die grds. Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern. Art. 70 I bestätigt für den Bereich der Gesetzgebung die Kompetenzverteilung des Art. 30. Die Bestimmung geht vom Grundsatz der Länderkompetenz aus. Der Bund hat Gesetzgebungskompetenzen nur, soweit das GG sie ihm verleiht. Art. 70 II regelt die unterschiedlichen Arten der Zuweisung von Kompetenzen an den Bund und nennt die ausschließliche und die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes.
Die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen hat durch die am 1.9.2006 in Kraft getretene Föderalismusreform (52. Gesetz zur Änderung des GG [Artikel 22, 23, 33, 52, 72, 73, 74, 74a, 75, 84, 85, 87c, 91a, 91b, 93, 98, 104a, 104b, 105, 107, 109, 125a, 125b, 125c, 143c] v. 28.8.2006, BGBl. 2006 I 2034) eine grdl. Änderung erfahren. Im Bereich der Gesetzgebungskompetenzen ist das erklärte Ziel der Reform in erster Linie die Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, eine Entflechtung von Zuständigkeiten von Bund und Ländern und die daraus folgende Schaffung klarer Verantwortlichkeiten sowie die Stärkung des Bundesstaates in seiner Europatauglichkeit (so die Begründung des Gesetzentwurfes, BT-Drs. 16/813, 17; zu einem Überblick über die Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen: Degenhart NVwZ 2006, 1209 ff.; Ipsen NJW 2006, 2801 ff.; Rengeling DVBl 2006, 1537 ff.). Zentrale Schritte im Hinblick auf dieses Ziel stellen die Abschaffung der Rahmengesetzgebung des Bundes (Art. 75 aF; Art. 75 Rn. 1 ff.) und die Überführung der ihr ursprünglich zugeordneten Sachgebiete in die konkurrierende Gesetzgebung nach Art. 72, 74 oder in die ausschließliche Gesetzgebung nach Art. 71, 73 dar (Art. 75 Rn. 1 f.). Zudem wurden innerhalb der konkurrierenden Gesetzgebung mit der Kern- und der Bedarfskompetenz des Bundes (Art. 72 Rn. 4 ff., 12 ff.) sowie der Abweichungskompetenz der Länder (Art. 72 Rn. 24) neue Varianten geschaffen.
II. Gesetzgebung
Art. 70 grenzt die Zuständigkeiten von Bund und Ländern im Bereich der Gesetzgebung ab. Gesetzgebung iSv Art. 70 meint den Erlass von Gesetzen im formellen Sinn (BVerfGE 55, 7 (21)). Der Begriff des Gesetzes wird im GG in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. Anders als in Art. 70 erfasst der Gesetzesbegriff in Art. 5 II zB auch untergesetzliche Normen (Rn. 4), soweit sie auf ein formelles Gesetz gestützt sind. Unter Gesetzen im formellen Sinn sind solche staatlichen Anordnungen zu verstehen, die von dem für die staatliche Gesetzgebung zuständigen Organ in dem von der Verfassung hierfür vorgesehenen Verfahren und in der hierfür vorgesehenen Form erlassen werden. Auf den Inhalt der Norm kommt es nicht an. Ein formelles Bundesgesetz ist danach ein solches, das im Verfahren und in der Form nach Art. 76 ff. verabschiedet wird und das auch als Parlamentsgesetz bezeichnet wird. Auch verfassungsändernde Gesetze gem. Art. 79 werden vom Gesetzesbegriff des Art. 70 I erfasst. Die ausschließliche Kompetenz des Bundes für Änderungen des GG bis zur materiellen Grenze des Art. 79 III ergibt sich dabei allerdings nicht aus den Art. 70 ff., sondern unmittelbar aus Art. 79 selbst (Art. 79 Rn. 3).
Im Gegensatz hierzu ist ein materielles Gesetz als eine dem Inhalt nach allgemeinverbindliche, abstrakt-generelle Norm zu verstehen, die sich an eine Vielzahl von Personen richtet und eine Vielzahl von Fällen regelt, und zwar unabhängig von der Form. IdR handelt es sich bei formellen Gesetzen zugleich um materielle Gesetze. Untergesetzliche Normen, die nicht vom parlamentarischen Gesetzgeber in einem förmlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen werden, sind nur materielle Gesetze. Dazu zählen RVOen, also aufgrund gesetzlicher Ermächtigung von der Exekutive erlassenes Recht (Art. 80 Rn. 3), und Satzungen, dh von einer juristischen Person des öffentlichen Rechts zur Regelung von Selbstverwaltungsangelegenheiten erlassenes Recht. Bei Verwaltungsvorschriften hingegen ist bereits der Rechtsnormcharakter zu verneinen, da sie sich nicht an den Bürger richten, sondern auf dem Recht zur Leitung eines Geschäftsbereichs und der daraus folgenden Weisungsbefugnis beruhen (Maurer/Waldhoff § 24 Rn. 1 ff.).
Landesverfassungsrecht unterfällt nicht dem Gesetzesbegriff der Art. 70 ff. (BK/Heintzen Art. 70 Rn. 96). Die Länder sind im Rahmen ihrer Verfassungsautonomie befugt, ihre verfassungsmäßige Ordnung in den Grenzen der Homogenitätsklausel des Art. 28 I 1 frei zu gestalten, wobei für den Bereich der Grundrechte Art. 142 zu beachten ist (Sachs/Degenhart Art. 70 Rn. 22; Dreier/Wittreck Vorb. zu Art. 70–74 Rn. 32; v. Münch/Kunig/Broemel Art. 70 Rn. 23). Die Art. 70 ff. sind, vorbehaltlich einer ausdrücklichen Inkorporation in eine Landesverfassung, auch nicht Teil des Landesverfassungsrechts, sondern Bundesrecht. Die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern findet nur auf Ebene des Bundesrechts statt und gilt ohne Weiteres auch auf der Ebene des Landesrechts (BVerfGE 103, 332 (350 ff.)). Die Länder können daher die Kompetenzverteilung der Art. 70 ff. nicht im Wege der Verfassunggebung oder -änderung auf Landesebene überspielen (Sachs/Degenhart Art. 70 Rn. 23).
Unter den Gesetzesbegriff iSv Art. 70–74 fällt das Gewohnheitsrecht, obgleich dessen Entstehung unabhängig vom Verfahren nach Art. 76 ff. ist (aA Stern/Sodan/Möstl/Uhle § 42 Rn. 4). Als Entstehungsbedingungen von Gewohnheitsrecht gilt eine anhaltende tatsächliche Übung, die von den Beteiligten als rechtlich verbindlich anerkannt wird (BVerfGE 34, 293 (303 f.); 61, 149 (203)). Gewohnheitsrecht ist dem Kompetenzbereich zuzuordnen, den es durch seine Übung aktualisiert; entsteht es auf einem Gebiet, das im Kompetenzbereich der Länder liegt, so verbleibt es dort, selbst wenn es bundesweit in allen Ländern gilt (BVerfGE 61, 149 (203 f.)). Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung kann Gewohnheitsrecht, das bestehendes Bundesrecht ergänzt, auch ohne die Voraussetzungen des Art. 72 II, soweit sie einschlägig sind (Art. 72 Rn. 12), entstehen.
Hingegen hat das Richterrecht, das im Wege der Ausfüllung von Rechtslücken eine Fortentwicklung des Rechts darstellt, keine Gesetzesqualität (Sachs/Degenhart Art. 70 Rn. 28; Stern/Sodan/Möstl/Uhle § 42 Rn. 4). Eine Ausnahme besteht nur dann, wenn es zu Gewohnheitsrecht erstarkt ist.
III. Verfassungsrechtlicher Kompetenzbegriff
Das „Recht“ zur Gesetzgebung iSv Art. 70 I ist als Kompetenz zu verstehen. Der von der Verfassung selbst nicht verwendete Begriff der Kompetenz kann als Synonym für „Befugnis“ (vgl. Art. 30) verstanden werden (Dreier/Wittreck Vorb. zu Art. 70–74 Rn. 34) und ist von den staatlichen Aufgaben zu unterscheiden, zu deren Erfüllung die Gesetzgebungstätigkeit dient. Wie sich bereits aus dem Wortlaut ableiten lässt, begründen Gesetzgebungskompetenzen keine Gesetzgebungspflichten; Letztere können sich aber aus Verfassungsaufträgen, -direktiven oder rechtsstaatlich-demokratischen Wesentlichkeitsvorbehalten ergeben, die außerhalb der Art. 70 ff. begründet sind (Sachs/Degenhart Art. 70 Rn. 63).
Fraglich ist, ob den dem organisationsrechtlichen Teil des GG angehörenden Kompetenzvorschriften ein materieller Gehalt zukommt. Relevant ist dies insbes. im Verhältnis der Kompetenzvorschriften zu den Grundrechten und hier vor allem für die Frage, ob ein verfassungsrechtlicher Kompetenztitel als Wert von Verfassungsrang anzuerkennen ist, der zur Grundrechtseinschränkung ermächtigt. Das BVerfG hat teilweise eine materiell-rechtliche Wirkung von Kompetenztiteln angenommen und damit Grundrechtseinschränkungen gerechtfertigt (BVerfGE 12, 45 (50); 32, 40 (46); 48, 127 (159); 53, 30 (56); 69, 1 (21)). Grds. aber erheben Kompetenznormen die von ihnen erfassten Materien nicht in materiellen Verfassungsrang. Andernfalls würde nahezu jeder Belang des öffentlichen Interesses einen verfassungsrechtlichen Status erlangen und die Einschränkung von Grundrechten rechtfertigen (Sachs/Degenhart Art. 70 Rn. 70; aA Pieroth AöR 114 [1989], 422 (492 f.)). Allenfalls kann Kompetenznormen ein materieller Gehalt zugesprochen werden, insoweit sie Rechtsinstitute benennen (Dreier/Wittreck Vorb. zu Art. 70–74 Rn. 55). Schließlich kann aus der Aufnahme eines bestimmten Sachbereichs in einem Kompetenztitel auf die grds. Legitimität der Regelung dieses Sachbereiches geschlossen werden (BVerfGE 7, 377 (401 f.); 120, 1 (27)).
IV. Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen
1. Grundsatz der Länderzuständigkeit
Nach der Verteilungsregelung des Art. 70 I sind die Länder immer dann zuständig, wenn dem Bund grundgesetzlich keine Gesetzgebungskompetenz zugewiesen ist (Grundsatz der subsidiären Zuständigkeit des Bundes). Das faktische Schwergewicht der Gesetzgebung liegt jedoch beim Bund (Dreier/Wittreck Art. 70 Rn. 7; Sachs/Degenhart Art. 70 Rn. 7).
2. Ausnahmsweise Zuweisung an den Bund
a) Ausdrückliche Kompetenzzuweisung an den Bund
aa) Kompetenztitel
Ausdrückliche Kompetenzzuweisungen an den Bund finden sich insbes. in Art. 71–Art. 74 sowie an anderen Stellen verstreut im GG (Art. 71 Rn. 2, Art. 72 Rn. 3). Die Kompetenzzuweisungen geschehen entweder faktisch-deskriptiv durch Benennung eines Lebenssachverhaltes, etwa „Luftverkehr“ in Art. 73 I Nr. 6, oder normativ-rezeptiv durch Benennung eines Normbereichs, etwa „bürgerliches Recht, Strafrecht“ in Art. 74 I Nr. 1 (BVerfGE 109, 190 (218); vgl. auch BVerfGE 134, 33 (55); 145, 20 (62); 157, 223 (264 f.); 163, 1 (17)).
bb) Kompetenzarten
Gem. Art. 70 II liegt die Bundeskompetenz, soweit sie gegeben ist, entweder iF der ausschließlichen oder der konkurrierenden Gesetzgebungsbefugnis vor (Art. 71 Rn. 1, Art. 72 Rn. 1). Keine weitere Kompetenzart bildet die Grundsatzgesetzgebungsbefugnis gem. Art. 106 IV 3, 109 IV sowie Art. 140 iVm Art. 138 I 2 WRV, die als Unterfall der ausschließlichen Gesetzgebungsbefugnis des Bundes verstanden werden muss (Jarass/Pieroth/Kment Art. 70 Rn. 16; DHS/Uhle Art. 70 Rn. 157).
cc) Auslegung
Für die Auslegung der Kompetenztitel sind die allg. Regeln über die Verfassungsinterpretation maßgeblich. Von den vier klassischen Auslegungsmethoden (Wortlaut, Systematik, Teleologie, Entstehungsgeschichte) ist die Entstehungsgeschichte besonders relevant (BVerfGE 106, 62 (105); 109, 190 (215)). Zudem wird unter dem Aspekt der Kontinuität auch der Staatspraxis eine nicht unerhebliche Bedeutung beigemessen (BVerfGE 33, 125 (152); 61, 149 (175); 68, 319 (328); 106, 62 (105)). Insbes. bei Materien, die aus der WRV in das GG übernommen wurden, ist auf das dortige Verständnis abzustellen. Auf der anderen Seite darf aber die Betonung der historischen Auslegung von Kompetenznormen nicht die Weiterentwicklung eines Rechtsgebiets außer Acht lassen und behindern. Ungeachtet des Regel-Ausnahme-Verhältnisses von Bundes- und Länderkompetenzen begründet Art. 70 I keine Auslegungsmaxime, nach der die Kompetenzen des Bundes restriktiv oder im Zweifel zugunsten der Länder auszulegen wären (BVerfGE 157, 223 (261 f.); 160, 1 (22)).
Zudem folgt aus der Systematik der Kompetenztitel der Art. 73f, sie werden einzeln aufgelistet, das Erfordernis einer strikten Auslegung (BVerfGE 12, 205 (228 f.); 26, 281 (297 f.); 61, 149 (174); 138, 261 (271)). Das erfordert eine Auslegung, die Wortlaut und Sinn der Kompetenznorm gerecht wird und eine möglichst eindeutige vertikale Gewaltenteilung gewährleistet (BVerfGE 160, 1 (22)). So sind etwa die Umweltkompetenzen nach wie vor punktuell geregelt, obgleich im Rahmen der Föderalismusreform die Möglichkeit zur Änderung bestand, so dass eine erweiternde Auslegung nicht in Betracht kommt.
dd) Abgrenzung
Fällt eine Regelung in einen Bereich, der teilweise in die Kompetenz der Länder, teilweise in die Kompetenz des Bundes fällt, ist der maßgebliche Kompetenztitel nach dem Schwerpunkt der fraglichen Gesamtregelung zu bestimmen (BVerfGE 97, 228 (252); 98, 265 (299); 106, 62 (110 ff.)). Eine Teilregelung, die bei isolierter Betrachtung einer Materie zuzurechnen wäre, für die der Bundesgesetzgeber nicht zuständig ist, kann daher gleichwohl in seine Kompetenz fallen, wenn sie mit dem kompetenzbegründenden Schwerpunkt der Gesamtregelung derart eng verzahnt ist, dass sie als Teil dieser Gesamtregelung erscheint (BVerfGE 98, 265 (299); 138, 261 (274)). Eine im Wege der Schwerpunktbildung vorzunehmende Zuordnung zu einem einzigen Kompetenztitel ist innerhalb der Gesetzgebungskompetenzen des Bundes jedenfalls im Überschneidungsbereich verschiedener Arten der Gesetzgebungskompetenz erforderlich, da insoweit unterschiedliche Voraussetzungen, etwa im Hinblick auf die Erforderlichkeitsprüfung gem. Art. 72 II, bestehen können.
b) Ungeschriebene Gesetzgebungskompetenzen
Neben den geschriebenen bestehen auch ungeschriebene Gesetzgebungskompetenzen. Zu unterscheiden sind drei Formen: die Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs (Rn. 17), die Annexkompetenz (Rn. 18) und die Zuständigkeit kraft Natur der Sache (Rn. 19). Es handelt sich um Hilfskonstruktionen, die nur dann eingreifen, wenn sich ausdrückliche Regelungen im GG nicht finden. Ungeschriebene Kompetenzen des Bundes sind zurückhaltend und restriktiv anzunehmen (BVerfGE 98, 265 (299)), da andernfalls die Gefahr besteht, dass die im GG ausdrücklich geregelten Kompetenzen verschoben werden. Der Art nach handelt es sich entweder um ausschließliche oder konkurrierende Gesetzgebungskompetenzen des Bundes. Bei der Kompetenz kraft Natur der Sache handelt es sich immer um eine ausschließliche Kompetenz (Ehlers Jura 2000, 323 (325); Pechstein/Weber Jura 2003, 82 (84)). Im Hinblick auf die Kompetenz kraft Sachzusammenhangs und die Annexkompetenz ist zu differenzieren. Knüpfen diese Kompetenzen an ausschließliche Gesetzgebungskompetenzen des Bundes an, verleihen sie dem Bund ebenfalls ausschließliche Sachzusammenhangs- oder Annexkompetenzen. Ist Anknüpfungspunkt eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes, besitzt der Bund eine konkurrierende Sachzusammenhangs- oder Annexkompetenz (BeckOK GG/Seiler Art. 70 Rn. 23; DHS/Uhle Art. 71 Rn. 29; MKS/Heintzen Art. 71 Rn. 17; Kunig Jura 1996, 254 (257)). Ausschließliche und abschließend ausgeübte konkurrierende ungeschriebene Gesetzgebungskompetenzen des Bundes entfalten eine Sperrwirkung für die Gesetzgebung der Länder (BVerfGE 98, 265 (300); Art. 72 Rn. 10).
aa) Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs
Kraft Sachzusammenhangs kann der Bund ausnahmsweise eine Regelung treffen, wenn „eine ihm zugewiesene Materie verständigerweise nicht geregelt werden kann, ohne dass zugleich eine nicht ausdrücklich zugewiesene andere Materie mitgeregelt wird, wenn also das Übergreifen in den Kompetenzbereich der Länder für die Regelung der zugewiesenen Materie unerlässlich ist“ (BVerfGE 98, 265 (299); 106, 62 (115)). Die zu regelnde Materie muss hierfür mit einer Materie der Gesetzgebung des Bundes in untrennbarem Zusammenhang stehen. Von der Kompetenz muss der Bund auch Gebrauch gemacht haben. Es handelt sich um eine (punktuelle) Erweiterung einer schon existierenden Kompetenz des Bundes „in die Breite“. Nicht immer eindeutig ist die Abgrenzung zur Annexkompetenz (Rn. 18), die auch teilweise als Unterfall der Kompetenz kraft Sachzusammenhangs bezeichnet wird (Bullinger AöR 96 [1971], 237 (243 f.); Jarass/Pieroth/Kment Art. 70 Rn. 12; aA BK/Heintzen Art. 70 Rn. 179), zumal auch das BVerfG selbst die Konturen in jüngerer Zeit zu verwischen scheint (vgl. BVerfGE 98, 265 (299); BVerfG [K] NJW 1996, 2497 (2498); dazu Jarass NVwZ 2000, 1089 (1090)). Bsp. für Bundeskompetenzen kraft Sachzusammenhangs sind etwa die Kompetenz zur Regelung des Dienstleistungsverkehrs mit dem Ausland im Zusammenhang mit der Kompetenz zur Regelung des Waren- und Zahlungsverkehrs gem. Art. 73 I Nr. 5 (BVerfGE 110, 33 (47)) sowie die Kompetenz für die Jugendpflege im Zusammenhang mit der Kompetenz für die öffentliche Fürsorge gem. Art. 74 I Nr. 7 (BVerfGE 22, 180 (213)).
bb) Annexkompetenz
Eine Annexkompetenz des Bundes ist anzunehmen, wenn die Kompetenz zur Regelung einer Materie, die in den Zuständigkeitsbereich des Bundes fällt, in der Weise erweitert wird, dass der Bund auch die Vorbereitung und Durchführung dieser Materie regelt (BVerfGE 8, 104 (118); 77, 288 (299); 88, 203 (331)). Anders als bei der kompetenzverbreiternd wirkenden Kompetenz kraft Sachzusammenhangs handelt es sich bei der Annexkompetenz um die Vertiefung einer existierenden Kompetenz des Bundes (Ehlers Jura 2000, 323 (325)). Bsp. für Annexkompetenzen sind die Kompetenzen zur Regelung des Verwaltungsverfahrens auf einer dem Bund zugewiesenen Sachmaterie (BVerfGE 26, 281 (300)) sowie die Kompetenz zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung auf einem Gebiet, für das der Bund die Gesetzgebungskompetenz innehat (BVerfGE 8, 143 (147); 132, 1 (6)).
cc) Zuständigkeit kraft Natur der Sache
Kraft Natur der Sache besitzt der Bund das Gesetzgebungsrecht für solche Materien, die begriffsnotwendig von ihm geregelt werden müssen, bei denen also eine sinnvolle Regelung durch die Länder zwingend ausgeschlossen ist (BVerfGE 12, 205 (251); 22, 180 (216)). Die bloße Zweckmäßigkeit einer bundesrechtlichen Regelung ist nicht ausreichend (Sachs/Degenhart Art. 70 Rn. 31). Es handelt sich nicht lediglich um die Erweiterung einer bestehenden, sondern um die Begründung einer neuen Kompetenz des Bundes. Bsp. für Bundeskompetenzen kraft Natur der Sache sind die Kompetenzen zur Regelung des Sitzes der BReg (BVerfGE 3, 407 (422)), der Symbole des Gesamtstaates (BK/Klein Art. 22 Rn. 21) sowie zur gesetzlichen Planung und Linienführung der Bundesfernstraßen (BVerwGE 62, 342 (344 f.)).
3. EU-Recht
Die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern kann durch Vorschriften des EU-Rechts überlagert werden, dem grds. Anwendungsvorrang zukommt (Art. 23 Rn. 15). Dem Bund ist es über Art. 23 I möglich, Hoheitsbefugnisse durch Gesetz auf die EU zu übertragen. Dabei kann es sich sowohl um Gesetzgebungsbefugnisse handeln, die innerstaatlich bislang dem Bund zustanden, als auch um solche der Länder.
Hat die EU Vorschriften erlassen, die in den Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt werden müssen, dies gilt insbes. für Richtlinien gem. Art. 288 III AEUV, bestimmt sich die innerstaatliche Zuständigkeit hierfür nach der innerstaatlichen Kompetenzverteilung. Je nach betroffener Materie können also entweder der Bund oder die Länder zur Umsetzung verpflichtet sein. Die Umsetzungspflicht der Länder folgt dabei allerdings nicht aus dem EU-Recht, da nur der Gesamtstaat, nicht die Länder, Mitglied der EU und damit Adressat des Unionsrechtsakts ist (Haratsch/Koenig/Pechstein EuropaR Rn. 119). Eine Gesetzgebungspflicht der Länder ist insoweit vielmehr aus dem innerstaatlichen Grundsatz der Bundestreue herzuleiten (Art. 20 Rn. 17 ff.).