Artikel 91 [Innerer Notstand]
(1) Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes kann ein Land Polizeikräfte anderer Länder sowie Kräfte und Einrichtungen anderer Verwaltungen und des Bundesgrenzschutzes anfordern.
(2) 1 Ist das Land, in dem die Gefahr droht, nicht selbst zur Bekämpfung der Gefahr bereit oder in der Lage, so kann die Bundesregierung die Polizei in diesem Lande und die Polizeikräfte anderer Länder ihren Weisungen unterstellen sowie Einheiten des Bundesgrenzschutzes einsetzen. 2 Die Anordnung ist nach Beseitigung der Gefahr, im übrigen jederzeit auf Verlangen des Bundesrates aufzuheben. 3 Erstreckt sich die Gefahr auf das Gebiet mehr als eines Landes, so kann die Bundesregierung, soweit es zur wirksamen Bekämpfung erforderlich ist, den Landesregierungen Weisungen erteilen; Satz 1 und Satz 2 bleiben unberührt.
I. Allgemeines
Art. 91 wurde mit seinem jetzigen Wortlaut im Rahmen der Notstandsnovelle von 1968 (BGBl. 1968 I 709) in das GG aufgenommen. Die Regelung über den inneren Notstand ist eine der Vorschriften, die in der Verfassung eine wehrhafte Demokratie konstituieren (BVerfGE 39, 334). Während Art. 91 I eine requisitionsabhängige Intervention von Ländern und Bund im Wege der bundesstaatlichen Amtshilfe ermöglichen, räumt Art. 91 II dem Bund ein requisitionsunabhängiges Interventionsrecht ein.
Die Notstandsregelungen im GG haben primär kompetenzrechtliche Bedeutung. Da die Vorschrift des Art. 91 I als Sonderfall der Amtshilfe verstanden wird (Sachs/Windthorst Art. 91 Rn. 2), genießt sie im Verhältnis zu Art. 35 I, II 1 als lex specialis Vorrang; Art. 35 II 2 und III beziehen sich auf andere Gefahrenursachen und stehen damit gegenüber Art. 91 in einem Alternativverhältnis (Dreier/Heun Art. 91 Rn. 24; BVerfGE 132, 1 (17)). Art. 37, der den Bundeszwang regelt, wird, sofern die Voraussetzungen des Art. 91 II vorliegen, von diesem als speziellerer Vorschrift verdrängt (Dreier/Heun Art. 91 Rn. 25; v. Münch/Kunig/Hernekamp/Zeccola Art. 91 Rn. 42; aA MKS/Volkmann Art. 91 Rn. 11). Art. 91 II wird von Art. 87a IV tatbestandlich vorausgesetzt, wobei der speziellere Art. 87a IV weitergehende Rechtsfolgen, nämlich den Einsatz von Streitkräften, ermöglicht (C. Arndt DVBl 1968, 729 (733 f.)).
II. Begriff des inneren Notstandes
Im Gegensatz zum äußeren Notstand (Art. 115a ff.), der alle tatbestandlichen Stufen der militärischen Bedrohung betrifft, ist der innere Notstand durch aus der eigenen staatlich-gesellschaftlichen Lebenssphäre kommende Gefährdungen charakterisiert. Nicht erfasst sind von außen an Staatsorgane herangetragene Störungen sowie Störungen im Wirtschafts- und Sozialgefüge.
Geschützt wird zum einen die freiheitliche demokratische Grundordnung, die vom BVerfG bestimmt wird als eine Ordnung, die unter Ausschluss jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jew. Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt (BVerfGE 2, 1 (12); Art. 21 Rn. 35). Weitere Schutzgüter sind der Bestand des Bundes, dh die existentiellen Grundlagen seiner Gesamtstaatlichkeit, wozu auch seine Fähigkeit zählt, im Innern als effektive Ordnungsmacht aufzutreten, um seine Friedens- und Freiheitsfunktion zu erfüllen (Sachs/Windthorst Art. 91 Rn. 11). Entsprechendes gilt hinsichtlich der Gefährdung des Bestandes eines Landes, wobei der in Art. 29 geregelte Neugliederungsvorbehalt mangels Widerrechtlichkeit keine Gefahr darstellt (BeckOK GG/Epping Art. 91 Rn. 5). Die Aufzählung der Schutzgüter in Art. 91 I ist abschließend. Allein der Zusammenbruch des Gesundheitssystems, etwa infolge einer Pandemie, lässt sich nicht unter Art. 91 subsumieren, sofern die Erheblichkeitsschwelle für den Bestand des Bundes oder eines Landes nicht überschritten ist (BeckOK GG/Epping Art. 91 Rn. 5.1).
Die von Art. 91 vorausgesetzte „drohende Gefahr“ ist als konkrete Gefahr im polizeirechtlichen Sinn für die aufgeführten Schutzgüter zu verstehen, also als eine Sachlage, die bei ungehindertem Ablauf mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schadenseintritt führen würde (Dreier/Heun Art. 91 Rn. 10). Das Ausmaß der Bedrohung ist ex ante zu beurteilen, so dass den Beteiligten eine gerichtlich nur begrenzt überprüfbare Einschätzungsprärogative einzuräumen ist. Zu einer Gefährdung iSd Vorschrift zählen etwa die gewaltsame Behinderung von Wahlen, die Lahmlegung von Parlamenten oder die Verhinderung eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes (Dreier/Heun Art. 91 Rn. 10). Notstandsmaßnahmen dürfen sich gem. Art. 9 III 3 nicht gegen Arbeitskämpfe richten, da diese Bestandteil einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung sind (v. Münch/Kunig/Hernekamp/Zeccola Art. 91 Rn. 39).
III. Notstandsbefugnisse der Länder
1. Anforderungsberechtigte und -adressaten
In Art. 91 I wird jedes bedrohte Land ermächtigt, über seine eigenen Polizeikräfte hinaus Handlungsinstrumente zur Gefahrenabwehr in Anspruch zu nehmen. Ein Hilfeersuchen setzt allerdings voraus, dass das bedrohte Land zur Bewältigung der Gefahr mit eigenen Kräften außerstande ist (Sachs/Windthorst Art. 91 Rn. 18). Bzgl. der Anforderung zusätzlicher Kräfte hat das betroffene Land Entschließungsermessen.
Anforderungsadressaten sind der Bund und andere Länder. Angefordert werden können Polizeikräfte anderer Länder (Landespolizei im formellen Sinne), Kräfte und Einrichtungen anderer Verwaltungen sowie des Bundesgrenzschutzes, dh der Bundespolizei (vgl. BGBl. 2005 I 1818; dazu Scheuring NVwZ 2005, 903 ff.). Nicht zu den Kräften iSd Art. 91 zählt die Bundeswehr, der im Falle des inneren Notstands nur aufgrund der vorrangigen Regelung in Art. 87a IV Aufgaben zugewiesen werden dürfen. Dementsprechend dürfen auch die angeforderten Polizeikräfte nicht militärisch, sondern nur polizeilich ausgerüstet und eingesetzt werden (Sachs/Windthorst Art. 91 Rn. 25). Das ersuchende Land besitzt bei Anforderung weiterer Kräfte Auswahlermessen. Die Aufzählung in Art. 91 I konstituiert keine zwingende Rangfolge, so dass das bedrohte Land sein Hilfeersuchen auch primär an die Bundespolizei richten kann. Die in Frage kommenden Kräfte können alternativ oder kumulativ angefordert werden.
2. Pflicht zur Hilfeleistung
Die angeforderten Kräfte sind grds. zur Hilfeleistung verpflichtet, dürfen jedoch ihrerseits prüfen, ob die Voraussetzungen des Art. 91 I vorliegen (BeckOK GG/Epping Art. 91 Rn. 9 f.; Friauf/Höfling/Grzeszick Art. 91 Rn. 16). Rechtsgrundlage dieser Verpflichtung ist für den Bund Art. 28 III, für die Länder der Grundsatz der Bundestreue (Sachs/Windthorst Art. 91 Rn. 22 mwN). Verweigern kann die ersuchte Stelle die Hilfe, wenn sie selbst durch eine Gefahr iSd Art. 91 I bedroht ist oder ein anders nicht zu deckender Eigenbedarf besteht. Bei rechtswidriger Verweigerung der Hilfe kann das ersuchende Land um eine Entscheidung des BVerfG gem. Art. 93 I Nr. 3 oder Nr. 4 Klage nachsuchen.
Da die angeforderten Kräfte des Bundes oder eines Landes Kompetenzen des Einsatzlandes wahrnehmen, sind sie an dessen Recht gebunden und unterstehen den Weisungen der zuständigen Behörden dieses Landes. Sie bleiben aber Organ ihres Herkunftslandes oder des Bundes. Die Kosten des Einsatzes hat grds. das anfordernde Land zu tragen.
IV. Anordnungsbefugnisse der Bundesregierung
1. Voraussetzungen
Art. 91 II trägt dem Grundsatz Rechnung, dass die Wahrung der Gesamtverfassung im Rahmen der bundesstaatlichen Ordnung den Organen des Bundes anvertraut ist, der Bund mithin als Garant der Verfassung fungiert (BVerfGE 13, 54). Das Eingreifen der BReg im Falle des inneren Notstands gem. Art. 91 II ist aufgrund des Interventionscharakters aber subsidiär zu den Notstandsbefugnissen der Länder nach Art. 91 I.
Zusätzlich zu der drohenden Gefahr iSd Art. 91 I ist Voraussetzung für ein Eingreifen des Bundes, dass das Land selbst aus subjektiven Gründen nicht bereit oder aus objektiven Gründen nicht in der Lage ist, die Gefahr zu beseitigen. Der BReg steht bzgl. des Vorliegens dieser Voraussetzungen ein Beurteilungsspielraum zu (Sachs/Windthorst Art. 91 Rn. 38; Jarass/Pieroth/Kment Art. 91 Rn. 3).
2. Rechtsfolgen
Im Hinblick auf die ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten handelt die BReg als Kollegium (Art. 62) nach pflichtgem. Entschließungsermessen. Hinsichtlich der zu treffenden Maßnahmen kommt der BReg Auswahlermessen zu. Sie kann die Polizeikräfte des betroffenen Landes oder die Polizeikräfte anderer Länder ihren Weisungen unterstellen oder Einheiten der Bundespolizei einsetzen, um die Gefahr zu beseitigen. Die in Art. 91 II 1 genannte Reihenfolge der Instrumente stellt keine Rangfolge dar, da es entscheidend auf die Effektivität der Gefahrenabwehr ankommt (BeckOK GG/Epping Art. 91 Rn. 15). Aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit bedarf eine Weisungsunterstellung von Polizeikräften eines oder mehrerer Länder durch die BReg einer förmlichen Bekanntmachung (Sachs/Windthorst Art. 91 Rn. 42). Gleiches gilt für die Aufhebung der Anordnung, die gem. Art. 91 II 2 auf Verlangen des BRats jederzeit, jedenfalls aber nach Beseitigung der Gefahr zu erfolgen hat.
Die den Weisungen der BReg unterstellten Polizeikräfte bleiben Landesorgane. Da sie nicht in die Bundesverwaltung eingegliedert werden, aber den Weisungen der BReg unterliegen, kann insoweit von einer modifizierten Auftragsverwaltung gesprochen werden (BeckOK GG/Epping Art. 91 Rn. 16; Sachs/Windthorst Art. 91 Rn. 45). Anders als im Fall des Art. 91 I (Rn. 9) bleibt als Rechtsgrundlage das Recht des Einsatzlandes nur insoweit bestehen, als es nicht durch entspr. bundesrechtliche Regelungen verdrängt wird (BeckOK GG/Epping Art. 91 Rn. 16). Die Kosten des Einsatzes der Polizei sind Sache des betroffenen Landes; dies gilt auch dann, wenn zusätzlich Polizeikräfte anderer Länder tätig werden. Der Einsatz der Bundespolizei ist hingegen eine Aufgabe des Bundes. Hier sind ausschließlich bundesrechtliche Regelungen anzuwenden, und auch die Kosten für den Einsatz werden vom Bund getragen (BK/Reimer Art. 91 Rn. 116 f.).
3. Überregionaler innerer Notstand
Erstreckt sich die Gefahr auf das Gebiet von mindestens zwei Ländern, werden die Befugnisse der BReg erweitert. Sie besitzt im Fall eines überregionalen Notstandes gem. Art. 91 II 3 auch ein Weisungsrecht gegenüber den Landesregierungen, das sich auf sämtliche Bereiche der Landesverwaltung erstreckt (Jarass/Pieroth/Kment Art. 91 Rn. 5; Dreier/Heun Art. 91 Rn. 21). Das Weisungsrecht besteht jedoch nur gegenüber der jew. Landesregierung, nicht gegenüber einzelnen Ministerien oder nachgeordneten Stellen (BK/Reimer Art. 91 Rn. 160 f.). Die Möglichkeit der Weisungsunterstellung von Polizeikräften der betroffenen Länder sowie der Einsatz der Bundespolizei bleiben der BReg bei einem überregionalen Notstand unbenommen (Art. 91 II 3 letzter Hs. iVm II 1). Auch in Fall des überregionalen inneren Notstands sind die getroffenen Anordnungen aufzuheben, sobald der BR dies verlangt oder sobald die Gefahr beseitigt ist (Art. 91 II 3 letzter Hs. iVm II 2).