Artikel 146 [Geltungsdauer des Grundgesetzes]
Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.
I. Bedeutung der Norm
Art. 146 trifft eine Aussage über die Limitierung der Geltungsdauer des Grundgesetzes und eröffnet grds. den Weg für eine Verfassungsneuschöpfung durch die verfassunggebende Gewalt des Volkes (BVerfGE 5, 85 (131)). Dies ist eine für eine Staatsverfassung ungewöhnliche Regelung, die sich mit den besonderen Umständen der Entstehungsgeschichte des GG erklären lässt. Die Vorgängervorschrift Art. 146 aF bestimmte nämlich, dass dieses GG seine Gültigkeit an dem Tage verliert, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist. Diese Regelung dokumentierte die Annahme des ParlRats, mit dem GG lediglich eine Übergangsverfassung errichtet zu haben. Das GG sollte nach Überwindung der deutschen Teilung durch den Erlass einer neuen gesamtdeutschen Verfassung abgelöst werden können (Dreier/Dreier Art. 146 Rn. 27). Zusammen mit der Präambel aF war Art. 146 aF vor allem Ausprägung des Staatsziels Wiedervereinigung (BVerfGE 77, 137 (150)). Nach dem Beitritt der 1990 in der DDR neu gegründeten Länder zum GG auf der Grundlage von Art. 23 S. 2 aF verlor Art. 146 aF seinen primären Sinn (HStR VII/Isensee, 1. Aufl. 1992, § 166 Rn. 47; aA MKS/Unruh Art. 146 Rn. 11 f.).
Obgleich die Norm damit hätte ersatzlos entfallen können, wurde aus innenpolitischen Gründen die Neufassung des Art. 146 vorgenommen (Sachs/Huber Art. 146 Rn. 6). Infolge einer Verfassungsänderung durch das Zustimmungsgesetz zum EinigungsV (BGBl. 1990 II 885 (889)) wurde der im Übrigen unverändert gebliebene Wortlaut der Norm um den Relativsatz „das nach Vollendung … gilt“ ergänzt, der die dauerhafte und endgültige Geltung des GG für das gesamte deutsche Volk festschreibt. Die neu gefasste Schlussbestimmung (zur Einordnung Wegner, Die Übergangs- und Schlussbestimmungen des Grundgesetzes, 2021, 122 ff.) hat innerstaatlich insoweit Bedeutung, als sie den Weg freimacht für eine Verfassungsablösung; damit geht das GG von einem geordneten Übergang zu einer neuen Verfassung aus (Schilling Der Staat 53 [2014], 95 (99)). Dies ist aber kein Auftrag (Dreier/Dreier Art. 146 Rn. 51), und hieraus lassen sich auch keine subjektiven Rechte auf Durchführung einer Volksabstimmung über eine neue Verfassung ableiten (BVerfGE 89, 155 (180); BVerfG [K] NVwZ-RR 2000, 474). Allerdings kann die Beachtung des Art. 146 iVm grundrechtsgleichen Rechten, insbes. Art. 38, gerügt werden (Sauer Der Staat 58 [2019], 7 (17 f., 36 f.)). Dies soll vor einer Entstaatlichung der Bundesrepublik durch zu weitgehende Hoheitsrechtsübertragung an die EU schützen (BVerfGE 123, 267 (332); Rn. 5).
II. Verfahren einer Verfassungsneubildung
Die Verfahrensvoraussetzungen für eine Verfassungsneubildung sind nicht abschließend geklärt. Art. 146 enthält zum Verfahren der Erarbeitung einer neuen Verfassung keine Vorgaben. Daher ist Art. 146 erst anwendbar, wenn das Verfahren durch eine Ergänzung des GG unter Beachtung von Art. 79, also unter Mitwirkung der verfassungsändernden Organe BT und BR nach Art. 79 II, geregelt wurde (DHS/Herdegen Art. 146 Rn. 39 ff., 28; strenger Sachs/Huber Art. 146 Rn. 16 f.; aA Dreier/Dreier Art. 146 Rn. 53; v. Münch/Kunig/Aust Art. 146 Rn. 35 f.; Eggert, Verfassungsablösung, 2021, 55 f.). IdS steht die aus Art. 146 hervorgehende neue Verfassung in Legalitätskontinuität zum dann abzulösenden GG (Schilling Der Staat 53 [2014], 95 (102); Nettesheim Der Staat 51 [2012], 350 f.). Die Entscheidung über den neuen Verfassungsentwurf muss hingegen den wahlberechtigten Bürgern überlassen bleiben; dies ist durch eine Volksabstimmung oder durch die Wahl einer verfassunggebenden Versammlung, ggf. mit anschließendem Referendum, möglich (Dreier/Dreier Art. 146 Rn. 52; BeckOK GG/Hillgruber Art. 146 Rn. 5; diff. BK/Michael Art. 146 Rn. 567 ff.). Freilich kann Art. 146 den Erlass einer neuen vollrevolutionären Verfassung, deren Zustandekommen die genannten Bedingungen nicht erfüllt, nicht verhindern (Wiederin AöR 117 [1992], 410 (416)).
Auch hinsichtlich der materiell-rechtlichen Bindung der verfassunggebenden Gewalt, insbes. an Art. 79 III, besteht keine Einigkeit. Für eine völlige Bindungslosigkeit spricht, dass der Erlass einer neuen Verfassung, die das GG ablöst, immer in der freien Entscheidung des Volks- und Verfassungssouveräns liegt (Dreier/Dreier Art. 146 Rn. 50; Sachs/Huber Art. 146 Rn. 11 ff.; Hölscheidt DÖV 2020, 69 (72 f.)). Deutete man jedoch Art. 146 in diese Richtung, würde die Vorschrift nur das vorverfassungsrechtliche Recht bestätigen (vgl. BVerfGE 123, 267 (332)) und wäre daher bloß deklaratorischer Natur, was bei Verfassungsnormen nur schwerlich anzunehmen sein dürfte (für Funktionslosigkeit des Art. 146 indes Polzin, Verfassungsidentität, 2018, 125 ff.). Deswegen ist im Ergebnis bei einer Verfassungsneuschöpfung gem. Art. 146 eine Bindung an Art. 79 III zu bejahen (so auch BVerfGE 89, 155 (180); DHS/Herdegen Art. 146 Rn. 47 ff.; ähnlich Chatziathanasiou, Verfassungsstabilität, 2019, 52 f.; offengelassen indes in BVerfGE 123, 267 (343)). Damit werden zwar Unabänderlichkeiten, die sich prinzipiell nur an die verfasste Staatsgewalt richten (Erichsen Jura 1992, 52 (53)), auch für den pouvoir constituant festgeschrieben, was mit demokratietheoretischen Überlegungen in Widerspruch stehen könnte (Doehring StaatsR, 130; Blankenagel/Michael, Den Verfassungsstaat nachdenken, 2014, 101, 116). Diese Schwierigkeit ist aber auch der geltenden Verfassungslage inhärent; die Begründer des GG haben 1949 eine Macht ausgeübt, die nach dem Begriff der „living constitution“ (Klette JuS 1976, 8 f.) eigentlich nur dem lebenden Staatsvolk zukommen kann. Außerdem zielt die Mehrzahl der Unabänderbarkeiten in Art. 79 III gerade auf die Respektierung des freien Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen und des Demokratieprinzips und füllt diese inhaltlich auf (vgl. auch HStR VII/Isensee, 1. Aufl. 1992, § 166 Rn. 161 f.; ähnl. v. Münch/Kunig/Bryde Art. 79 Rn. 33; andere Schlussfolgerung bei Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig?, 2009, 88 ff.; BK/Michael Art. 146 Rn. 602).
III. Anwendungsmöglichkeit
Neben (zurzeit) eher fernliegenden Anwendungsoptionen auf rein nationaler Ebene (Bsp. bei AK/Zuleeg Art. 146 Rn. 5) wird als mögliches Anwendungsfeld von Art. 146 zu Recht die fortschreitende europäische Integration diskutiert (früh bereits Herdegen EuGRZ 1992, 589; Dreier/Dreier Art. 146 Rn. 16; nunmehr auch BVerfGE 123, 267 (331 f.); Weber/v. Tschirnhaus EuR 2023, 381 (386 f., 389 ff.)). Das GG erlaubt derzeit keine unbeschränkte Übertragung von Hoheitsrechten. Eine umfassende und unbestimmte Kompetenzverschiebung zugunsten der EU ist dem Gesetzgeber nach Art. 23 I 2, 3 entzogen (Art. 23 Rn. 25), weshalb ein Rückgriff auf Art. 146 erforderlich werden könnte (BVerfGE 123, 267 (364)). Auch wenn mit Art. 146 die Bindung an Art. 79 III nicht überwunden werden kann und daher eine völlige Aufgabe der deutschen Staatsgewalt zugunsten eines europäischen Zentralstaates auch im Wege einer Verfassungsneuschöpfung nicht in Frage käme (HStR II/Hillgruber § 32 Rn. 108), bedeutet dies jedoch nicht zugleich, dass damit auch ein Zusammenschluss Deutschlands und der anderen europäischen Partner zu einem europäischen Bundesstaat ausgeschlossen wäre. Solange die Bundesrepublik ihren (föderalen) Staatscharakter grds. behält, ist es durchaus denkbar, Art. 146 bei einem größeren europäischen Integrationsprojekt in Anspruch zu nehmen (BVerfGE 123, 267 (331 f.); Sachs/Huber Art. 146 Rn. 18; Jarass/Pieroth/Jarass Art. 146 Rn. 5; BK/Michael Art. 146 Rn. 608; weitergehend Dreier/Dreier Art. 146 Rn. 16; MKS/Unruh Art. 146 Rn. 16; aA SHH/Greve Art. 146 Rn. 9 f.). Der Vertrag von Lissabon hat die Grenze des Art. 146 nicht überschritten. Die Bundesrepublik verfügt weiterhin über ein eigenes Staatsgebiet und Staatsvolk sowie eigene Zuständigkeiten von hinreichendem Gewicht (BVerfGE 123, 267 (402 ff.)). Auch die Maßnahmen zur Bewältigung der Staatsschuldenkrise im sog. „Euro-Raum“ (Art. 23 Rn. 2, 22, 25, 27) haben die Grenze des nach geltendem Verfassungsrecht Zulässigen noch nicht erreicht (BVerfGE 135, 317 (398 ff.), mwN; Hömig/Wolff/Wolff Art. 146 Rn. 6).