Artikel 99 [Verfassungsstreit innerhalb eines Landes]
Dem Bundesverfassungsgerichte kann durch Landesgesetz die Entscheidung von Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes, den in Artikel 95 Abs. 1 genannten obersten Gerichtshöfen für den letzten Rechtszug die Entscheidung in solchen Sachen zugewiesen werden, bei denen es sich um die Anwendung von Landesrecht handelt.
I. Allgemeines
Art. 99 räumt den Ländern die Möglichkeit ein, sich für landesrechtliche Streitigkeiten der Gerichtsbarkeit des Bundes zu bedienen. Für landesverfassungsrechtliche Streitigkeiten nach Art. 99 Var. 1 kann das BVerfG in Anspruch genommen werden. Für letztinstanzliche Entscheidungen in anderen, nichtverfassungsrechtlichen landesrechtlichen Streitigkeiten können die Länder auf die obersten Gerichtshöfe des Bundes zurückgreifen. In beiden Fällen handelt es sich um eine Organleihe (BVerfGE 1, 208 (218)). Die ausgeliehenen Bundesgerichte werden funktional als Landesgerichte tätig und üben Landesstaatsgewalt aus. Die Zuweisung der Zuständigkeit an das BVerfG oder die obersten Gerichtshöfe des Bundes bedarf einer gesetzlichen Regelung entweder durch ein förmliches Landesgesetz oder durch die Landesverfassung selbst.
II. Landesverfassungsrechtliche Streitigkeiten
Art. 99 Var. 1 ermächtigt die Länder, die Entscheidung über verfassungsrechtliche Streitigkeiten innerhalb eines Landes dem BVerfG gesetzlich zuzuweisen. Den Ländern wird hierdurch ermöglicht, auf die Einrichtung eines LVerfG zu verzichten. Als einziges Land hatte Schleswig-Holstein diese Zuweisungsbefugnis genutzt. Mit der Errichtung des Schleswig-Holsteinischen LVerfG durch Gesetz v. 10.1.2008 (SchlH GVBl. 2008, 25), das am 1.5.2008 vollständig in Kraft getreten ist, sind jedoch sämtliche, dem BVerfG nach Art. 99 Var. 1 zugewiesenen Zuständigkeiten entfallen.
Der Begriff der Verfassungsstreitigkeit in Art. 99 ist weit auszulegen und umfasst alle Streitigkeiten, die ein verfassungsrechtliches Rechtsverhältnis zum Gegenstand haben. Darunter fallen jedenfalls alle dem Art. 93 I entspr. Streitigkeiten in einem Land (Dreier/Schulze-Fielitz Art. 99 Rn. 9; zur abstrakten Normenkontrolle vgl. BVerfGE 1, 208 (218 f., 221)). Die §§ 73 ff. BVerfGG treffen – nur bruchstückhaft – konkretisierende Regelungen für die Verfahren in den Fällen von Art. 99 Var. 1. Parteifähig sind im landesverfassungsrechtlichen Organstreit nach § 73 I BVerfGG die obersten Organe eines Landes und deren in der Landesverfassung oder der jew. GeschO mit eigenen Rechten ausgestatteten Organteile. Die Regelung anderer landesverfassungsrechtlicher Verfahren vor dem BVerfG obliegt dem Landesrecht (vgl. BVerfGE 103, 332 (344 f.)). Entscheidungsmaßstab des BVerfG ist die jew. Landesverfassung, nicht das GG (BVerfGE 103, 332 (345)).
III. Nichtverfassungsrechtliche landesrechtliche Streitigkeiten
Art. 99 Var. 2 erlaubt es den Ländern, andere, nichtverfassungsrechtliche landesrechtliche Streitigkeiten im letzten Rechtszug den obersten Gerichtshöfen des Bundes gem. Art. 95 I zuzuweisen. Diese Befugnis schränkt die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes aus Art. 74 I Nr. 1, das gerichtliche Verfahren zu bestimmen, allerdings nicht ein. Der Bund ist befugt, das Gerichtsverfahren auch für landesrechtliche Streitigkeiten festzulegen und diese letztinstanzlich in den Zuständigkeitsbereich der obersten Bundesgerichtshöfe oder eines anderen Gerichts zu verweisen (BVerfGE 10, 285 (290 ff.)).