Zur Startseite navigieren

Artikel 42 [Öffentlichkeit der Sitzungen; Mehrheitsprinzip]

(1) 1 Der Bundestag verhandelt öffentlich. 2 Auf Antrag eines Zehntels seiner Mitglieder oder auf Antrag der Bundesregierung kann mit Zweidrittelmehrheit die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden. 3 Über den Antrag wird in nichtöffentlicher Sitzung entschieden.

(2) 1 Zu einem Beschlusse des Bundestages ist die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich, soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt. 2 Für die vom Bundestage vorzunehmenden Wahlen kann die Geschäftsordnung Ausnahmen zulassen.

(3) Wahrheitsgetreue Berichte über die öffentlichen Sitzungen des Bundestages und seiner Ausschüsse bleiben von jeder Verantwortlichkeit frei.

I. Öffentlichkeit(sausschluss)

Die Öffentlichkeit der Parlamentssitzungen ist ein fundamentales Rechtsprinzip der parlamentarischen Demokratie, das diese gegenüber Formen direkter Demokratie rechtfertigt (vgl. BVerfGE 70, 324 (355); 120, 1 (28)), durch Transparenz für die Angehörigen des Volkes als Träger der Souveränität (Art. 20 II) (BVerfGE 40, 296 (327)). Öffentlichkeit bedeutet nicht Verständlichkeit der Äußerungen im BT. Parlamentsöffentlichkeit ist ein eigenständiger Verfassungsbegriff gegenüber der Gerichtsöffentlichkeit (§§ 169 ff. GVG).

Grds. Öffentlichkeit, mit Ausschlussmöglichkeit (Art. 42 I), gilt nach dem GG nur für „Verhandlungen“, dh Beratungen und Beschlussfassungen (BVerfGE 89, 291 (303)) des Plenums des BTags, nicht seiner Ausschüsse (§ 69 I 1 GeschOBTag; BVerfGE 1, 144 (152)). Dies Letztere folgt aus dem Antragsrecht auf Nichtöffentlichkeit (Art. 42 I 2), das für die Ausschüsse nicht passt, sowie im Gegenschluss aus Art. 44 I, 45a III. Dem steht weder die zunehmende Bedeutung der Ausschussarbeit, noch deren in der GeschOBTag (§§ 69 ff.) bereits abgeschwächte Öffentlichkeit entgegen; eine Unterscheidung zwischen vorbereitenden und (in Öffentlichkeit) beschließenden Ausschüssen lässt sich nicht begründen; vgl. hierzu auch Brocker ZParl 2016, 50.

Öffentlichkeit verlangt ungehindertes räumliches Zutritts- und Anwesenheitsrecht für jedermann zu allen Plenarverhandlungen, sie schließt aber geheime Stimmabgabe in diesen (vgl. § 49 GeschOBTag) nicht aus. Für Medienvertreter gilt kein Sonderrecht, etwa aufgrund von Art. 5 I. Direktübertragungen werden zwar hier – wie allg. – nicht vom Anwesenheitsrecht umfasst, dessen wichtigste Wirkungen sie unübersehbar erweitern können; ihre Zulässigkeit entspricht aber Sinn und Zweck der Öffentlichkeit (Rn. 1; vgl. auch § 69 I 3 GeschOBTag: „Zutrittsrecht der Presse“; str., vgl. Sachs/Magiera Art. 42 Rn. 3). Platzreservierungen sind zwar – außerhalb von Art. 43 – grds. problematisch, werden aber laufend praktiziert und lassen sich, in Grenzen, durch Völkerrecht und nach Rn. 1 rechtfertigen, für Diplomaten, Medien und besonders Interessierte. Räumlicher Begrenztheit darf jedoch Rechnung getragen werden.

Ausschluss der Öffentlichkeit (Art. 42 I 2, 3) kann jederzeit – nicht nur ausnahmsweise, vgl. allerdings (Rn. 1) – und ohne Begründung, schon um Geheimhaltungsinteressen nicht zu gefährden, von einem Zehntel der Mitglieder des BTags und von der BReg (§ 24 GeschOBReg) beantragt und mit 2/3-Mehrheit der abgegebenen Stimmen (Art. 42 II) vom BT beschlossen werden. Nach Verhandlungsgegenständen kann der Ausschluss der Öffentlichkeit beschränkt werden, nicht aber nach Personen(gruppen). Über den Ausschluss wird bereits in nicht öffentlicher Sitzung beraten und beschlossen (Art. 42 I 3); er begründet weder eine Vertraulichkeitsverpflichtung der Anwesenden, noch einen Geheimnisschutz (§ 17 GeschOBTag iVm der Geheimschutzordnung, Anl. 3 zur GeschO und deren Bestandteilen). Wird die Öffentlichkeit rechtswidrig ausgeschlossen, so sind insoweit gefasste Beschlüsse des BTags unwirksam.

II. Mehrheit im Bundestag

Das Prinzip, dass der Wille eines Verfassungsorgans der „seiner Mehrheit“ ist, entspricht einem fundamentalem Grundsatz der Demokratie (Art. 20 I, II; BVerfGE 1, 299 (315); 29, 154 (167)). Der Mehrheitswille bindet auch die Minderheit (BVerfGE 2, 143 (172)). Das Entscheidungsrecht der Mehrheit ist Anwendung des Gleichheitssatzes (Art. 3 I) auf den status activus der Staatsbürger und der Gewählten. Dies sagt aber nichts darüber aus, welcher Art und wie hoch die jew. Mehrheit sein muss. Das ist, abgestuft nach der Bedeutung der Entscheidungen, jew. im GG speziell geregelt.

Bei diesen Mehrheiten sind zu unterscheiden: Absolute Abstimmungsmehrheit der abgegebenen Stimmen (Art. 42 II 1; mehr als die Hälfte), die auch eine 2/3 -Mehrheit sein kann (etwa Art. 80a I 2); absolute Mitgliedermehrheit der gesetzlichen Abgeordnetenzahl (Art. 121) – auch diese kann eine einfache, wie in zahlreichen Fällen (etwa Art. 62 II 1, 63 IV 2, 3, 67 I 1, 77 IV 1) oder eine qualifizierte ( 2/3 -Mehrheit; vgl. Art. 61 I 3, 79 II) sein; relative Mehrheiten (zB Art. 54 VI 2, 63 IV 1) der abgegebenen Stimmen, dh der Höchstzahl derselben. Absolute Mehrheit ist erreicht, wenn die Stimmenzahl für einen Vorschlag unter den abgegebenen gültigen Stimmen die der nicht in diesem Sinn abgegebenen Stimmen quantitativ übersteigt. Nach Art. 42 II 1 ist, soweit im GG nichts anderes ausdrücklich bestimmt ist, die absolute Abstimmungsmehrheit ausreichend; auf die Zahl der dabei abgegebenen Stimmen kommt es nicht an (BVerfGE 44, 308 (315 f.)). Stimmenthaltungen werden nicht mitgezählt – hier ist ja die Stimme nicht „abgegeben“ worden; ungültige Stimmen zählen nicht mit, weil sie keine Rechtswirkungen – Herstellung von Mehrheiten – „zu einem Beschluss“ entfalten können. Die hL und Praxis bedarf also nicht der Begründung aus Geschichte und/oder Gewohnheitsrecht.

Beschlussfähigkeiten verlangt das GG nicht. Nach verbreiteter Auffassung kann jedoch die GeschOBTag sie vorsehen (§ 45), ihre Nachprüfung von „Zweifeln“ an ihrem Vorliegen abhängig machen. Die Form der Fragestellung und der entspr. Stimmabgabe kann in der GeschOBTag geregelt werden (vgl. § 4 GeschOBTag). Soweit sie eine eindeutige Feststellung der gültigen abgegebenen Stimmen erlaubt, ist sie nicht zu beanstanden.

Beschlüsse sind alle Entscheidungen des BTags, welche das abschließende Ergebnis seiner Willensbildung zum Ausdruck bringen. Dazu gehören auch Entschließungsbeschlüsse, selbst wenn ihnen nach dem GG als solchen keine Rechtswirkungen zukommen, etwa Aufforderungen an die BReg, ebenso alle Antrags-Beschlüsse des BTags als solchen, nicht aber die von Minderheiten/Gruppen von Abgeordneten im parlamentarischen Verfahren.

Die absolute Abstimmungsmehrheit kann nur durch verfassungsrechtlich vorgesehene Regelungen (Rn. 6) oder bei Wahlen durch Ausnahmebestimmungen in der GeschO abgesenkt oder erhöht werden, soweit nicht spezielle Vorschriften im GG (etwa Art. 63, 67) entgegenstehen. Anwesenheitsmehrheiten können nach der GeschOBTag Antragsrechte (§§ 43, 80 II, 81 I, 84b) ausüben, nicht aber Beschlussrechte; § 126 GeschOBTag ist insoweit verfassungswidrig. Wahlen betreffen nur Personal- nicht Sach(-Auswahl)-Entscheidungen etwa über einen Behördensitz (§ 50 GeschOBTag).

III. Berichterstattungsfreiheit gem. Abs. 3

Wahrheitsgetreue Berichterstattung über öffentliche Sitzungen (vgl. Abs. 1) von Plenum und sämtlichen Ausschüssen des BTags, auch UA (str.), darf nicht zu rechtlichen Nachteilen für die Berichtenden führen, gleich wann oder in welcher Form diese berichten, und ob es sich um Medienvertreter handelt oder nicht. Art. 42 III geht Art. 46 I vor. Bericht soll (nur) die „erzählende Darstellung eines historischen Vorgangs in seinem wesentlichen Verlauf „ sein (RGSt 18, 207 (210) – aus 1888); staatsrechtlich ist dies längst überholt durch die Entwicklung des Begriffs der „Meinung“ (Art. 5 I, II; Art. 5 Rn. 2 ff.) zwischen „Stellungnahme und Berichterstattung“, welche dem nicht leicht abzuschichtenden „Meinungsgehalt der Berichterstattung“ (Auswahl der Nachrichten, subjektive inhaltliche Färbung) Rechnung tragen will. Der Berichterstattungsbegriff in Art. 42 III muss dem in Art. 5 I entsprechen; auch er steht also unter dem Gesetzesvorbehalt des Art. 5 II, insbes. was Vollständigkeit und Richtigkeit anbelangt. Von der Parlamentsberichterstattung in diesen Richtungen darf nicht, iSe „para-amtlichen Verantwortungsbewusstseins“, mehr verlangt werden als nach Art. 5 I 1, auch nicht im Namen grundrechtlicher Informationsfreiheit über die in einer Demokratie besonders wichtigen Parlamentsvorgänge.

Diese Berichterstattungsfreiheit betrifft das gesamte Geschehen in öffentlichen Sitzungen des BTags und seiner Ausschüsse, nicht nur ein Organverhalten, bezieht sich aber nicht auf Beantwortung schriftlicher Anfragen (BGHZ 75, 384 (390)). Ein „Weiterberichten“ ist geschützt, nicht aber eine inhaltliche Wiederholung berichtsgeschützter Äußerungen außerhalb des BTags (BGH NJW 1981, 2118). Ausgeschlossen ist die „Verantwortlichkeit“, iSv Folgen mit rechtlichen Nachteilen nach Straf-, Privat- sowie öffentlichem Dienst-, insbes. auch nach Presserecht. Gegendarstellungen können verlangt werden, da sie keine „Sanktion“ darstellen und der Wahrheitsermittlung dienen. Im Strafrecht wird Art. 42 III teils als Strafausschließungs-, teils als Rechtfertigungsgrund angesehen (vgl. MKS/Achterberg/Schulte Art. 42 Rn. 54).