Artikel 23 [Verwirklichung der Europäischen Union; Beteiligung des Bundestages, des Bundesrates]
(1) 1 Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. 2 Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen. 3 Für die Begründung der Europäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, gilt Artikel 79 Abs. 2 und 3.
(1a) 1 Der Bundestag und der Bundesrat haben das Recht, wegen Verstoßes eines Gesetzgebungsakts der Europäischen Union gegen das Subsidiaritätsprinzip vor dem Gerichtshof der Europäischen Union Klage zu erheben. 2 Der Bundestag ist hierzu auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder verpflichtet. 3 Durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können für die Wahrnehmung der Rechte, die dem Bundestag und dem Bundesrat in den vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union eingeräumt sind, Ausnahmen von Artikel 42 Abs. 2 Satz 1 und Artikel 52 Abs. 3 Satz 1 zugelassen werden.
(2) 1 In Angelegenheiten der Europäischen Union wirken der Bundestag und durch den Bundesrat die Länder mit. 2 Die Bundesregierung hat den Bundestag und den Bundesrat umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten.
(3) 1 Die Bundesregierung gibt dem Bundestag Gelegenheit zur Stellungnahme vor ihrer Mitwirkung an Rechtsetzungsakten der Europäischen Union. 2 Die Bundesregierung berücksichtigt die Stellungnahmen des Bundestages bei den Verhandlungen. 3 Das Nähere regelt ein Gesetz.
(4) Der Bundesrat ist an der Willensbildung des Bundes zu beteiligen, soweit er an einer entsprechenden innerstaatlichen Maßnahme mitzuwirken hätte oder soweit die Länder innerstaatlich zuständig wären.
(5) 1 Soweit in einem Bereich ausschließlicher Zuständigkeiten des Bundes Interessen der Länder berührt sind oder soweit im übrigen der Bund das Recht zur Gesetzgebung hat, berücksichtigt die Bundesregierung die Stellungnahme des Bundesrates. 2 Wenn im Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse der Länder, die Einrichtung ihrer Behörden oder ihre Verwaltungsverfahren betroffen sind, ist bei der Willensbildung des Bundes insoweit die Auffassung des Bundesrates maßgeblich zu berücksichtigen; dabei ist die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren. 3 In Angelegenheiten, die zu Ausgabenerhöhungen oder Einnahmeminderungen für den Bund führen können, ist die Zustimmung der Bundesregierung erforderlich.
(6) 1 Wenn im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder auf den Gebieten der schulischen Bildung, der Kultur oder des Rundfunks betroffen sind, wird die Wahrnehmung der Rechte, die der Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der Europäischen Union zustehen, vom Bund auf einen vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder übertragen. 2 Die Wahrnehmung der Rechte erfolgt unter Beteiligung und in Abstimmung mit der Bundesregierung; dabei ist die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren.
(7) Das Nähere zu den Absätzen 4 bis 6 regelt ein Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf.
I. Entstehungsgeschichte und Funktion der Norm
Durch ÄndG v. 21.12.1992 (BGBl. I 2086) wurde Art. 23 an der Position in das GG eingefügt, an der 1990 durch die Aufhebung von Art. 23 aF eine Leerstelle entstanden war. Dieser systematische Standort soll zum Ausdruck bringen, dass nach der Vollendung der deutschen Einheit, die sich u. a. aufgrund der Förderung durch die damalige EG vollzogen hat (Classen JZ 2009, 881 (889); Schmahl BayVBl. 2012, 1 (3)), die Einigung Europas als Aufgabe der Bundesrepublik Deutschland im Vordergrund steht (PlenProt. 12. Wahlp., 9348, 10866). Anlass zur Schaffung des Europa-Artikels war der Maastrichter Vertrag, der einen Qualitätssprung im europäischen Integrationsprozess bewirkt hat (BVerfGE 89, 155 (186, 188); Sachs/Streinz Art. 23 Rn. 2 f.). Der Ermächtigungsrahmen des zuvor auf die Fortentwicklung des europäischen Primärrechts stets angewandten Art. 24 I (Art. 24 Rn. 2) galt aufgrund des Kompetenzzuwachses der EG/EU als ausgeschöpft (BT-Drs. 12/6000; Tomuschat EuGRZ 1993, 489 (492 f.)). Die EU ist keine schlichte zwischenstaatliche Einrichtung iSd Art. 24, sondern ein hochintegrierter „Staatenverbund“ (so BVerfGE 89, 155 (186); 123, 267 (376); 129, 78 (96 f.)), „Verfassungsverbund“ (so Pernice VVDStrL 60 [2001], 148 (163 f.); HStR XI/Tomuschat § 276 Rn. 59) oder „Integrationsverbund“ (Nettesheim NJW 2020, 1631 (1631); ähnlich BVerfGE 123, 267 (397): „Integrationsverband“). Mittlerweile spricht das BVerfG umfassend von einem „Staaten-, Verfassungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungsverbund“ (BVerfGE 140, 317 (338); 154, 17 (91); 156, 182 (198)), der in vielfältiger Weise für den Bürger unmittelbar Recht setzen kann (BVerfGE 131, 152 (197); 158, 51 (70)). Mit dieser Terminologie wird allgemein die „Verbundidee“ propagiert, die die EU jedenfalls aus der innerstaatlichen Perspektive weitgehend zutreffend charakterisiert (E. Klein FS Streinz 2023, 219 (220 ff.); vgl. auch Schnettger, Verbundidentität, 2020, 345 ff.). Durch die Föderalismusreform I (BGBl. 2006 I 2034) wurde Art. 23 VI verändert. Im Zuge der Ratifikation des Lissabonner Vertrags, der zur Auflösung der EG und zur Neubegründung einer rechtsfähigen EU geführt hat, wurde Art. 23 Ia erlassen (BGBl. 2008 I 1926), der u. a. das Recht zur Erhebung einer Subsidiaritätsklage statuiert (Rn. 45, 47). Diese Verfassungsänderung wurde vom BVerfG gebilligt (BVerfGE 123, 267 (431 f.)).
Art. 23 konkretisiert das in der Präambel niedergelegte Ziel, nach einem vereinten Europa zu streben (Dreier/Wollenschläger Art. 23 Rn. 36). Während die Präambel die Form der avisierten Einigung Europas offen lässt, bestimmt Art. 23 I 1, dass die Verwirklichung gerade im Rahmen der EU zu erfolgen hat (HStR II/Hillgruber § 32 Rn. 76). Erfasst wird von Art. 23 das gesamte Unionsrecht, also die EU, einschl. der intergouvernementalen Säule GASP, und die EAG (Sachs/Streinz Art. 23 Rn. 8; AK/Zuleeg Art. 23 Rn. 13 f.). Außerdem ist der Begriff „EU“ entwicklungsoffen zu verstehen (BVerfGE 131, 152 (200); 153, 74 (144 f.); DHS/Scholz Art. 23 Rn. 56). Er umschließt nicht nur die bei Neufassung des Art. 23 bestehenden Organisationen, die mit den ursprünglichen EGen in engem Kontext standen, sondern auch andere Fortentwicklungen im Zusammenhang der Union wie etwa den zur „Euro-Rettung“ erlassenen Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM, BGBl. 2012 II 983), den Fiskalpakt (BGBl. 2012 II 1008) und das Übereinkommen über ein Einheitliches Patentgericht (BGBl. 2021 II 850). Damit werden von Art. 23 generell völkerrechtliche Verträge erfasst, die zum Integrationsziel in einem Ergänzungs- oder besonderen Näheverhältnis stehen (BVerfGE 131, 152 (219); 153, 74 (144); 163, 165 (213 f.)), obgleich sie intergouvernementaler Ausrichtung sind (vgl. § 1 II EUZBBG; näher Rn. 22, 27) und ggf. formal eigenständige, aber „funktional äquivalente […] Satelliten-Einrichtungen“ (BVerfGE 153, 74 (145)) schaffen. Anders sieht es demgegenüber bei der Frage aus, ob über Art. 23 I 2, 3 GG im Wege eines „Mandatsgesetzes“ die deutschen Vertreter in den EU-Gremien ohne Primärrechtsänderung zu einem Ultra-vires-Handeln der Union ermächtigt werden können. Diese Frage aktualisierte sich im Zusammenhang mit dem CETA-Freihandelsabkommen (BGBl. 2023 II 1), bei dem Teile nicht durch Unionskompetenzen gedeckt sind. Eine solche Möglichkeit hat das BVerfG zu Recht verneint (BVerfGE 157, 1 (21 f.); Rn. 16, 32). Deshalb wurde CETA als gemischtes Abkommen zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten einerseits und Kanada andererseits geschlossen (KOM[2016] 480 endg.) und die vorläufige Anwendbarkeitserklärung im Jahr 2017 durch die Union auf bestimmte Teile des CETA beschränkt. Für diejenigen Bereiche, die der alleinigen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zuzurechnen sind, erfolgt die Zustimmung für Deutschland über das Vertragsgesetz nach Art. 59 II 1 (Art. 59 Rn. 10), da trotz der Verbindung zu den Außenwirtschaftsbeziehungen der EU (Weiß EuZW 2016, 286 (289 f.); Pautsch NVwZ-Extra 2016, 1 (3 ff.)) ein besonderes Näheverhältnis zum Integrationsziel nicht besteht. Grund dafür ist, dass die CETA-Gremien keine Entscheidungen mit unmittelbarer Durchgriffswirkung erlassen (Grzeszick NVwZ 2016, 1753 (1760); Grzeszick/Hettche AöR 141 [2016], 225 (243 ff.)). Jedenfalls nicht von Art. 23 erfasst wird der Europarat, auch wenn er mit der EU immer stärker – etwa durch den gem. Art. 6 II EUV prinzipiell gebotenen Beitritt der EU zur EMRK (Rn. 13) – rechtlich verflochten ist (näher Schmahl/Breuer/Schmahl, The Council of Europe: Its Law and Policies, 2017, § 37 Rn. 28 ff.).
Mit Art. 23 wird ein normativ verbindlicher Verfassungsauftrag etabliert (BVerfGE 123, 267 (346 f.); v. Münch/Kunig/Uerpmann-Wittzack Art. 23 Rn. 9; aA DHS/Scholz Art. 23 Rn. 50), der zugleich an die auflösende Bedingung verfassungsstruktureller Homogenität gebunden wird. Solange die EU den in Art. 23 I aufgestellten Strukturanforderungen entspricht, darf die Bundesrepublik verfassungsrechtlich aus der EU nicht austreten, selbst wenn die europarechtlichen Vorgaben für einen Austritt (vgl. Art. 50 EUV; Rn. 23) gegeben wären (SHH/Hillgruber Art. 23 Rn. 10; Thiele EuR 2016, 281 (293)). Außerdem bedürfte ein Austritt Deutschlands aus der EU nicht nur einer vorherigen Änderung der Präambel, sondern auch des Art. 23 GG, was jeweils die qualifizierte Mehrheit nach Art. 79 II GG voraussetzt (Groß EuR 2018, 387 (403 f.); ähnl. Schorkopf StaatsR int. Beziehungen, § 2 Rn. 156). Die Rückabwicklung einzelner Integrationsschritte steht indes im pflichtgemäßen Ermessen der zuständigen deutschen Staatsorgane (Dreier/Wollenschläger Art. 23 Rn. 92; extensiver BK/Schorkopf Art. 23 Rn. 76), soweit die Ausrichtung auf das Integrationsziel dadurch nicht beeinträchtigt wird (ähnl. Hömig/Wolff/Wolff Art. 23 Rn. 8). Insgesamt unterscheidet sich die verbindliche Staatszielbestimmung des Art. 23 erheblich von Art. 24, der lediglich ein Angebot zur Schaffung von mit Hoheitsrechten ausgestatteten zwischenstaatlichen Einrichtungen bereithält (Art. 24 Rn. 1). So enthält Art. 23 I etwa auch ein Wirksamkeits- und Durchsetzungsversprechen für das Unionsrecht (vgl. BVerfGE 126, 286 (302); 140, 317 (335); 142, 123 (186 f.); 158, 210 (239 f.); 160, 208 (273); BVerfG NVwZ 2024, 725 (Rn. 85)).
II. Anforderungen an die Struktur der EU
1. Grundsatzkongruenz
Die Ermächtigung zur Mitwirkung am europäischen Integrationsprozess ist an die in Art. 23 I 1 Hs. 2 genannten Prinzipien geknüpft, die an die Staatsstrukturprinzipien des GG angelehnt und den Funktionsbedingungen der Union angepasst sind (BVerfGE 123, 267 (363 f.); v. Münch/Kunig/Uerpmann-Wittzack Art. 23 Rn. 17). Die deutschen Staatsorgane tragen insoweit die kontinuierliche Verantwortung, dass die Integration keine mit diesen Grundsätzen nicht kompatible Entwicklung einschlägt (Rn. 26). Nähme die Union ohne Einwirkungsmöglichkeit deutscher Staatsorgane oder wegen der Erfolglosigkeit einer solchen Einwirkung dennoch eine solche Entwicklung, dürfte sich die Bundesrepublik an ihr nicht mehr beteiligen. Innerstaatlich würde sich dies durch Aufhebung des Zustimmungsgesetzes zu den Gründungsverträgen vollziehen (SHH/Hillgruber Art. 23 Rn. 11; Art. 24 Rn. 5); für das Aufhebungsgesetz wären – als actus contrarius – die Anforderungen des Art. 23 I 2, 3 zu erfüllen (Thiele EuR 2016, 281 (293); Rn. 3). Art. 23 I 1 fordert allerdings nur eine grds. strukturelle Homogenität in einem gemeineuropäischen Sinn (grundl. Schorkopf, Homogenität in der EU, 2000, 100 ff.; ferner Dreier/Wollenschläger Art. 23 Rn. 63). Die in Art. 23 I 1 genannten Prinzipien sind inhaltlich nicht mit den entspr. Anforderungen aus Art. 20 und Art. 28 identisch, da die Strukturprinzipien auf eine supranationale Organisation bezogen sind, die eine Vielzahl von unterschiedlich verfassten Mitgliedstaaten hat. Die Struktursicherungsklausel setzt deshalb lediglich Mindeststandards (Sachs/Streinz Art. 23 Rn. 20 ff.; vgl. auch BVerfGE 89, 155 (182); 113, 272 (320); 123, 267 (344, 347, 365 f.); 151, 202 (289 f.); zu den Grenzen Rn. 29 ff.).
2. Elemente struktureller Homogenität
a) Demokratie
Die in Art. 23 I 1 niedergelegte Verpflichtung auf die demokratischen Grundsätze bedeutet für die EU das Erfordernis einer doppelgleisigen demokratischen Legitimation (MKS/Classen Art. 23 Rn. 22 ff.; Friauf/Höfling/Hobe Art. 23 Rn. 18), wobei Art. 23 I 1 kein umfassender Parlamentsvorbehalt entnommen werden kann (BVerfGE 89, 155 (182); 131, 152 (196)). Die demokratische Legitimation erfolgt zum einen über die Zustimmung der von den Staatsvölkern der Mitgliedstaaten gewählten nationalen Parlamente zu den Gründungsverträgen der EU (SHH/Hillgruber Art. 23 Rn. 13) sowie über den Beitrag, den die nationalen Parlamente zur Arbeitsweise der Union leisten (Art. 12 EUV; BVerfGE 123, 267 (364); 131, 152 (197 f.)). Zum anderen darf die europäische Hoheitsgewalt nur von Organen ausgeübt werden, die ihrerseits demokratisch legitimiert sind und einer demokratischen Kontrolle unterstehen. Beim Rat, dem gem. Art. 16 EUV die zentrale Rolle bei der Rechtsetzung zukommt, erfolgt die demokratische Legitimation durch die mittelbare Rückbindung der Ratsvertreter, die von den mitgliedstaatlichen Regierungen bestellt werden, an die nationalen Parlamente. Entscheidet der Rat mit qualifizierter Mehrheit (Art. 16 III, IV EUV, Art. 238 AEUV) gegen den Willen des deutschen Ratsvertreters, liegt die demokratische Legitimation – antizipierend – in der mit dem deutschen Zustimmungsgesetz erfolgten Ermächtigung des Rates zur Rechtsetzung mit Mehrheitsentscheidung (BVerfGE 89, 155 (184 ff.)). Das Europäische Parlament hingegen ist, obwohl seit 1979 direkt gewählt und mittlerweile über ein hohes Leistungspotenzial im Bereich der Rechtsetzung verfügend (MKS/Classen Art. 23 Rn. 25), nur „hinkend demokratisch legitimiert“. Gründe hierfür sind die fehlende europäische Öffentlichkeit, das uneinheitliche Wahlrecht sowie die Geltung eines die Bevölkerungszahl der Mitgliedstaaten nur ungenau widerspiegelnden nationalen Proporzes (BVerfGE 123, 267 (373 ff.); 129, 300 (336 ff.); HStR X/P. Kirchhof § 214 Rn. 10 ff.). Da das EP bislang lediglich die in den Mitgliedstaaten organisierten Völker Europas repräsentiert (BVerfGE 123, 267 (350, 375)), ist der ungleiche Erfolgswert der Stimmen der Unionsbürger aus den verschiedenen Mitgliedstaaten bei den Wahlen zum EP aber hinnehmbar (BVerfGE 123, 267 (370 f.)), zumal neben der Gleichheit der Unionsbürger auch die Gleichheit der Mitgliedstaaten zu berücksichtigen ist (zutr. HStR XI/Tomuschat § 226 Rn. 56; ähnl. Classen EuR 2020, 255 (262)). Das EP ergänzt daher die nationalen Parlamente, ersetzt diese aber nicht (BVerfGE 89, 155 (184 ff.); 97, 350 (368 f.); 123, 267 (364); 151, 202 (290)). Dennoch darf die legitimationsspendende Kraft des EP, das die Funktion eines „Verbundparlaments“ einnimmt (BVerfGE 129, 300 (353)), nicht unterschätzt und die indirekte Legitimation über die Parlamente der Mitgliedstaaten auch nicht überschätzt werden (zutr. v. Münch/Kunig/Uerpmann-Wittzack Art. 23 Rn. 28; aA Haltern NVwZ 2020, 817 (821)). Das Demokratieprinzip der Union beruht gem. Art. 10 II EUV auf zwei einander ergänzenden Legitimationssträngen (v. Bogdandy NJW 2010, 1 (3)); je höher die Legitimationsvermittlung durch das EP ist, desto niedriger kann der mitgliedstaatliche Legitimationsbeitrag über den Rat und die nationalen Parlamente ausfallen (Calliess ZG 2010, 1 (4 f.)). Gerade bei den völkerrechtlichen Nebenverträgen zur „Euro-Rettung“ (Rn. 2) wird die Notwendigkeit einer kumulativen Erfüllung der demokratischen Teilhaberechte besonders ersichtlich, da die Integrationskraft der nationalen Parlamente alleine nicht die entscheidenden legitimationsvermittelnden Weichen für das intergouvernementale Handeln in europäischen Verantwortungszusammenhängen stellen kann (Hölscheidt EuR Beiheft 2/2013, 61 (63 f.); Uerpmann-Wittzack EuR Beiheft 2/2013, 49 (55 ff.); Schmahl DÖV 2014, 501 (506 ff.)). Entsprechendes gilt für den Abschluss von gemischten Außenhandelsabkommen der Union und ihrer Mitgliedstaaten mit Drittstaaten, bei dem vor allem dem EP gem. Art. 218 VI UAbs. 2 AEUV eine besondere demokratische Legitimationskraft für den europarechtlichen Teil des Abkommens zuteilwird (Weiß EuZW 2016, 286 (289)).
U. a. deshalb ist die vom BVerfG getroffene Feststellung der Entbehrlichkeit einer Sperrklausel bei den Europa-Wahlen (BVerfGE 135, 259 (293 ff.); zuvor bereits BVerfGE 129, 300 (335 ff.); aA noch BVerfGE 51, 222 (233)) problematisch, zumal daraus Funktionsbeeinträchtigungen des EP im institutionellen Zusammenspiel mit Kommission und Rat erwachsen können (zutr. abw. Meinungen in BVerfGE 129, 300 (346 ff.); 135, 259 (304)). Auf der Grundlage von Art. 223 I AEUV hat der Rat mit Beschluss von 2018 ([EU, Euratom] 2018/994 v. 13.7.2018) den Prozess zur Änderung des Direktwahlakts eingeleitet. Nach Art. 3 II des neu zu fassenden Direktwahlakts werden die Mitgliedstaaten, in denen eine Listenwahl stattfindet und denen im EP mehr als 35 Sitze zustehen, zur Einführung einer Sperrklausel von mind. 2 % und höchstens 5 % verpflichtet. Das deutsche Zustimmungsgesetz zur Ratifikation wurde im Sommer 2023 von BT und BR mit verfassungsändernder Mehrheit gem. Art. 23 I 3 iVm Art. 79 II verabschiedet, harrte aber wegen eines eingeleiteten Organstreitverfahrens und einer Verfassungsbeschwerde noch der Ausfertigung durch den BPräs (näher Sauer EuZW 2023, 792 (793 ff.); Schroeder EuR 2023, 517 (521 ff.)). Nachdem das BVerfG mit Beschluss v. 6.2.2024 die Anträge verworfen hat (BVerfG NVwZ 2024, 725), steht einer Ausfertigung aber nichts mehr im Wege. Sobald die Ratifikation des Ratsbeschlusses durch alle Mitgliedstaaten erfolgt ist, muss § 2 VII EuWG entspr. geändert und eine Sperrklausel von mind. 2 % erneut eingeführt werden (Austermann/Schmahl AbgeordnetenR/Schmahl, § 1 Rn. 71). Eine solche Modifikation würde nicht an den früheren Entscheidungen des BVerfG zur Entbehrlichkeit einer Sperrklausel scheitern, da diese auf nationalen, nicht aber auf unionsrechtlichen Vorgaben beruhen (vgl. BVerfGE 129, 300 (317); 135, 259 (282)) und damit keine Sperrwirkung in Bezug auf die Mitwirkung des BT zur Einführung einer EU-weiten Mindestsperrklausel infolge einer Änderung des Direktwahlakts entfalten (Heinig DVBl 2016, 1141 (1144 ff.)). Die Einführung der unionsrechtlich geforderten 2 %-Mindesthürde ist außerdem mit den Vorgaben des GG, insbes. mit der Aufrechterhaltung der Verfassungsidentität (Rn. 25, 33), vereinbar (so bereits Boehl ZG 34 [2019], 234 (242 f.); Haratsch EuGRZ 2019, 177 (184 f.); jüngst auch BVerfG NVwZ 2024, 725 (Rn. 103 ff.)). Mit Entschließung v. 3.5.2022 (P9_TA(2022)0129) hat das EP einen weiteren Vorschlag zur Änderung des Wahlrechtsaktes vorgelegt, der u. a. die Erhöhung der Sperrklausel auf mind. 3,5 % vorsieht, was sowohl europa- als auch verfassungsrechtlich ebenfalls unbedenklich wäre. Die in der Entschließung ebenfalls vorgesehene Einführung paritätischer Listen löst indes Spannungen mit Art. 38 I und dem Demokratieprinzip nach Art. 20 II 1 aus (vgl. BVerfGE 156, 224 (243 ff.); Schmahl ZG 38 [2023], 223 (232 ff.)).
Solange die europäische Zuständigkeitsordnung nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 I 1 EUV) in kooperativ ausgestalteten Entscheidungsverfahren unter Wahrung der staatlichen Integrationsverantwortung besteht und solange eine Balance der Unionskompetenzen und der staatlichen Zuständigkeiten erhalten bleibt, muss die Demokratie der EU nicht staatsanalog ausgestaltet sein (BVerfGE 123, 267 (368 f., 371); BVerfG NVwZ 2024, 725 (Rn. 106)). Entscheidend ist allein die Erlangung eines hinreichend effektiven Legitimationsniveaus (BVerfGE 89, 155 (182); 123, 267 (370); 151, 202 (291); Dreier/Wollenschläger, Art. 23 Rn. 66). Dieses wird in zunehmendem Maße auch für die europarechtlich determinierte Unabhängigkeit nationaler Verwaltungseinrichtungen (Ludwigs DVBl 2023, 577 (582 ff.); Kreuter-Kirchhof NVwZ 2021, 589 (590 ff.)), unmittelbarer Unionsverwaltung zB durch die EZB (BVerfGE 151, 202 (289 ff.)) oder europäischer Agenturen (Kahl/Ludwigs HdB-VerwR II/Schmahl § 43 Rn. 59) relevant. Beschränkungen der demokratischen Legitimation sind in gewisser Weise – etwa durch eine gerichtliche Kontrolle oder Kontrollrechte des Parlaments – kompensierbar, bedürfen aber generell einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung (BVerfGE 151, 202 (291 f.)). Die Anforderungen, die Art. 23 I 1 an die demokratische Ausgestaltung der europäischen Entscheidungsverfahren stellt, können ggf. in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren über Art. 38 I 1 eingefordert werden (BVerfGE 123, 267 (351); 129, 124 (168 f.); 132, 195 (238); 135, 317 (386, 399); 151, 202 (287); 164, 193 (273); Rn. 29).
b) Rechtsstaat
Unter rechtsstaatlichen Grundsätzen iSv Art. 23 I 1 sind unter Zugrundelegung verfassungsrechtlicher Maßstäbe Prinzipien gemeineuropäischer Rechtsstaatlichkeit gemeint, wie sie auch in Art. 2 EUV ihren Niederschlag finden (Rn. 4). Die europäischen Rechtsstaatlichkeitsprinzipien sind vom EuGH verschiedentlich (insbes. Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, Rechtssicherheit, Verhältnismäßigkeit, effektiver Rechtsschutz, „institutionelles Gleichgewicht“ und richterliche Unabhängigkeit) entwickelt und konkretisiert worden (Sachs/Streinz Art. 23 Rn. 27; Schulze/Janssen/Kadelbach EuropaR-HdB/Schmahl, § 6 Rn. 32 ff.; Harbarth DVBl 2023, 1177 ff.). Die rechtsstaatlichen Anforderungen, die Art. 23 I 1 an die EU stellt, werfen daher keine grds. Probleme auf (MKS/Classen Art. 23 Rn. 32, 34; SHH/Hillgruber Art. 23 Rn. 17). In Einzelfällen kann jedoch die über die begrenzten Einzelkompetenzen hinausgehende Rechtsfortbildung, die der EuGH gelegentlich betreibt oder duldet, zu rechtsstaatlichen Bedenken führen (BVerfGE 89, 115 (209 f.); 154, 17 (90)). Die vom BVerfG wohl auch deshalb entwickelte Ultra-vires-Kontrolle (Rn. 29) soll nach Auffassung des Gerichts das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 III schützen (BVerfGE 142, 123 (202); 164, 193 (283)). Allerdings hat das BVerfG über lange Zeit keinen Fall eines derart „ausbrechenden Rechtsaktes“ festgestellt (vgl. BVerfGE 126, 286 (307)). Auch in Bezug auf die zur Euro-Rettung getroffenen Maßnahmen sah es nach anfänglichen Zweifeln (vgl. BVerfGE 134, 366) im OMT-Beschluss (BVerfGE 142, 123 (227 ff.)) keinen Ultra-vires-Akt. Erstmalig aktivierte es den Ultra-vires-Vorbehalt allerdings im – umstrittenen – PSPP-Urteil und stellte insbes. eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsprinzips wegen zu geringer Begründungstiefe fest (BVerfGE 154, 17 (94 ff.); Rn. 31).
c) Sozialstaat
Gemeineuropäische sozialstaatliche Standards sind – anders als der prinzipielle sozialstaatliche Auftrag der EU (DHS/Scholz Art. 23 Rn. 79) – kaum feststellbar. Da sich aber auch auf der nationalen Ebene aus dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 IGG verfassungsunmittelbare Pflichten des Staates nur iVm den Grundrechten herleiten lassen (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 20 Rn. 153 ff.), genügt die EU mit den Bestimmungen der Art. 151 ff., 162 ff. und Art. 174 ff. AEUV sowie mit Art. 27 ff. GRCh den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine begrenzte sozialpolitische Verantwortung (MKS/Classen Art. 23 Rn. 35; Dreier/Wollenschläger Art. 23 Rn. 75). Im Laufe der Zeit ist die soziale Dimension der EU immer weiter ausgebaut worden (OCN EuropaR, § 29 Rn. 4).
d) Föderative Grundsätze
Eine Bindung der Union an föderative Grundsätze lässt sich dem Wortlaut der Gründungsverträge nicht entnehmen; Art. 4 II 1 EUV verpflichtet die Union aber zur Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten (dazu v. Bogdandy/Schill ZaöRV 70 [2010], 701; Kahl/Ludwigs HdB-VerwR II/Ludwigs § 44 Rn. 3 ff.; Breuer, Principled Resistance/Schmahl, 299 (307 ff.). Zudem berücksichtigt die EU die föderativen Strukturen ihrer Mitgliedstaaten in der institutionellen Ordnung, indem etwa Art. 16 II EUV die Vertretung im Rat durch Landesminister ermöglicht (allgemein BK/Schorkopf Art. 23 Rn. 103). Darüber hinaus soll die Bundesrepublik das föderative Element innerhalb der EU stärken (vgl. BT-Drs. 12/3338, 6); dies kann vor allem im Ausschuss der Regionen ( Art. 300, 305 ff. AEUV ) geschehen (Sachs/Streinz Art. 23 Rn. 33 f.; Korioth BayVBl. 2017, 469 (473)). Im Übrigen ist es Deutschland wegen Art. 23 I 3, Art. 79 III untersagt, an einer Entwicklung der Union mitzuwirken, in der die Eigenstaatlichkeit der Länder ein Ende fände (SHH/Hillgruber Art. 23 Rn. 19; Lindner BayVBl. 2014, 645 (647 f.); Rn. 25).
e) Subsidiarität
Das Strukturerfordernis der Subsidiarität soll die Zuständigkeit des Bundes, der Länder und Kommunen schonen (BT-Drs. 12/3896, 17). Der Grundsatz in Art. 23 I 1 knüpft an das Subsidiaritätsprinzip in Art. 5 III EUV an (v. Münch/Kunig/Uerpmann-Wittzack Art. 23 Rn. 45; enger SHH/Hillgruber Art. 23 Rn. 22 f.). Danach darf die europäische Ebene in Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig werden, sofern der Zweck der Maßnahme nicht auf der niedrigeren nationalen Ebene hinreichend erfüllt werden kann. Die EU-Organe verfügen zwar über eine Einschätzungsprärogative (vgl. Art. 5 III UAbs. 2 S. 1 EUV); in der Begründung eines Rechtsaktes müssen sie jedoch gem. Art. 296 AEUV objektiv nachvollziehbar ausführen, weshalb ein Tätigwerden auf Unionsebene erforderlich ist (MKS/Classen Art. 23 Rn. 41). Gem. Art. 5 III UAbs. 2 S. 2, Art. 12 lit. b EUV achten – neben den Mitgliedstaaten – nunmehr zudem die nationalen Parlamente (einschließlich der „Kammern“ und der Länderparlamente) auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips. Das SubsProt sieht sowohl eine ex ante-Überwachung (Subsidiaritätsrüge) als auch eine ex post-Kontrolle (Subsidiaritätsklage) vor (Shirvani JZ 2010, 753; Bickenbach EuR 2013, 523). Ob den nationalen Parlamenten ein eigenes Klagerecht vor dem EuGH zusteht, beurteilt sich nach der innerstaatlichen Rechtslage (vgl. Art. 8 SubsProt). Das Klagerecht von BT und BR wurde mit der Einfügung von Art. 23 Ia geschaffen (Rn. 45, 47).
f) Grundrechtsschutz
Schließlich verlangt Art. 23 I 1 von der EU einen Grundrechtsschutz, der dem des GG im Wesentlichen vergleichbar ist. Mit dieser Regelung ist die „Solange II“-Rspr. des BVerfG (BVerfGE 73, 339 (374 f.); Rn. 35) verfassungsrechtlich festgeschrieben worden (Sachs/Streinz Art. 23 Rn. 41; Hömig/Wolff/Wolff Art. 23 Rn. 9). Dort hatte das Gericht den Grundrechtsschutz auf der (damaligen) EG-Ebene als dem deutschen gleichwertig angesehen und mit Rücksicht darauf seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht zurückgenommen. Die Kodifikation der „Solange II“-Judikatur hat zur Folge, dass für den Zeitpunkt des Inkrafttretens von Art. 23 ein dem GG im Wesentlichen vergleichbarer Grundrechtsschutz unwiderleglich, dessen Fortbestand indes nur widerleglich zu vermuten ist (SHH/Hillgruber Art. 23 Rn. 24). Folgerichtig hat das BVerfG die Wiederaufnahme seiner Prüfungstätigkeit mit Blick auf geltend gemachte Grundrechtsverletzungen des GG durch auf sekundäres Unionsrecht gestützte nationale Umsetzungsakte davon abhängig gemacht, dass dargelegt wird, die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rspr. des EuGH sei generell unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken (BVerfGE 102, 147 (163 ff.); 123, 267 (353 f.); vgl. auch BVerfGE 126, 286 (307); 129, 78 (90); 129, 186 (199); im Prinzip auch BVerfGE 152, 216 (233 ff.); 156, 182 (197); näher Rn. 37, 40). Hingegen nimmt die Verfassungsidentitätskontrolle zur Durchsetzung des grundrechtlichen Menschenwürdekerns an dem generalisierten „Solange II“-Vorbehalt nicht teil (Rn. 33).
Der Grundrechtsschutz auf EU-Ebene wird materiell-rechtlich durch Art. 6 III EUV und die GRCh gesichert. Die Unionsgrundrechte wurden vom EuGH schon früh als allg. Rechtsgrundsätze entwickelt (stRspr seit EuGH Slg. 1960, 419; 1974, 491) und sind ungeschriebener Bestandteil des primären Unionsrechts. Sie speisen sich aus den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und aus den von den Mitgliedstaaten übernommenen vertraglichen Menschenrechtsverpflichtungen, etwa den UN-Menschenrechtspakten sowie – vor allem – aus der EMRK. An den Garantien der EMRK richtet sich der EuGH umfänglich aus (Bsp.: EuGH Slg. 2010, I-8965 Rn. 53; Slg. 2011, I-11315 Rn. 70); dies muss er auch, da die Konvention einen menschenrechtlichen Mindeststandard (Art. 53 EMRK) enthält, der keine Abschwächung durch die Unionsorgane erfahren darf (Schmahl EuR Beiheft 1/2008, 7 (24 f.)). Auch gem. Art. 52 III GRCh darf der durch die GRCh garantierte Schutz nicht geringer sein als der entsprechende Schutz nach der EMRK (str., vgl. Spiekermann, Die Folgen des Beitritts der EU zur EMRK, 2013, 142 ff. mwN). Art. 6 II EUV sieht iVm Art. 218 AEUV konsequenterweise einen Beitritt der Union zur EMRK vor (eingehend HGRe VI/1/E. Klein § 267 Rn. 65 ff.). Obgleich der 2013 fertiggestellte Entwurf eines Beitrittsabkommens (dazu Polakiewicz EuGRZ 2013, 472 (474 ff.)) den Unionsorganen und insbes. dem EuGH ein Vorabbefassungs- und Stellungnahmerecht in Fällen vor dem EGMR, die das Unionsrecht betreffen, garantierte, hat der EuGH verschiedene Regelungen des Entwurfs mit Verweis auf das „Wesen der Union“ und die „Autonomie des Unionsrechts“ für unionsrechtswidrig gehalten (vgl. EuGH Gutachten 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454 Rn. 179 ff.; krit. Breuer EuR 2015, 330; Tomuschat EuGRZ 2015, 133; diff. Schmahl JZ 2016, 921 (922 ff.)). Nach einer mehrjährigen Reflexionsphase sind inzwischen die Verhandlungen zu einem Beitritt der Union zur EMRK wieder aufgenommen worden (näher Meisel ZöR 78 [2023], 203 (212 ff.)). Die in Nizza verabschiedete GRCh v. 7.12.2000 (ABl. 2000 C 364, 1) war zunächst eine feierliche, aber rechtlich unverbindliche Absichtserklärung. Sie wurde vom EuGH als ergänzende Erkenntnisquelle zur Feststellung des EU-Grundrechtsschutzes herangezogen (zB EuGH Slg. 2006, I-5769 Rn. 52 ff.). Mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon hat die GRCh über den Verweis in Art. 6 I EUV erstmals Rechtsverbindlichkeit erlangt. Sie ist integraler Bestandteil des Primärrechts der EU und tritt neben die ungeschriebenen Unionsgrundrechte (Stern/Sodan/Möstl/Schmahl § 62 Rn. 24). Zur geltenden Sonderregelung für Polen vgl. Biernat FS Müller-Graff 2015, 1350 (1354 ff.)).
Die Unionsgrundrechte binden primär die von den EU-Organen ausgeübte Hoheitsgewalt. Dies gilt sogar dann, wenn die Unionsorgane im Wege der Organleihe im Zusammenhang mit einem formal neben dem Unionsrecht stehenden völkerrechtlichen Vertrag tätig werden (EuGH ECLI:EU:C:2016:701 Rn. 67 – Ledra Advertising), ohne dass sie dabei mit eigenständigen Entscheidungsbefugnissen betraut sein müssen (EuGH ECLI:EU:C:2016:701 Rn. 53; vgl. auch EuGH ECLI:EU:C:2012:756 Rn. 161 – Pringle). In zweiter Linie dienen die Unionsgrundrechte der rechtlichen Einhegung der mitgliedstaatlichen Gewalt (EuGH Slg. 1989, 3609; vgl. Art. 51 I GRCh). Sofern sie Unionsrecht unmittelbar durch zwingende Maßnahmen vollziehen, ist die Hoheitsgewalt der Mitgliedstaaten unionsgrundrechtlich gebunden, da sie dann als „verlängerter Arm“ der EU anzusehen ist (EuGH Slg. 1989, 2609 Rn. 19; Funke, Umsetzungsrecht, 2010, 169 ff. mwN). Auch bei einem nur mittelbaren Vollzug von Unionsrecht wirkt nach Ansicht des EuGH die Union als Miturheberin der mitgliedstaatlichen Rechtshandlung (EuGH Slg. 2003, I-4989; 2006, I-5769 Rn. 104 f.). Selbst auf Vorbehaltssituationen, die den Mitgliedstaat zur Berufung auf nationale Beschränkungen im Rahmen der Grundfreiheiten ermächtigen, entfalten die Unionsgrundrechte Ausstrahlungswirkung (EuGH Slg. 1991, I-2925; Slg. 2014, I-429 Rn. 36). Nach zwischenzeitlicher Judikatur des EuGH sollten sogar keine Fallgestaltungen denkbar sein, die vom Anwendungsbereich des Unionsrechts erfasst würden, ohne dass die Unionsgrundrechte anwendbar seien (EuGH ECLI:EU:C:2013:105 Rn. 19 – Åkerberg Fransson). Dieser extensiven Auslegung von Art. 51 I GRCh ist das BVerfG in seiner Antiterrordatei-Entscheidung in einem scharf formulierten obiter dictum allerdings entgegengetreten (BVerfGE 133, 277 (313 ff.)). Wohl auch deshalb hat der EuGH in der Nachlese zur Åkerberg Fransson-Entscheidung seinen Ansatz präzisiert, indem er seither einen „hinreichenden Zusammenhang“ mit dem Unionsrecht fordert (EuGH ECLI:EU:C:2014:126 Rn. 24 – Siragusa; vgl. auch EuGH ECLI:EU:C:2020:441 Rn. 25 ff. – TJ/Balga Srl). Dessen ungeachtet hat das BVerfG 2019 in den Entscheidungen „Recht auf Vergessen I“ (BVerfGE 152, 152) und „Recht auf Vergessen II“ (BVerfGE 152, 216) sein Verhältnis zum EuGH im Grundrechtsbereich grundlegend neu justiert. Es rückt von der bisherigen strikten Trennung der Grundrechtsräume ab und sieht sich selbst grds. dazu befugt, die Unionsgrundrechte auf nationale Vollzugsakte sowohl im Spielraumbereich als auch im vollständig unionsrechtlich determinierten Bereich eigenständig auszulegen und anzuwenden (näher Rn. 37, 40).
Die „Recht auf Vergessen“-Entscheidungen des BVerfG werfen Spannungslagen im europäischen Gerichtsverbund auf. Denn auf der Grundlage des Unionsrechts wird die Beachtung der Unionsgrundrechte zum einen durch die Unionsgerichtsbarkeit überprüft und sanktioniert (zB Art. 263, Art. 267 AEUV; Art. 19 I 2 EUV). Zum anderen kontrollieren die Gerichte der Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer allg. Zuständigkeiten die Einhaltung der Unionsgrundrechte, soweit die nationalen Organe EU-Recht ausführen (Rn. 14). Dabei müssen letztinstanzlich judizierende nationale Gerichte entscheidungserhebliche Fragen nach der Auslegung der Unionsgrundrechte dem EuGH vorlegen (Art. 267 III AEUV); das Unterlassen der Vorlage kann einen Verstoß gegen Art. 101 I 2 darstellen (BVerfGE 73, 399 (366); 75, 223 (233 f.); 128, 157 (187); 129, 78 (105)). Abweichend vom Wortlaut des Art. 267 II AEUV trifft die Vorlagepflicht außerdem alle anderen nationalen Gerichte, wenn sie einen EU-Rechtsakt für mit Unionsprimärrecht unvereinbar halten (EuGH Slg. 1987, 4199 Rn. 15; 1991, I-415 Rn. 27). Demnach kommt einerseits dem EuGH nach Art. 267 AEUV, Art. 19 I 2 EUV Letztentscheidungsbefugnis bei der Kontrolle von Unionsrecht und mitgliedstaatlichen Ausführungsakten am Maßstab der Unionsgrundrechte zu. Andererseits sind die Fachgerichte bei grundrechtsrelevanten Entscheidungen nach Maßgabe von Art. 100 I GG ggf. auch zu einer Vorlage an das BVerfG verpflichtet. Angesichts der „Recht auf Vergessen“-Entscheidungen, in denen sich das BVerfG zu einem funktionalen Unionsgericht in Grundrechtsfragen aufschwingt (Wendel JZ 2020, 157 (160, 168)), kann eine gleichzeitige Vorlagepflicht an BVerfG und EuGH zu unterschiedlichen Erkenntnissen führen, die der Einheit des Unionsrechts abträglich sind (Skouris EuR 2023, 225 (226 ff.); ähnlich in Bezug auf Ultra-vires-Konflikte O. Klein DVBl 2023, 779 ff.).
III. Übertragung von Hoheitsrechten
1. Tatbestand und Rechtsfolgen der Integrationsermächtigung
Die Kompetenzübertragungsklausel des Art. 23 I 2 hat den Begriff der Übertragung von Hoheitsrechten von Art. 24 I übernommen (Rn. 1). Daher ist der Begriff in Art. 23 I 2 gleichbedeutend mit demjenigen in Art. 24 I (Sachs/Streinz Art. 23 Rn. 54) und präziser als Einräumung von Hoheitsrechten zu verstehen (Art. 24 Rn. 4 f.). Kennzeichnend ist, dass die EU die Rechtsmacht erhält, für die Rechtsunterworfenen in Deutschland berechtigende und verpflichtende Rechtsakte zu erlassen, die zu ihrer innerstaatlichen Geltung keines weiteren hoheitlichen Umsetzungsaktes durch deutsche Staatsorgane mehr bedürfen (SHH/Hillgruber Art. 23 Rn. 28). Eine Hoheitsrechtsübertragung liegt also nur vor, wenn Maßnahmen mit unmittelbarer Durchgriffswirkung erlassen werden können. Dies soll allerdings sogar bei einer bloß „faktischen Durchgriffswirkung“ gelten (BVerfGE 163, 165 (217 ff.)), und zwar auch dann, wenn eine solche Durchgriffswirkung in völkerrechtlichen Verträgen für eigenständige zwischenstaatliche Organisationen vorgesehen ist, die in einem Ergänzungs- oder besonderen Näheverhältnis zum Integrationsprogramm stehen (Rn. 2, 22, 27). Die politische und wirtschaftliche Bedeutung vermag für sich genommen jedoch noch keine Hoheitsrechtsübertragung zu begründen (offengelassen in BVerfGE 163, 165 (220 f.)). Im weiterhin intergouvernemental ausgerichteten Bereich der GASP werden keine Hoheitsrechte ieS übertragen, auch wenn die sonstigen Vorgaben von Art. 23 insoweit greifen mögen (vgl. BVerfGE 163, 298 (343 ff.); Sachs/Streinz Art. 23 Rn. 58; v. Münch/Kunig/Uerpmann-Wittzack Art. 23 Rn. 12, 115). Ob und ggf. in welchem Ausmaß eine Weiterübertragung von Hoheitsrechten der EU auf andere internationale Institutionen zulässig ist, ist noch nicht geklärt (vgl. BVerfGE 143, 65 (95 ff.); 160, 208 (278)). Das BVerfG sieht eine solche Weiterübertragung mit Blick auf demokratische Legitimation und Verantwortung allerdings grds. kritisch (BVerfGE 160, 208 (280 f.)). Die Einräumung von Befugnissen an die CETA-Gremien stellt aber wohl keine solche Weiterübertragung iSd Art. 23 I 2 dar, soweit und solange diese Gremien kein Recht mit unmittelbarer Durchgriffswirkung setzen können (Rn. 2; in diese Richtung weist auch BVerfGE 163, 165 (220); aA Weiß EuZW 2016, 286 (289 f.); sehr weitgehend Schiffbauer AöR 141 [2016], 551 (583 ff.)). Prinzipiell kann der Bund auch Hoheitsrechte der Länder auf die EU übertragen; anderenfalls wäre Art. 23 VI gegenstandslos (Hömig/Wolff/Wolff Art. 23 Rn. 14; zu den Grenzen Rn. 10, 25).
Wie bei Art. 24 bewirkt auch die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU nach Art. 23 einen Eingriff in die verfassungsrechtlich festgelegte Zuständigkeitsordnung und damit materiell eine Verfassungsänderung (BVerfGE 58, 1 (36); SHH/Hillgruber Art. 23 Rn. 19; diff. MKS/Classen Art. 23 Rn. 14). Die in Art. 23 I 2 niedergelegte Integrationsgewalt ermöglicht eine Öffnung der nationalen Rechtsordnung, so dass der ausschließliche Herrschaftsanspruch der Bundesrepublik Deutschland im Geltungsbereich des GG zurückgenommen und der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit des Unionsrechts (grundlegend EuGH Slg. 1963, 1 – Van Gend & Loos; zu Fortentwicklungen Kokott AöR 148 [2023], 496 ff.) insoweit Raum gelassen wird (BVerfGE 37, 271 (280); 73, 339 (374 f.); Art. 24 Rn. 5). Der den Staat umgebende „Souveränitätspanzer“ (Bleckmann, Souveränitätsverständnis in den EGen, 1980, 57) wird infolge der Übertragung von Hoheitsrechten geöffnet, um das Recht der EU in Deutschland unmittelbar zur Anwendung kommen zu lassen (BVerfGE 37, 271 (277 f.); v. Münch/Kunig/Uerpmann-Wittzack Art. 23 Rn. 67). Im Umfang des Übertragungsakts verliert der deutsche Staat die alleinige Zuständigkeit im nationalen Hoheitsbereich; im Gegenzug erhält er „Mitwirkungsbefugnisse im Verflechtungsbereich“ (Grawert FS Böckenförde 1995, 125 (142); vgl. auch Pernice VVDStRL 60 [2001], 148 (166 f.)).
Art. 23 I 2 enthält auch die Ermächtigung an den Gesetzgeber, durch Billigung einer den Verträgen immanenten Vorrangregel den prinzipiellen Anwendungsvorrang des primären und sekundären Unionsrechts (vgl. EuGH Slg. 1964, 1251 (1269); 1970, 1125 (1135); ferner die Erklärung Nr. 17 zum Lissabonner Vertrag, ABl. 2012, C 326 (346)) vor dem innerstaatlichen Recht jeglicher normhierarchischen Rangstufe anzuordnen (BVerfGE 31, 145 (174); 89, 155 (190); 123, 267 (402); 129, 78 (99 f.); 142, 123 (187); 152, 216 (238); Sachs/Streinz Art. 23 Rn. 60 f.; Skouris EuR 2021, 3 (10 f.)). Dies ist Ausdruck des Prinzips der Europarechtsfreundlichkeit des GG, das in der Präambel des GG und in Art. 23 zum Ausdruck kommt (vgl. BVerfGE 123, 267 (347); 126, 286 (303); 129, 124 (172)). Der europarechtliche Anwendungsvorrang lässt entgegenstehendes mitgliedstaatliches Recht in seinem Geltungsbereich unberührt und drängt es nur in der Anwendung so weit zurück, wie es die Verträge erfordern und nach dem durch das Zustimmungsgesetz erteilten innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehl erlauben (BVerfGE 123, 267 (398); 126, 286 (302)). Allerdings hat das BVerfG bereits im „Maastricht“-Urteil ausgeführt, dass es sich eine Kontrolle darüber vorbehalte, ob die Rechtsakte der (damaligen) EG tatsächlich noch von den jeweiligen innerstaatlichen Zustimmungsgesetzen zu den Gemeinschaftsverträgen gedeckt seien. Würde sich das Sekundärrecht jenseits der konsentierten Grundlagen und damit jenseits des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung (heute: Art. 5 I EUV) bewegen, wären die deutschen Staatsorgane gehindert, diese Rechtsakte anzuwenden (BVerfGE 89, 155 (188, 210)). Diesen Ausführungen liegt die sog. Brückentheorie zugrunde (HStR VII/P. Kirchhof, 1. Aufl. 1992, § 183 Rn. 63 ff.). Das von den Gemeinschaftsorganen erlassene Recht dringt danach über die Brücke des Art. 59 II 1 in die deutsche Rechtsordnung ein und gewinnt dadurch seinen Anwendungsvorrang vor innerstaatlichem Recht. Dort, wo diese Brücke nicht trage, weil es sich um einen „ausbrechenden Rechtsakt“ handele, entfalte das Gemeinschaftsrecht in Deutschland keine Rechtsverbindlichkeit (BVerfGE 89, 155 (187 f.); es handelt sich aber nicht um „Nichtrecht“, vgl. E. Klein FS Streinz, 2023, 219 (230); aA P. Kirchhof NJW 2022, 1049 (1054)). Diese Feststellungen hat das BVerfG im „Lissabon“-Urteil für die „neue“ EU bestätigt (BVerfGE 123, 267 (398 ff.); näher HStR X/P. Kirchhof § 214 Rn. 158 ff.), sich dabei allerdings von der Begrifflichkeit des „ausbrechenden Rechtsakts“ zugunsten des Begriffs des „Ultra-vires-Akts“ gelöst (Rn. 19, 26, 29).
Die Aussage des BVerfG zu den „ausbrechenden Rechtsakten“ steht in einem Spannungsverhältnis zu Art. 19 I 2 EUV, wonach der EuGH mit der Aufgabe betraut ist, verbindlich über Gültigkeit und Anwendbarkeit von EU-Sekundärrechtsakten zu wachen (Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, 113 ff.). Die Übertragung dieser Rechtsprechungsfunktion auf den EuGH nimmt die Möglichkeit einer fehlerhaften Auslegung der vertraglichen Grundlagen durch diesen Gerichtshof in Kauf (E. Klein VVDStRL 50 [1991], 56 (66 f.)). In letzter Konsequenz würden die „Maastricht“- und „Lissabon“-Rspr. des BVerfG (BVerfGE 89, 155 (187 f.); 123, 267 (398 ff.)) die Anwendbarkeit eines Unionsrechtsaktes von der Entscheidung eines einzelnen Mitgliedstaates (bzw. eines einzelnen Verfassungsgerichts, das zudem ebenfalls einem Auslegungsirrtum unterliegen kann) abhängig machen, damit den Anwendungsvorrang praktisch unterlaufen und die Einheit des EU-Rechts gefährden (dazu und zu weiteren Einwänden Stern/Sodan/Möstl/Gundel § 18 Rn. 67 ff.). Daher erstreckt sich die Kontrollbefugnis des BVerfG prinzipiell lediglich darauf, ob die Bundesrepublik Deutschland die verfassungsrechtlichen Grenzen der Übertragung von Hoheitsgewalt auf die EU eingehalten hat (HKP EuropaR, Rn. 138 f.; aA SHH/Hillgruber Art. 23 Rn. 53). Nur in eng begrenzten Ausnahmefällen kommen zudem eine Ultra-vires-Kontrolle, eine Verfassungsidentitätskontrolle und eine Grundrechtskontrolle von Sekundärrecht in Betracht; Rn. 29 ff.
2. Formelle Anforderungen an die Hoheitsrechtsübertragung
Das Übertragungsgesetz nach Art. 23 I 2, das gleichzeitig auch Zustimmungsgesetz gem. Art. 59 II 1 ist (Sachs/Streinz Art. 23 Rn. 63; v. Münch/Kunig/Uerpmann-Wittzack Art. 23 Rn. 75; aA – Art. 23 I 2 als lex specialis – BK/Schorkopf Art. 23 Rn. 121 mwN), muss ein formelles Bundesgesetz sein. Es muss den Bestimmtheitsanforderungen genügen (DHS/Scholz Art. 23 Rn. 68). Anders als Art. 24 fordert Art. 23 I 2 ausdrücklich die Zustimmung des BR. Erfasst werden jede Veränderung der textlichen Grundlagen des europäischen Primärrechts (BVerfGE 123, 267 (355 f.); krit. v. Münch/Kunig/Uerpmann-Wittzack Art. 23 Rn. 77) sowie wohl auch faktische Vertragsänderungen (so jedenfalls BVerfGE 153, 74 (145); widersprüchlich dazu aber BVerfGE 163, 165 (222)). Insgesamt fallen unter Art. 23 I 2 nicht nur Vertragsänderungen im ordentlichen Verfahren nach Art. 48 II-V EUV; vielmehr tragen BT und BR die Integrationsverantwortung auch in Fällen, in denen das EU-Primärrecht ohne förmliches Ratifikationsverfahren abgeändert werden kann, etwa im Wege eines in einem besonderen Ergänzungs- und Näheverhältnis stehenden völkerrechtlichen Vertrags, der eine Vertragsänderung funktional ersetzt oder den Vertrag ergänzt (Rn. 27). Primärrechtliche Änderungen iSv Art. 48 VI EUV bedürfen stets eines Zustimmungsgesetzes gem. Art. 23 I 2. Deshalb war die Einführung des Art. 136 III AEUV nach Maßgabe des Art. 23 I 2 zustimmungsbedürftig, auch wenn dadurch lediglich die Kompetenz der Mitgliedstaaten zur Errichtung eines dauerhaften Stabilitätsmechanismus konstatiert wurde (BVerfGE 132, 195 (250); 135, 317 (407 ff.); vgl. auch EuGH ECLI:EU:C:2012:756, Rn. 73 ff. – Pringle). Mit Art. 136 III AEUV ist der Charakter der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft nicht aufgehoben, aber doch grundlegend geändert worden (BVerfGE 132, 195 (247 f.); 135, 317 (407 ff.)), wenngleich ein Verlust der Haushaltsautonomie des BT damit nicht verbunden ist (BVerfGE 132, 195 (249 f.); 135, 317 (406 ff.)). Auch die vereinfachten Verfahren in Art. 42 II UAbs. 1 EUV, Art. 25 II, 218 VIII UAbs. 2 S. 2, 223 I UAbs. 2, 262 und 311 III AEUV bedürfen eines Zustimmungsgesetzes gem. Art. 23 I 2 (BVerfGE 123, 267 (367, 434)). Der Bezug eines Beschlusses gem. Art. 48 VI EUV zur Zuständigkeitsordnung der EU zwingt dazu, das vereinfachte Änderungsverfahren generell wie eine Übertragung von Hoheitsrechten iSd Art. 23 I 2 zu behandeln (BVerfGE 123, 267 (387)). In der Wahrnehmung der allg. und speziellen Brückenklauseln, die den Übergang von Einstimmigkeits- zu Mehrheitsentscheidungen und vom besonderen zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren ermöglichen, liegt ebenfalls eine nach Art. 23 I 2 zu beurteilende primärrechtliche Änderung der Verträge (BVerfGE 123, 267 (390); 164, 193 (285)). Das auf sechs Monate befristete Ablehnungsrecht der nationalen Parlamente gem. Art. 48 VII UAbs. 3 EUV, Art. 81 III AEUV stellt kein ausreichendes Äquivalent zum Ratifikationsvorbehalt dar (BVerfGE 123, 267 (391, 435)). Wegen der Unbestimmtheit der Flexibilitätsklausel des Art. 352 AEUV soll deren Inanspruchnahme ebenfalls die Ratifikation durch BT und BR gem. Art. 23 I 2 voraussetzen (BVerfGE 123, 267 (395, 436); krit. Terhechte EuZW 2009, 724 (727)). Entspr. dürfte für die Befugnis in Art. 218 IX AEUV gelten, wenn von der EU völkerrechtliche Vertragsgremien mit weitreichenden Entscheidungsbefugnissen ausgestattet werden (Weiß EuZW 2016, 286 (289)), was in Bezug auf die CETA-Gremien allerdings wohl nicht der Fall ist (Rn. 2, 16). Die Ausübung von Kompetenzerweiterungsklauseln im Bereich der Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (Art. 83 I UAbs. 3, Art. 86 IV AEUV) wird von Art. 23 I 2 ebenfalls erfasst (BVerfGE 123, 267 (436)). Gerade in Feldern der dynamisch angelegten Unionspolitiken hat nach Ansicht des BVerfG der deutsche Gesetzgeber die Integrationsverantwortung im Wege einer ausdrücklichen gesetzlichen Zustimmung zu tragen (BVerfGE 123, 267 (353); 132, 195 (238 f.); 135, 317 (399)). Ein Schweigen des Parlaments reicht nicht aus, um die gebotene Integrationsverantwortung wahrzunehmen (BVerfGE 123, 267 (435)). Ein Gesetz ist nur entbehrlich, wenn sich spezielle Brückenklauseln auf Sachbereiche beschränken, die durch das EU-Recht bereits hinreichend bestimmt sind (zB Art. 31 III EUV, Art. 153 II UAbs. 4, 192 II UAbs. 2, 312 II UAbs. 2, 333 I, II AEUV). In diesem Fall müssen allerdings BT und ggf. BR ihre Integrationsverantwortung auf andere Weise wahrnehmen (BVerfGE 123, 267 (391 f.)), etwa durch einfachen Beschluss oder eine kontinuierliche Beobachtung (Rn. 26).
Die zunächst im sog. AusweitungsG (BT-Drs. 16/8489) vorgesehenen Beteiligungsrechte von BT und BR in Rechtssetzungs- und Vertragsänderungsverfahren der EU sind vom BVerfG im „Lissabon“-Urteil für unzureichend befunden worden (BVerfGE 123, 267 (432 ff.)). Die Hinterlegung der (deutschen) Ratifikationsurkunde zum Vertrag von Lissabon wurde an das Inkrafttreten einer geeigneten neuen gesetzlichen Ausgestaltung dieser Rechte geknüpft (krit. Schröder DÖV 2010, 303 (311 ff.); Lindner BayVBl. 2010, 193 (200)). Durch das reformierte AusweitungsG v. 22.9.2009 (sog. BegleitG) wurden die Beteiligungsrechte des Parlaments in Anlehnung an die Forderungen des BVerfG gestärkt, insbes. durch Einführung des Integrationsverantwortungsgesetzes [IntVG] (BGBl. 2009 I 3022, geänd. BGBl. 2009 I 3822). Das IntVG schreibt für das allgemeine und die besonderen vereinfachten Vertragsänderungsverfahren (§§ 2 f. IntVG), für die Brückenklauseln des Art. 48 VII EUV und Art. 81 III AEUV (§ 4 IntVG), für die Kompetenzerweiterungsklauseln (§ 7 IntVG) sowie für die Flexibilitätsklausel des Art. 352 AEUV (§ 8 IntVG) jeweils ein Gesetz iSd Art. 23 I 2 vor. Bei einem Beschluss über die gemeinsame Verteidigung nach Art. 42 II UAbs. 1 S. 2 EUV erfolgt eine antizipierte Mitwirkung durch einfachen Beschluss und eine nachträgliche Zustimmung durch Gesetz gem. Art. 23 I 2 (§ 3 III IntVG). Diese Verdoppelung der Mitwirkungsrechte geht über das vom BVerfG Geforderte hinaus (Hahn EuZW 2009, 758 (761)). Das Ablehnungsrecht des BT und ggf. des BR bei den Brückenklauseln des Art. 48 VII EUV und Art. 81 III UAbs. 3 AEUV bleibt von dem Erfordernis eines Zustimmungsgesetzes nach Art. 23 I 2 unberührt und tritt hinzu (§ 10 IntVG). BT und BR können vom Ablehnungsrecht gesondert Gebrauch machen. Auch dies ist eine Vorgabe des BVerfG, an der der erste Entwurf des AusweitungsG gescheitert war (vgl. BVerfGE 123, 267 (435)). Die Zustimmung im Rat oder Europäischen Rat bei den übrigen Brückenklauseln wird von einem Beschluss des BT und ggf. des BR abhängig gemacht (§§ 5 f. IntVG). Die BReg muss schließlich im Rahmen des Notbremseverfahrens nach Art. 48 II, Art. 82 III und Art. 83 III AEUV auf Weisung des BT und ggf. des BR handeln (§ 9 IntVG). Dass BT und BR im Sommer 2013 durch Zustimmungsgesetz analog Art. 23 I 2 den deutschen Vertreter im Rat ermächtigt haben, einer auf Art. 127 VI AEUV gestützten VO zur weitgehenden Verlagerung der Bankenaufsicht auf die EZB (VO Nr. 1024/2013, ABl. 2013 L 287, 63) zuzustimmen (vgl. BGBl. 2013 II 1050), ist hingegen nicht unproblematisch, da weder das „Lissabon“-Urteil noch das IntVG eine Bezugnahme auf Art. 127 VI AEUV enthält (Schmahl DÖV 2014, 501 (504)). Ohnehin kann selbst ein Zustimmungsgesetz der deutschen Legislativorgane einen evtl. vorliegenden Kompetenzmangel im europäischen Rechtsetzungsverfahren nicht heilen (Mayer/Kollmeyer DVBl 2013, 1158 (1159 f.); Wernsmann/Sandberg DÖV 2014, 49 (55 f.)).
Für jeden kompetenzerweiternden Übertragungsakt an die EU setzt Art. 23 I 3 GG die verfassungsändernde Mehrheit des Art. 79 II voraus, da der Übertragungsakt idR zu einer materiellen Verfassungsänderung führt (Rn. 17). Dies gilt nicht nur für Änderungsverträge (diff. Sachs/Streinz Art. 23 Rn. 72), sondern auch für Beitrittsverträge (SHH/Hillgruber Art. 23 Rn. 38; aA v. Münch/Kunig/Uerpmann-Wittzack Art. 23 Rn. 78). Auch sonstige Modifikationen des europäischen Primärrechts (Rn. 21, 27) dürften regelmäßig an Art. 79 II, III gebunden sein, sofern sie zu einer substanziellen materiell-rechtlichen Ausweitung führen; lediglich unerhebliche, die „Geschäftsgrundlage“ der Verträge nicht berührende Änderungen, dh Hoheitsrechtsübertragungen, die bloß vertragsausfüllend oder vertragsimmanent sind, richten sich allein nach Art. 23 I 2 (DHS/Scholz Art. 23 Rn. 118 f.; Jarass/Pieroth/Jarass Art. 23 Rn. 33). Das IntVG lässt freilich offen, ob in allen Fällen der besonderen Integrationsklauseln, die eines Gesetzes nach Art. 23 I 2 bedürfen, auch Art. 23 I 3 einschlägig ist (Daiber DÖV 2010, 293 (294)). Sowohl die Einführung von Art. 136 III AEUV als auch die Begründung von ESM-Vertrag und Fiskalpakt (Rn. 2) sind in zutr. Weise jeweils mit den verfassungsändernden Mehrheiten des Art. 23 I 3 beschlossen worden (näher Nees, Hybrides Unionsrecht, 2020, 469 ff. mwN). Auch das Übereinkommen über ein Einheitliches Patentgericht (EPGÜ) bedurfte der qualifizierten Mehrheit nach Art. 23 I 3 iVm Art. 79 II (BVerfGE 153, 74 (147 f.); vgl. auch BVerfGE 160, 208 (212 f.)); krit. Giegerich EuZW 2020, 560 (562 ff.)). Die teleologische Ausweitung des Anwendungsbereiches von Art. 23 I 3 bei Maßnahmen der „Euro-Rettung“ und bei der Schaffung eines einheitlichen Europäischen Patentgerichts rechtfertigt sich als prozedurale Kehrseite der geringeren Formstrenge bei Abschluss völkerrechtlicher Ersatzverträge im Vergleich zu den Änderungsverfahren nach Art. 48 EUV (BK/Schorkopf Art. 23 Rn. 137; krit. Ley AöR 146 [2021], 299 (329)). Für die Änderung des ESM-Vertrags (ESM-ÄndÜG), bei der keine Hoheitsrechtsübertragung dargetan wurde, genügte indes die einfache Mehrheit (BVerfGE 163, 165 (224 ff.); Wehmhörner DÖV 2023, 462 (467 f.)).
Anderes gilt hingegen für Austrittsverträge nach Art. 50 EUV (zu Motivation und Entwicklung der Austrittsklausel des Art. 50 EUV Thiele EuR 2016, 281 (288 ff.)). Während ein potenzieller Austritt der Bundesrepublik Deutschland aus der Union den auf die Wahrung des Demokratieprinzips ausgerichteten Vorgaben des Art. 23 I 3 unterfällt (Rn. 3), werden Verträge, die den Austritt eines anderen Mitgliedstaats regeln, gem. Art. 50 II EUV – nach Zustimmung des EP – lediglich vom Rat mit qualifizierter Mehrheit im Namen der Union mit dem austrittswilligen Staat geschlossen. Die anderen Mitgliedstaaten sind als solche am Verfahren (dazu Simon JZ 2017, 481 (483 ff.)) nicht beteiligt (Streinz/Streinz Art. 50 Rn. 6), da der Austritt eines Mitglieds formell nur zu einer räumlichen Kompetenzminderung der EU führt und keine Änderung des Primärrechts bewirkt, solange und soweit keine materiell-rechtlichen Assoziierungsschritte beschlossen werden (Michl NVwZ 2016, 1365 (1367)). Außerdem ist der Abschluss eines Abkommens für den Austritt noch nicht einmal konstitutiv (vgl. Art. 50 III EUV), so dass das mit der britischen Austrittserklärung vom 29.3.2017 eingeleitete „Brexit“-Verfahren nach Ablauf der Zweijahresfrist sogar ungeregelt hätte enden können (Skouris EuZW 2016, 806 (808); Hofmeister/Olmos Guipponi DÖV 2016, 1013 (1016 f.)). Nach mehrfachem Aufschub (dazu Ludwigs/Schmahl, Die EU zwischen Niedergang und Neugründung/Ziegler, 2020, 127 ff.) ist das Austrittsabkommen am 31.1.2020 um 14 Uhr (MEZ) in Kraft getreten. Es sah allerdings einen Übergangszeitraum bis zum 31.12.2020 vor, in dem das Unionsrecht im Vereinigten Königreich grds. anwendbar blieb (Terhechte NJW 2020, 425 ff.). Von der ihm vom EuGH eröffneten Möglichkeit der einseitigen Rücknahme des Austrittsantrags (EuGH ECLI:EU:C:2018:999 Rn. 59 ff. – Wightman) hat das Vereinigte Königreich keinen Gebrauch gemacht. Ob sich die Regelung des Art. 50 EUV, die Unilateralität und staatliche Souveränität deutlich höher gewichtet als die Wahrung des erreichten Integrationsstands (Kotzur/Waßmuth JZ 2017, 489 (491)), mittelfristig als sachgerecht erweist, kann mit Blick auf die nach dem „Brexit“ eingetretene Schmälerung der Rechtspositionen aller Unionsbürger – insbes. bzgl. der Personenfreizügigkeit (Tewocht ZAR 2017, 245 ff.; Herrmann JZ 2019, 356 (359 ff.)) – wohl bezweifelt werden.
3. Materielle Schranken der Hoheitsrechtsübertragung
Art. 23 I 2 berechtigt nur zur völkervertraglichen Übertragung hinreichend bestimmter Hoheitsrechte (BVerfGE 89, 155 (187); 123, 267 (347 ff.)); die Norm stellt keine Generalermächtigung dar. Zulässig ist nur die Erteilung inhaltlich begrenzter Einzelermächtigungen, bei denen Umfang und Ausmaß der Verlagerung der Ausübung von Hoheitsrechten voraussehbar umschrieben feststehen und eine Inanspruchnahme nicht benannter Aufgaben und Befugnisse durch die EU ausgeschlossen ist (BVerfGE 89, 155 (172, 182, 187 f.)); 123, 267 (349 ff.); 154, 17 (86 f.)). Da Art. 23 I 2 nur die Übertragung von einzelnen Hoheitsrechten, nicht aber der gesamten deutschen Staatsgewalt auf die EU erlaubt, schließt er eine Selbstaufgabe der Bundesrepublik Deutschland als souveräner Staat zugunsten eines selbst Souveränität beanspruchenden europäischen Zentralstaates aus (BVerfGE 123, 267 (347 f.); HStR II/Hillgruber § 32 Rn. 108). Keine unzulässige Entstaatlichung stellt es indes dar, wenn sich die Bundesrepublik an einem europäischen Bundesstaat beteiligt, solange die Bundesrepublik ihren (föderalen) Staatscharakter behält (v. Münch/Kunig/Uerpmann-Wittzack Art. 23 Rn. 105; aA BK/Schorkopf Art. 23 Rn. 146; Dreier/Wollenschläger Art. 23 Rn. 90). Allerdings ist eine derart umfassende Kompetenzverschiebung nicht mehr von Art. 23 I 2 gedeckt und macht einen Rückgriff auf Art. 146 erforderlich (BVerfGE 123, 267 (348); Art. 146 Rn. 5). Beim Europäischen Haftbefehl wird keine für die Staatlichkeit essenzielle Aufgabe preisgegeben (BVerfGE 113, 273 (298 f.); vgl. aber auch Rn. 33).
Art. 23 I 3 erlaubt zwar eine Durchbrechung der deutschen Verfassung durch die vertraglichen Grundlagen der EU, da das Textänderungsgebot des Art. 79 I 1 insoweit nicht gilt (BVerfGE 129, 78 (100); SHH/Hillgruber Art. 23 Rn. 42). Art. 23 I 3 ermächtigt jedoch nicht dazu, die Identität der geltenden Verfassungsordnung der Bundesrepublik aufzugeben (BVerfGE 37, 271 (279 f.); 73, 339 (376) – beide zu Art. 24). Die Integrationsermächtigung ist nach der Verfassungsidentitätsklausel des Art. 23 I 3 ausdrücklich an die Grenzen des Art. 79 III gebunden (vgl. bereits BVerfGE 89, 115 (179); 123, 267 (340, 354); 129, 124 (177); explizit sodann BVerfGE 134, 366 (384 ff.); 140, 317 (336 f.); 143, 65 (95); 151, 202 (287 ff.); 154, 17 (86 ff.); 163, 165 (212)). Das GG untersagt sowohl die Übertragung der sog. Kompetenz-Kompetenz als auch die Erteilung von Blankettermächtigungen zur Ausübung öffentlicher Gewalt (BVerfGE 123, 267 (349 f.); 132, 195 (238 f.); 135, 317 (399); 154, 17 (86)). Geschähe die Übertragung dennoch, wäre das Zustimmungsgesetz nichtig, soweit es die in Art. 79 III für unantastbar erklärten Grundsätze missachtet (E. Klein FS Streinz 2023, 219 (230)). Ist davon zugleich ein EU-Rechtsakt betroffen, wäre allerdings zuvor eine Vorlage an den EuGH geboten (BVerfGE 140, 317 (339)). Anders als die von Art. 23 I 1 Hs. 2 in den Blick genommenen Strukturprinzipien der Union, denen ein gemeineuropäisches Begriffsverständnis zugrunde liegt (Rn. 4), zielen die sich aus Art. 23 I 3 iVm Art. 79 III ergebenden Integrationsschranken auf die grundlegende Staatsstruktur und Verfassungsidentität der Bundesrepublik Deutschland, die auch nach erfolgten Hoheitsrechtsübertragungen auf die EU erhalten bleiben müssen (BVerfGE 123, 267 (400); Sachs/Streinz Art. 23 Rn. 93; MKS/Classen Art. 23 Rn. 17; aA wohl Dietz AöR 142 [2017], 78 (104 ff.)). Folgerichtig fordert das BVerfG, dass dem BT Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben müssen, selbst wenn demokratische Legitimation und Kompetenz des EP im Zuge des Integrationsprozesses verbessert werden (BVerfGE 89, 155 (186); 123, 267 (341, 356 ff.)). Es kommt dabei nicht auf quantitative Relationen an, sondern darauf, dass der Bundesrepublik für zentrale Regelungs- und Lebensbereiche substantielle innerstaatliche Gestaltungsmöglichkeiten verbleiben (BVerfGE 123, 267 (406); 129, 124 (168 f.); 132, 195 (239)). Zu den wesentlichen Bereichen demokratischer Gestaltung gehören nach der (eher extensiven) Auffassung des BVerfG im „Lissabon“-Urteil u. a. die Staatsbürgerschaft, das zivile und militärische Gewaltmonopol, Einnahmen und Ausgaben einschließlich der Kreditaufnahme, die Strafrechtspflege, kulturelle Fragen betr. die Sprache, die Gestaltung der Familien- und Bildungsverhältnisse, die Ordnung der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit und der Umgang mit dem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis (BVerfGE 123, 267 (358 ff.); zu Recht krit. Calliess ZG 2010, 1 (33); vgl. auch die Beiträge in Giegerich u. a. (Hrsg.), The EU Between ‚an Ever Closer Union‘ and Inalienable Policy Domains of Member States, 2014). Auch eine Übertragung von Hoheitsrechten der Länder auf die europäische Ebene in einem Ausmaß, dass die ihnen verbleibenden Befugnisse nicht mehr zu deren Eigenstaatlichkeit im verfassungsrechtlichen Sinne (BVerfGE 34, 9 (19)) ausreichen würden, wäre unzulässig (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 23 Rn. 38; Rn. 10). Die mit dem Lissabonner Vertrag erfolgten Kompetenzerweiterungen halten sich aber im verfassungsrechtlich zulässigen Rahmen und bewirken keine Entstaatlichung der Bundesrepublik Deutschland (BVerfGE 123, 267 (406 ff.)). Desgleichen haben die solidarischen Hilfsmaßnahmen zur „Euro-Rettung“ im Rahmen des ESM (Rn. 2, 27), an denen die Bundesrepublik finanziell beteiligt ist, die Grenzen der Verfassungsidentitätsklausel nicht überschritten. Zwar wäre eine dauerhafte völkerrechtliche Haftungsübernahme oder ein unbegrenzter und unbestimmter Bürgschafts- und Leistungsautomatismus verfassungsrechtlich bedenklich (BVerfGE 129, 124 (177); 132, 195 (239 f.); 135, 317 (400 ff.)). Der Legitimationszusammenhang zwischen ESM und nationalem Parlament darf unter keinen Umständen unterbrochen werden (BVerfGE 132, 195 (264); 135, 317 (408 ff.)). Soweit aber jede größere Hilfsmaßnahme der Zustimmung des BT im Einzelfall bedarf, begibt sich der BT nicht seiner Budgetverantwortung (BVerfGE 129, 124 (179 f.); 132, 195 (240 f., 269); 135, 317 (428 ff.)). Auch der Abschluss des Fiskalpakts (Rn. 2, 27) führte nicht zu einer Beeinträchtigung der Budgethoheit des BT, da der EU keine „durchgreifenden“ Befugnisse zu konkreten Vorgaben für die nationalen Haushalte eingeräumt sind (BVerfGE 132, 195 (278 f.); 135, 317 (432)). Entsprechendes gilt für den Eigenmittelbeschluss zum Corona-Aufbaufonds, der weder eine offensichtliche und strukturell bedeutsame Überschreitung des Integrationsprogramms darstellte noch die Verfassungsidentität berührte (BVerfGE 164, 193 (290 ff.)). Dem Tätigwerden der EZB sieht das BVerfG durch die Verpflichtung auf die Preisstabilität (Art. 127 I AEUV) und das Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung (Art. 123 I AEUV) indes strenge Grenzen gesetzt (BVerfGE 129, 124 (181); 132, 195 (248 f.); 134, 366 (398 ff.); 154, 17 (136 ff.); Rn. 31).
4. Fortlaufende Wahrnehmung der Integrationsverantwortung
Die Einhaltung der Integrationsgrenzen ist nach der Judikatur des BVerfG nicht auf den einmaligen Akt der Hoheitsrechtsübertragung beschränkt. Vielmehr treffe die deutschen Verfassungsorgane im Rahmen ihrer Integrationsverantwortung die Pflicht, Maßnahmen der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU fortlaufend auf die Einhaltung des Integrationsprogramms zu überwachen und vor allem bei offensichtlichen und strukturell bedeutsamen Kompetenzüberschreitungen im Rahmen ihrer Befugnisse aktiv auf die Befolgung und Beachtung der Grenzen des Integrationsprogramms hinzuwirken (vgl. BVerfGE 151, 202 (296 f.); 154, 17 (89); 164, 193 (280 f.); allg. BK/Schorkopf Art. 23 Rn. 189 ff.). Das BVerfG konstituiert damit eine kontinuierliche Beobachtungspflicht der Verfassungsorgane (deutlich BVerfGE 164, 193 (327 f.)) und, im Falle der Feststellung eines Ultra-vires-Verstoßes, positive Handlungspflichten zur Beseitigung dieser „ausbrechenden Rechtsakte“ (BVerfGE 142, 123 (207 f.); 151, 202 (297 f.); 154, 17 (27); 157, 1 (27); 164, 193 (288)). Diese fortdauernde Beobachtungspflicht oder deren pflichtwidriges Unterlassen bildet den Anknüpfungspunkt für eine verfassungsgerichtliche Überprüfung durch den Bürger (BVerfGE 164, 193 (280); Rn. 29). Liegt eine offensichtliche und strukturell bedeutsame Überschreitung der Integrationsgrenzen durch einen Unionsakt vor, müssen die deutschen Staatsorgane aktiv werden, wollen sie sich nicht zum Verfassungsrecht in Widerspruch setzen. Auch wenn das BVerfG den Verfassungsorganen einen weiten politischen Gestaltungsspielraum zugesteht (BVerfGE 154, 17 (89); 157, 1 (23); 158, 89 (122); 164, 193 (288)), würde eine bloß passive Hinnahme eines Ultra-vires-Aktes den vom BVerfG etablierten Anforderungen nicht genügen. Letztlich stehen BT und BR vor der Wahl, den Kompetenzverstoß durch eine Primärrechtsänderung nachträglich zu legitimieren oder auf eine Aufhebung des Sekundärrechtsakts hinzuwirken. Jedenfalls müssen die innerstaatlichen Auswirkungen kompetenzwidriger Maßnahmen möglichst begrenzt werden (BVerfGE 134, 366 (395 f.); 142, 123 (211 ff.) 151, 202 (299); 154, 17 (90); 164, 193 (289 f.)).
Die aus Art. 23 I 2 folgende parlamentarische Integrationsverantwortung erstreckt sich auch auf grundlegende haushaltspolitische Entscheidungen im Rahmen der EU, auch wenn diese in einem System intergouvernementalen Regierens getroffen werden (BVerfGE 129, 124 (178); 130, 318 (344)). Der Integrationsauftrag ist nicht ausschließlich auf die Rechtsperson EU bezogen. Auch völkerrechtliche Verträge, die formal neben dem EU-Recht, aber inhaltlich in einem „Ergänzungs- oder besonderen Näheverhältnis“ zu den vertraglichen Grundlagen der EU stehen und über eine „Primärrechtsäquivalenz“ verfügen, unterfallen dem Anwendungsbereich (BVerfGE 131, 152 (199, 219); 153, 74 (145 f.); Lorz/Sauer DÖV 2012, 573 (581); krit. Daiber DÖV 2014, 809 (818); Rn. 2). Wann ein solches besonderes Näheverhältnis vorliegt, richtet sich nach einer „Gesamtbetrachtung der Umstände, einschließlich geplanter Regelungsinhalte, -ziele und -wirkungen“ (BVerfGE 131, 152 (199)). Indikatoren hierfür können in einem qualifizierten inhaltlichen Zusammenhang des völkerrechtlichen Vertrages zu einem im Primärrecht bereits angelegten Politikbereich, in einer Organleihe, einer Initiative durch EU-Organe oder einem deckungsgleichen Mitgliederbestand gesehen werden (BVerfGE 131, 152 (199 f.); 153, 74 (146 f.)). Neben dem BR muss deshalb der BT als Plenum bei jeder Entscheidung über konkrete Hilfsmaßnahmen im Rahmen des ESM-Vertrags, etwa in Form der Gewährung von Krediten, beteiligt sein (BVerfGE 129, 124 (180); 130, 318 (345 f.); 135, 317 (402)). Selbst bei Eilbedürftigkeit und Vertraulichkeit darf er seine Beteiligung nicht auf ein kleines Gremium – sog. „9er-Gremium“ – delegieren (BVerGE 130, 318 (347 f., 356 ff.); Art. 45 Rn. 5). Ebenso wie der ESM-Vertrag ist auch der Fiskalpakt entstehungsgeschichtlich, inhaltlich und institutionell mit dem europäischen Integrationsprogramm verflochten und führt zwischen den Vertragsparteien zu einer substantiellen Änderung der Unionsverträge (BVerfGE 131, 152 (224 f.); aA Kube WM 2012, 245 (252)), obgleich eine genuine „Durchgriffswirkung“ mit dem Fiskalpakt nicht verbunden ist (BVerfGE 132, 195 (278 f.); 135, 317 (432 f.)). Auch hier ist die Integrationsverantwortung des Art. 23 I 2 einschlägig; es muss jedenfalls sichergestellt sein, dass der BT einen bestimmenden Einfluss ausüben und seine haushaltspolitische Integrationsverantwortung wahrnehmen kann (BVerfGE 129, 124 (186); 130, 318 (343); 132, 195 (242); 135, 317 (402)). Gleiches gilt für den Eigenmittelbeschluss zur Finanzierung des Corona-Aufbaufonds (BVerfGE 157, 332 (381 ff.)), der allerdings nicht gegen das Integrationsprogramm verstieß (BVerfGE 164, 193 (290 ff.); Rn. 25). Eine Ausdehnung des Anwendungsbereiches von Art. 23 I 2 auf alle völkerrechtlichen Verträge, die in irgendeiner Nähe zum Unionsrecht stehen (so Dreier/Wollenschläger Art. 23 Rn. 49), geht indes zu weit, da sie die Grenzen zu Art. 59 II 1 verwischt. So ist etwa das von der EU und ihren Mitgliedstaaten gemeinsam zu schließende CETA-Freihandelsabkommen mit Kanada als gemischtes Außenhandelsabkommen auf Art. 59 II 1 zu stützen, soweit es die nicht von den Unionskompetenzen gedeckten Regelungen betrifft. Das ändert freilich nichts daran, dass das CETA-Übereinkommen wegen seines auch unionsrelevanten Gehalts insgesamt an Art. 23 zu messen ist (Rn. 2; ferner Art. 59 Rn. 10 f.).
Das BVerfG erstreckt die kontinuierliche Integrationsverantwortung auch auf sich selbst. Es begründet damit zum einen seine eigenen Kontrollvorbehalte (DHS/Calliess Art. 24 Rn. 123 ff.; Rn. 29 ff.), die im Kern auf eine „Integrationsbegrenzung durch Integrationsverantwortung“ (Aust EuGRZ 2020, 410 (415)) zielen. Zum anderen stützt das BVerfG die Einbeziehung der GRCh in seinen Kontrollmaßstab (Rn. 37, 40) ebenfalls auf die ihm obliegende Integrationsverantwortung (BVerfGE 152, 216 (238 f.); leicht abweichend BVerfGE 156, 182 (197); dazu Preßlein EuR 2021, 247 (257)). Während das BVerfG im erstgenannten Fall den übrigen Staatsorganen, vor allem BT und BR, unter Berufung auf die Integrationsverantwortung weitreichende Pflichten auferlegt (vgl. etwa BVerfGE 154, 17 (151 ff.)), dient der teleologisch weite Rückgriff auf Art. 23 I in Bezug auf die eigene Jurisdiktion eher der Kompetenzbegründung oder -erweiterung (zu Recht krit. E. Klein DÖV 2020, 341 (343 ff.)).
5. Gerichtliche Kontrolle der Übertragung von Hoheitsgewalt
a) Kontrolle des Zustimmungsgesetzes und Ultra-vires-Kontrolle
Das BVerfG wacht über die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Grenzen der Integrationsermächtigung des Art. 23 I, also darüber, ob die Kompetenzen in dem Ausmaß, wie das deutsche Zustimmungsgesetz dies vorsieht, von Verfassung wegen übertragen werden dürfen (Benda/Klein, VerfassungsProzR/E. Klein § 3 Rn. 93; Rn. 24). In engen Grenzen ist das Gericht auch befugt festzustellen, ob Rechtsakte von Organen der EU mit dem durch das Zustimmungsgesetz aufgenommenen Vertragsinhalt vereinbar sind, sich also im Rahmen der eingeräumten Hoheitsrechte bewegen oder aus diesen ausbrechen (BVerfGE 123, 267 (353 f.); vgl. bereits BVerfGE 89, 155 (188)). Zwar betont das BVerfG, dass Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU nicht unmittelbarer Verfahrensgegenstand vor dem BVerfG sein können (BVerfGE 142, 123 (180); 154, 17 (81)). Dennoch prüft es diese als Vorfrage im Rahmen der Wahrung der Integrationsverantwortung der deutschen Staatsorgane. Rechtstechnisch geschieht dies dadurch, dass das BVerfG dem Wahlrecht des Art. 38 I 1 mittlerweile eine extensive Beschwerde- und Antragsbefugnis bei möglichen Ultra-vires-Akten der Organe der EU entnimmt (BVerfGE 134, 366 (396); 135, 317 (386); 163, 165 (212); 164, 193 (273)) und auf diese Weise, mit dem zusätzlichen Hinweis auf einen „Anspruch auf Demokratie“ (vgl. BVerfGE 142, 123 (219); 154, 17 (118); 163, 165 (199)), eine dem deutschen Bundesrecht ansonsten unbekannte Popularklage etabliert (zu Recht krit. abw. Meinung in BVerfGE 134, 366 (419 ff.); Ludwigs NVwZ 2015, 537 (540); Ruffert EuGRZ 2017, 241 (248 f.); Sauer Der Staat 58 [2019], 7 ff.; grds. zust. Genztsch/Brade EuR 2019, 602 (608 ff.)). Inzwischen erstreckt das BVerfG den „Anspruch auf Demokratie“ sogar auf die Kontrolle der formalen Übertragungsgrenzen (BVerfGE 153, 74 (152 f.); 157, 332 (378 f.); krit. Knoth EuR 2021, 274 (277 ff.)). Das BVerfG spricht davon, es müsse seine Prüfungskompetenz mit derjenigen des EuGH „koordinieren“ und unvermeidliche Spannungslagen kooperativ ausgleichen und durch wechselseitige Rücksichtnahme entschärfen (BVerfGE 154, 17 (90 f.)).
Nicht hinreichend deutlich wird in dieser Aussage des BVerfG aber, dass der EuGH gem. Art. 19 I EUV, Art. 267 I AEUV Letztinterpret der Verträge ist (Rn. 15); auch auf diese Kompetenzübertragung hat sich das Zustimmungsgesetz bezogen (zutr. E. Klein VVDStRL 50 [1991], 56 (66); aA SHH/Hillgruber Art. 23 Rn. 52). Eine Ultra-vires-Kontrolle über potenziell „ausbrechende Rechtsakte“ durch das BVerfG kommt materiell-rechtlich deshalb nur in Betracht, wenn ein Kompetenzverstoß der europäischen Organe hinreichend qualifiziert ist, also das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zu Lasten der Mitgliedstaaten führt (BVerfGE 126, 286 (304 f., 308); 142, 123 (200 f.); 154, 17 (92 f.)). Zuvor ist zwingend dem EuGH gem. Art. 267 AEUV Gelegenheit zur Vertragsauslegung sowie zur Entscheidung über Gültigkeit und Auslegung des Sekundärrechtsakts zu geben (BVerfGE 126, 286 (303 f.); 164, 194 (287 f.); vgl. auch BVerfGE 123, 267 (307)). Zudem ist die Auslegung des EuGH der Entscheidung des BVerfG zugrunde zu legen (BVerfGE 142, 123 (204)) – aus der Sicht des BVerfG allerdings nur dann, wenn es den methodischen Anforderungen genügt, die das BVerfG aufstellt (BVerfGE 154, 17 (91 ff.); zu Recht krit. Nettesheim NJW 2020, 1631 (1633)). Anders als im Grundrechtsbereich (Rn. 34 ff.) kommt es bei der Kompetenzkontrolle nicht auf eine rechtsstaatlich defizitäre Gesamtentwicklung an; auch ein einzelner Unionsrechtsakt kann wegen eines einmaligen Kompetenzverstoßes beanstandet werden (Sauer EuR 2017, 186 (292); aA wohl Ludwigs EuGRZ 2014, 273 (275)), wobei der Verstoß eklatant, ja nahezu usurpatorisch sein muss (HStR X/Hufeld § 215 Rn. 60). Ein solcher evidenter Kompetenzverstoß war bei EuGH Slg. 2005, I-9981 nicht gegeben (vgl. BVerfGE 126, 286 (307) – Honeywell). Auch in der Antiterrordatei-Entscheidung „drohte“ das BVerfG nur mit einer Ultra-vires-Kontrolle und legte der Anerkennung von EuGH-Urteilen theoretische Grenzen auf (BVerfGE 133, 277 (316)). Im Jahr 2014 setzte das BVerfG indes erstmalig ein Verfassungsbeschwerdeverfahren aus der Sorge aus, dass in dem OMT-Beschluss der EZB bzgl. der Anleihenkäufe von „Krisenstaaten“ am Sekundärmarkt ein offensichtlicher und strukturrelevanter Ultra-vires-Akt zu sehen sei, und rief den EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens an (BVerfGE 134, 366 (392 ff.)). Nachdem der EuGH dem OMT-Beschluss der EZB unter restriktiv zu verstehenden Bedingungen die Unionsrechtskonformität bescheinigt hatte (EuGH ECLI:EU:C:2015:400 Rn. 66 ff., 102 ff. – Gauweiler), stellte das BVerfG die Verfassungsmäßigkeit des OMT-Programms fest (BVerfGE 142, 123 (266 ff.)).
Auch deshalb war das PSPP-Urteil v. 5.5.2020 ein – wiewohl angesichts des zunehmend konfrontativen Verfahrensverlaufs erwartbarer – „Paukenschlag“. Das BVerfG aktivierte dort zum ersten (und bisher auch einzigen) Mal den Ultra-vires-Vorbehalt im Rahmen des „Public Sector Purchase Programme“ der EZB. Es monierte vor allem einen Darlegungsausfall des EuGH, der das auf Art. 123 AEUV gestützte Anleiheprogramm in der Entscheidung „Weiss“ zuvor gebilligt hatte (EuGH ECLI:EU:C:2018:1000; zust. Heide JZ 2019, 305 (308 ff.); krit. Sikora EWS 2019, 139 (144 ff.)), die ihrerseits in Folge eines Vorlagebeschlusses des BVerfG (BVerfGE 146, 216 (219 ff.)) ergangen war. Obwohl das BVerfG dem EuGH grds. eine gewisse „Fehlertoleranz“ zugesteht (BVerfGE 126, 286 (307); 154, 17 (92)), erachtete es das EuGH-Urteil und dessen darin zum Ausdruck kommendes Verständnis des EZB-Beschlusses für „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“ sowie „objektiv willkürlich“, weshalb ein Ultra-Vires-Akt vorliege, der in Deutschland keine Bindungswirkung entfalte (BVerfGE 154, 17 (94 ff.)). Es ist fraglich, ob eine aus Sicht des BVerfG nicht hinreichende Begründung des EuGH (und der EZB) im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung tatsächlich einen offensichtlichen und hinreichend qualifizierten Verstoß zu begründen vermag (verneinend Calliess NVwZ 2020, 897 (900 ff.); Pernice EuZW 2020, 508 (511 ff.); Wegener EuR 2020, 347 ff.; bejahend P. Kirchhof NJW 2020, 2057 (2058 ff.); Schorkopf JZ 2020, 734 (738 f.); diff. Ludwigs EuZW 2020, 530 ff.; Haltern AöR 146 [2021], 195 (198 ff.); Polzin AöR 146 [2021], 1 (33 ff.)). Das anschließend wegen Nichtbeachtung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren gem. Art. 258 AEUV gegen Deutschland (vgl. Calliess NJW 2021, 2845 (2846 ff.); Lang Der Staat 60 [2021], 99 (121 ff.)) hat die Kommission zwar am 4.12.2021 eingestellt (EuZW 2022, 4; Stern/Sodan/Möstl/Gundel § 18 Rn. 76). Der EuGH hat jedoch zwischenzeitlich entschieden, dass Entscheidungen von Verfassungsgerichten, die als Ergebnis einer Ultra-Vires-Kontrolle ein EuGH-Urteil missachten, die Fachgerichte nicht binden können (EuGH ECLI:EU:C:2022:99, dazu Spieker EuZW 2022, 326 ff.). Alles dies zeigt, dass es weniger um das vielbeschworene „Kooperationsverhältnis“ zwischen BVerfG und EuGH, denn vielmehr um „Gestaltungsmacht“ geht. Letztlich muss ein streitiger Fall juristisch entschieden, mithin das „letzte Wort“ gesprochen werden (Kahl/Ludwigs HdB-VerwR III/Dreier/Kuch, § 60 Rn. 82). Diese Situation befördert konfrontatives Denken und ist einer ausgleichenden „Verbundentscheidung“ eher abträglich (Ludwigs EuZW 2020, 530 (530 f.); Kahl NVwZ 2020, 824 (825 f.)). Ein Ausweg aus dieser Spannungslage könnte künftig in einer zweiten Vorlage bestehen, in der die unterschiedlichen Standpunkte stärker hervorgehoben werden, um eine möglichst zielgenaue und ggf. ausgleichende Lösung zu finden (Storr/Unger/Wollenschläger, Der Europäische Rechtsraum/Grabenwarter, 2021, 13 (19)).
Der Abschluss des CETA-Freihandelsabkommens dürfte indes einer Ultra-vires-Kontrolle standhalten. Zwar erscheint es denkbar, dass die umfassende Beanspruchung einer unionalen Vertragsschlusskompetenz im Bereich der gemeinsamen Handelspolitik und eine entsprechende Mediatisierung der Mitgliedstaaten gegen das Integrationsprogramm des Art. 23 I 2 verstößt (BVerfGE 143, 65 (95); 160, 208 (278)). Soweit CETA aber als gemischtes Abkommen zwischen EU und Mitgliedstaaten einerseits und Kanada andererseits behandelt wird (Rn. 2, 16) und die Sachmaterien zum Investitionsschutz, zu Portfolioinvestitionen, zum internationalen Seeverkehr, zur gegenseitigen Anerkennung von Berufsqualifikationen sowie zum Arbeitsschutz in der alleinigen Vertragsabschlusskompetenz der Mitgliedstaaten verbleiben, wird das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 I 1 EUV) nicht verletzt (BVerfGE 143, 65 (98 ff.); Proelß ZEuS 2016, 401 (413 ff.); krit. Nettesheim NJW 2016, 3567 (3569); Nowrot/Tietje EuR 2017, 137 (146 ff.)). Zur Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten beim EU-Singapur-Freihandelsabkommen vgl. EuGH EuGRZ 2017, 338 ff.
b) Verfassungsidentitätskontrolle
Über die vor allem im Rechtsstaatsprinzip des Art. 23 I 1 iVm Art. 20 III GG wurzelnde Kompetenzkontrolle hinaus prüft das BVerfG auch, ob der unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität des GG nach Art. 23 I 3 iVm Art. 79 III gewahrt ist (BVerfGE 113, 273 (196); 123, 267 (343 f., 353 f.); 134, 366 (384 ff.); 140, 317 (334 ff.); 151, 202 (287, 301 f.); 153, 74 (133); 154, 17 (93 f.); 157, 332 (381); 163, 165 (212); eingehend Polzin, Verfassungsidentität, 2018, 85 ff.). Bei dieser Verfassungsidentitätskontrolle darf das BVerfG nur solche Kompetenzüberschreitungen sanktionieren, die über den integrationsfesten Rahmen hinausgehen (Rn. 25). Dazu zählen die grundlegenden Staatsstrukturprinzipien des Art. 20, insbes. das Demokratieprinzip und der Grundsatz der Volkssouveränität (vgl. BVerfGE 142, 123 (191 ff.); 143, 65 (95 ff.); 154, 17 (86); 163, 165 (212); 164, 193 (282); BVerfG NVwZ 2024, 725 (Rn. 86)), der unantastbare Menschenwürdekern des Art. 1 I (BVerfGE 123, 267 (353 f.); 140, 317 (341)) und die Wahrung der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des BT (BVerfGE 129, 124 (177 f.); 132, 195 (238 f., 340); 135, 317 (399 ff.); 146, 216 (291 ff.); 154, 17 (87); 157, 332 (387)). Anders als bei der Grundrechtskontrolle, die nur durch die Darlegung eines strukturellen Defizits im unionalen Grundrechtsschutz zu erreichen ist (Rn. 36), zieht die Verfassungsidentitätskontrolle eine absolute Grenze, die in jedem Einzelfall gewahrt sein muss (BVerfGE 140, 317 (334, 337); Sauer EuR 2017, 186 (191)). Das BVerfG übt also sowohl mit der Kompetenzkontrolle bei Ultra-vires-Handeln (Rn. 29) als auch mit der Identitätskontrolle eine verfassungsrechtlich gebotene Reservekompetenz im Einzelfall aus (BVerfGE 123, 267 (401); 126, 286 (302); 134, 366 (382 ff.); 140, 317 (338 ff.); 154, 17 (91 f.)). Obgleich es Überschneidungen zwischen beiden Kontrollverfahren gibt (Proelß EuR 2011, 241 (261); Dederer JZ 2014, 313 (315 ff.)), unterscheidet sich der Verfassungsidentitätsvorbehalt vom Ultra-vires-Vorbehalt dadurch, dass nur der Identitätsvorbehalt unmittelbar an Art. 23 I 3 iVm Art. 79 III anknüpft (Ludwigs/Sikora EWS 2016, 121 (127); Thiele EuR 2017, 367 (373)). Außerdem fragt die Identitätskontrolle – anders als der Ultra-vires-Vorbehalt – nicht bloß danach, welche Hoheitsrechte auf die EU bereits übertragen wurden, sondern bezieht sich weitergehend darauf, welche Kompetenzen ihr übertragen werden können (BVerfGE 134, 366 (384); 140, 317 (366); 142, 123 (195); vgl. auch Schwerdtfeger EuR 2015, 290 (291); unentschieden Dietz AöR 142 [2017], 78 (124)). Ebenso wie beim Kompetenzvorbehalt ist allerdings auch für die Ausübung der Reservekompetenz des BVerfG zur Wahrung der Verfassungsidentität erforderlich, dass zuvor eine Vorlage an den EuGH gem. Art. 267 III AEUV zur entscheidungserheblichen Frage stattgefunden hat (BVerfGE 123, 267 (353); 134, 366 (385); 140, 317 (339)). Daran mangelte es bei der Entscheidung zum Vollzug des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl, in der das BVerfG feststellte, dass es die Menschenwürde gem. Art. 1 I verletze, wenn ein in Abwesenheit Verurteilter an den ersuchenden Unionsstaat überstellt werde (BVerfGE 140, 317 (342 ff.)). Neben der fehlenden Vorlage an den EuGH (krit. Giegerich ZEuS 2016, 3 (34 f.); aA Sauer NJW 2016, 1134 (1135)) ist zudem zweifelhaft, ob überhaupt ein zulässiger Gegenstand einer Identitätskontrolle nach Art. 23 I 3 iVm Art. 79 III vorlag, da nach dem Europäischen Haftbefehl gerade keine Überstellungspflicht bei Verurteilungen in absentia besteht (zutr. Schönberger JZ 2016, 422 (423 f.); Reinbacher/Wendel EuGRZ 2016, 333 (336 f.); vgl. auch EuGH EuGRZ 2016, 107 Rn. 88 – Aranyosi). Die Fachgerichte sind hingegen nicht befugt, über die Nichtanwendbarkeit von Unionsrecht zu entscheiden (BVerfGE 123, 267 (354)). Sie sind vielmehr analog Art. 100 I verpflichtet, die Frage nach der innerstaatlichen Verbindlichkeit des fraglichen Unionsrechtsakts dem BVerfG vorzulegen (Haratsch EuR Beiheft 3/2008, 81 (102)).
c) Grundrechtskontrolle von volldeterminierten EU-Sekundärrechtsakten und darauf basierenden nationalen Vollzugsakten
Als besonders komplex erweist sich die Grundrechtskontrolle. So hat die Überprüfung von volldeterminierten EU-Sekundärrechtsakten (insbes. EU-Verordnungen) und darauf basierenden nationalen Vollzugsakten anhand des deutschen Grundrechtekatalogs im Laufe der Zeit zahlreiche Veränderungen erfahren. Während der Erste Senat 1967 eine Verfassungsbeschwerde gegen eine (damalige) EG-VO schon deshalb für unzulässig hielt, weil diese keinen Akt der deutschen öffentlichen Gewalt darstelle (BVerfGE 22, 293 (297)), erachtete der Zweite Senat 1974 in der „Solange I“-Entscheidung die Vorlage einer EG-VO gem. Art. 100 I für zulässig, solange das Gemeinschaftsrecht keinen vom Parlament beschlossenen und dem GG adäquaten Grundrechtskatalog enthalte (BVerfGE 37, 271 (279 ff.)). Die deutschen Behörden und Gerichte übten in Ausführung und Handhabung der Verordnung deutsche Hoheitsgewalt aus und seien daher an die Grundrechte des GG gebunden.
Die Fortentwicklung der Grundrechtsbindung der EU-Organe (Rn. 14) war Auslöser dafür, dass das BVerfG 1986 seine „Solange I“-Rspr. umkehrte. Schon im „Eurocontrol“-Fall (1981) hatte das BVerfG entschieden, dass nur originäre Akte deutscher Staatsgewalt mit der Verfassungsbeschwerde anfechtbar seien, Akte zwischenstaatlicher Gewalt iSv Art. 24 I unter den Begriff der deutschen öffentlichen Gewalt indes nicht (mehr) zu subsumieren seien (BVerfGE 58, 1 (27 f.); 59, 63 (85 f.)). Diese Auffassung hat das BVerfG 1986 in der „Solange II“-Entscheidung bestätigt und außerdem erklärt, dass es „seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte und Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen“ werde (BVerfGE 73, 339 (387)). Dies gelte, solange die EG (heute: die EU), insbes. der EuGH, einen wirksamen Schutz der Grundrechte generell gewährleiste, der dem vom GG als unabdingbar gebotenen Schutz im Wesentlichen gleich zu achten sei, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürge (BVerfGE 73, 339 (387)).
Weitere Konkretisierungen des „Solange II“-Vorbehalts brachten das „Maastricht“-Urteil von 1993 (BVerfGE 89, 155 (174 f.)) und vor allem der „Bananenmarkt“-Beschluss von 2000 (BVerfGE 102, 147 (163 f.)). Wiewohl die Kriterien, die an den „unabdingbaren Grundrechtsschutz“ anzulegen waren, im Einzelnen umstr. blieben (vgl. Dederer JZ 2014, 313 (317 f.) mwN), durfte Folgendes als geklärt gelten: Für das „Aufleben“ der Reservefunktion des BVerfG entscheidend war nur der materiell ähnliche Schutzgrad, der dem geltend gemachten Grundrecht auf EU-Ebene widerfährt. Ähnlich wie bei der sog. Heck’schen Formel, bei der die Rechtskontrolle des BVerfG über Entscheidungen von Fachgerichten auf spezifisches Verfassungsrecht beschränkt ist (vgl. BVerfGE 18, 85 (92 f.)), zog das BVerfG bei EU-Sekundärrechtsakten nur dann die verfassungsrechtliche „Notbremse“, wenn der Wesensgehalt eines Grundrechts tangiert wurde und dadurch der generell erforderliche Grundrechtsstandard unter das von Art. 23 I 1 iVm Art. 79 III geforderte Niveau absank (Benda/Klein, VerfassungsProzR/E. Klein § 3 Rn. 102; vgl. auch BVerfGE 123, 267 (353 f.); 126, 286 (307); 129, 78 (90)). Durch den notwendigen Nachweis, dass ein über den Einzelfall hinausreichendes generelles Grundrechtsdefizit vorliegen muss, unterschied sich der Grundrechtsvorbehalt der „Solange II“-Rspr. signifikant vom Verfassungsidentitätsvorbehalt (zutr. Ludwigs/Sikora EWS 2016, 121 (124); aA Nettesheim JZ 2016, 424 (428); Rn. 33).
Obwohl die Reservefunktion des BVerfG bei generellen Grundrechtsdefiziten auf Unionsebene formal erhalten bleibt (BVerfGE 152, 216 (235)), hat der „Recht auf Vergessen II“-Beschluss des Ersten Senats von 2019 zu einer grundstürzenden Neujustierung der Grundrechtskontrolle von vollvereinheitlichten EU-Sekundärrechtsakten geführt. Zwar scheidet – ganz im Einklang mit der vorangegangenen Judikatur – ein Grundrechtsschutz durch die Grundrechte des GG in Fällen einer vollständigen unionsrechtlichen Determinierung nach wie vor aus (BVerfGE 152, 216 (229 f., 233)). In vollvereinheitlichten Bereichen und ihrer konkretisierenden Anwendung kommt nach der eindeutigen Aussage des Ersten Senats nur ein Grundrechtsschutz durch die Unionsgrundrechte in Betracht, um die Einheit des Unionsrechts nicht zu gefährden (BVerfGE 152, 216 (233 ff.)). Allerdings ermächtigt sich das BVerfG nunmehr selbst dazu, die Kontrolle anhand der Unionsgrundrechte eigenständig durchzuführen. In Abweichung zur bisherigen, seit der „Solange II“-Judikatur konstanten Rspr., wonach unionsrechtliche Gewährleistungen nicht rügefähig waren (vgl. etwa BVerfGE 110, 141 (154 f.); 115, 276 (299 f.)), erhebt das BVerfG die GRCh nunmehr zum unmittelbaren Prüfungsmaßstab (BVerfGE 152, 216 (237 ff.)). Dieser Paradigmenwechsel, der im deutschen Schrifttum im Gefolge des EuGH-Urteils in der Rechtssache „Åkerberg Fransson“ (Rn. 14) literarisch vorbereitet worden war (vgl. zB Frenzel Der Staat 53 [2014], 1 (13 f.); Franzius ZaöRV 75 [2015], 383 (402 ff.); Thym JZ 2015, 53 (56 ff.)), überdehnt den Wortlaut der Kompetenzzuschreibung in Art. 93 I Nr. 4a und lässt sich auch weder mit den teleologischen Erwägungen des BVerfG (BVerfGE 152, 216 (240 f.)) noch mit dem Hinweis auf die Integrationsverantwortung nach Art. 23 I (BVerfGE 152, 216 (243 f.)) überzeugend begründen (E. Klein DÖV 2020, 341 (343 ff.); Edenharter DÖV 2020, 349 (353); Stern/Sodan/Möstl/Schmahl § 99 Rn. 32 ff. mwN; aA Kühling NJW 2020, 275 (278 f.); Hofmann/Heger EuGRZ 2020, 176 (182)). Dies gilt ungeachtet des Umstandes, dass sich der Erste Senat bei eindeutigen Auslegungsunklarheiten weiterhin zu einer Vorlagepflicht an den EuGH nach Art. 267 III AEUV bekennt (BVerfGE 152, 216 (244 ff.)).
Der Zweite Senat hat sich der „Recht auf Vergessen II“-Argumentation in einem (erneuten) Verfahren zum Europäischen Haftbefehl (2020) weitestgehend angeschlossen und die Unionsgrundrechte als Prüfungsmaßstab herangezogen (BVerfGE 156, 182 (197 ff.); Gourdet Europäischer Grundrechtsschutz, 2021, 416 ff.; anders noch BVerfGE 113, 273 (300)); Rn. 33). Auch der Ökotox-Beschluss des Zweiten Senats weist in diese Richtung (BVerfGE 158, 1 (27 ff.); krit. Hwang Der Staat 62 [2023], 1 (8 ff.)). Insgesamt begründet die Judikatur beider Senate die Gefahr, dass die Jurisdiktionskompetenz des EuGH in Grundrechtsfragen geschwächt wird, da das BVerfG ihm die Auslegung der GRCh weitgehend aus der Hand nimmt (Stern/Sodan/Möstl/Schmahl, § 99 Rn. 44). Dies gilt besonders, falls die Ausführungen des BVerfG nicht nur für den Grundrechtsschutz im prozessualen Gewand der (Urteils-)Verfassungsbeschwerde gelten sollten, die beiden „Recht auf Vergessen“-Beschlüssen und der Folgejudikatur zugrunde lagen, sondern die Maßstabserstreckung auch bei Normenkontrollverfahren Anwendung fände (dafür etwa HKP EuropaR Rn. 720; Classen EuR 2021, 92 (98); dagegen Kämmerer/Kotzur NVwZ 2020, 177 (179, 183); offengelassen in BVerfGE 152, 216 (237)).
d) Grundrechtskontrolle nationaler Akte zur Umsetzung von EU-Sekundärrechtsakten mit Umsetzungsspielraum
Europarechtsfreundlicher sind indes die Aussagen, die der Erste Senat bezüglich der Grundrechtskontrolle nationaler Akte zur Umsetzung von EU-Sekundärrechtsakten mit Umsetzungsspielraum im „Recht auf Vergessen I“ -Beschluss (BVerfGE 152, 152) trifft (Rn. 40). Auch hier finden sich allerdings nicht unerhebliche Abweichungen von der früheren Rechtsprechungslinie des BVerfG. So galten die Aussagen des „Bananenmarkt“-Beschlusses (Rn. 36) zunächst prinzipiell auch für Richtlinien und an die Bundesrepublik gerichtete Beschlüsse (vormals: Entscheidungen). Erst im „Emissionshandel“-Beschluss von 2007 (BVerfGE 118, 79 (95 f.)) erstreckte das BVerfG die Zurücknahme seiner Prüfungskompetenz nur insoweit auf innerstaatliche Umsetzungsakte, als der betreffende EU-Sekundärrechtsakt keinen Umsetzungsspielraum vorsah, sondern verbindliche Vorgaben machte. Dabei kam es nicht darauf an, ob die Richtlinie ausnahmsweise unmittelbare Wirkung entfaltete; es genügte bereits, dass die Ziele und Vorgaben einer Richtlinie iSd Art. 288 III AEUV zwingend waren, da auch diese eine Umsetzungsverpflichtung des Mitgliedstaates auslösten (BVerfGE 118, 79 (96 f.); bestätigt in BVerfGE 121, 1 (15); 125, 260 (306 f.); 129, 78 (103); 129, 186 (199)). In teilweiser Abkehr von seinem „Maastricht“-Urteil, das die Kontrollkompetenz des BVerfG territorial an den Grundrechtsschutz „in Deutschland“ band (BVerfGE 89, 155 (174 f.)), stellte der Senat im „Emissionshandel“-Beschluss also auf eine rechtsordnungsorientierte Anknüpfung ab (Schmahl EuR Beiheft 1/2008, 7 (17 f.)). Diese Rechtsprechung des BVerfG, mit der das „Trennungsmodell“ der Grundrechtsräume begründet wurde, deckte sich weitgehend mit der bis zu diesem Zeitpunkt vorfindlichen Judikatur des EuGH zur unionsgrundrechtlichen Bindung der Mitgliedstaaten (Rn. 14). Innerstaatliche Maßnahmen, die der EU nicht zurechenbar waren, weil der EU-Sekundärrechtsakt den Mitgliedstaaten Regelungsfreiräume bot, unterlagen dem nationalen Grundrechtskatalog (BVerfGE 129, 78 (103)). Hoheitsakte hingegen, die in die umfängliche Verantwortung der Unionsorgane fielen, waren an den Unionsgrundrechten zu messen (BVerfGE 118, 79 (96 ff.); 129, 186 (199)). Damit überantwortete das BVerfG materiell und prozessual den Grundrechtsschutz derjenigen Hoheitsgewalt, die auch inhaltlich die Verantwortung für den Hoheitsakt trug. Im Übrigen traf dieser Befund nur soweit zu, als der „Solange II“-Fall nicht eintrat, der die Reservekompetenz des BVerfG wieder aufleben ließ (Stern/Sodan/Möstl/Schmahl § 99 Rn. 22).
Diese Rspr. zu Sekundärrechtsakten mit Umsetzungsspielraum hat das BVerfG in der Entscheidung „Recht auf Vergessen I“ (2019) grundlegend in Richtung eines Grundrechtspluralismus (vgl. Kleinlein, Grundrechtsföderalismus, 2020, S. 499 ff.) modifiziert. Insbes. rückt der Erste Senat von der bisherigen strikten Trennung der Grundrechtsräume ab, indem er innerstaatliches Recht, das nicht vollständig unionsrechtlich determiniert ist, zwar primär am Maßstab der Grundrechte des GG prüft (BVerfGE 152, 152 (168 ff.)). Das Unionsrecht akzeptiere mit der Einräumung eines Spielraums die Vielfalt der mitgliedstaatlichen Grundrechtsordnungen und gebe mit der GRCh nur einen weiten Rahmen für das Schutzniveau vor (BVerfGE 152, 152 (171 ff.)). Allerdings hält es das BVerfG zumindest für möglich, dass die Unionsgrundrechte relevant werden, wenn der den Mitgliedstaaten eingeräumte Spielraum „erkennbar auch unter Beachtung der Unionsgrundrechte konkretisiert werden soll“ (BVerfGE 152, 152 (170)), weshalb die nationalen Grundrechte im Lichte der GRCh auszulegen seien (BVerfGE 152, 152 (177 ff.)); zust. E. Klein DÖV 2020, 341 (348); Wendel JZ 2020, 157 (161)). Anders als beim „Recht auf Vergessen II“-Beschluss (Rn. 37) ist diese Auffassung des BVerfG als europarechtsfreundlich zu werten. Es nimmt nunmehr ausdrücklich die europäische „Grundrechtsgesamtlage“ (E. Klein FS Stern 2012, 389 (390 ff.)), nämlich auch die Grundrechtecharta und die EMRK, bei der Auslegung der nationalen Grundrechte in den Blick (Stern/Sodan/Möstl/Schmahl § 99 Rn. 40).
IV. Mitwirkung des Bundestags
Von dem tradierten Grundsatz, dass Außenpolitik in die ausschließliche organschaftliche Zuständigkeit der BReg fällt, machen Art. 23 II, III (stärker als Art. 59 II 1) eine weitreichende Ausnahme. Sie bestimmen, dass der BT in allen Angelegenheiten der EU mitwirkt. Grund für diese verfassungsrechtliche Pflicht (BK/Schorkopf Art. 23 Rn. 186; vgl. auch BVerfGE 123, 267 (433); 131, 152 (196); 157, 1 (24 f.); 163, 298 (327)) ist, dass europäische Maßnahmen in einem solchen Maße unmittelbar in die Bundesrepublik hineinwirken, dass sie nicht mehr mit traditionellen Akten der Außenpolitik vergleichbar sind. Sie wirken vielmehr wie eine erweiterte Innenpolitik (Dreier/Pernice, 2. Aufl. 2006, Art. 23 Rn. 95), weshalb das unmittelbar demokratisch legitimierte nationale Parlament zu beteiligen ist (BVerfGE 89, 155 (185); 131, 152 (194 f.); 142, 123 (212 f.); SHH/Hillgruber Art. 23 Rn. 71). Dabei ist der Begriff „Angelegenheiten der EU“ iSv Art. 23 II, III weit zu verstehen (BVerfGE 131, 152 (200 f.); 163, 298 (332 ff.); Hömig/Wolff/Wolff Art. 23 Rn. 24) und nicht deckungsgleich mit dem Anwendungsbereich von Art. 23 I 2, 3. Angelegenheiten der EU nach Art. 23 II, III umschließen nicht nur Akte der EU-Rechtsetzung, sondern zB auch allgemeine politische Programme und Ernennungsakte von Kommissionsmitgliedern und Richtern am EuGH (näher § 4 EUZBBG; v. Münch/Kunig/Uerpmann-Wittzack Art. 23 Rn. 116). Einbezogen sind ebenfalls völkerrechtliche Verträge und darauf basierende Sekundärrechtsakte, die in einem „Ergänzungs- oder besonderen Näheverhältnis“ zum Recht der EU stehen (BVerfGE 131, 152 (199); 153, 74 (145 f.); 158, 51 (70); implizit auch BVerfGE 157, 1 (24 ff.); vgl. auch §§ 1 II, 3 III EUZBBG), da Art. 23 insgesamt auf eine umfassende parlamentarische Beteiligung am dynamischen Integrationsprozess zielt (BVerfGE 131, 152 (202 f., 215 ff.); 132, 195 (269 ff.); 158, 51 (71 ff.)). Im Rahmen seiner parlamentarischen Mitwirkungsbefugnisse obliegt dem BT die Pflicht, den Vollzug des gesamten Integrationsprogramms kontinuierlich zu beobachten und zu prüfen sowie sich etwaigen Ultra-vires-Akten und Verfassungsidentitätsverletzungen mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln – insbes. seinem Frage-, Debatten- und Entschließungsrecht – aktiv entgegenzustellen (Rn. 26 f.). Deshalb erscheint es teleologisch geboten, auch Maßnahmen im Rahmen der GASP und GSVP dem allgemeinen Mitwirkungsrecht aus Art. 23 II und, sofern es um Rechtsetzungsakte geht, auch dem besonderen Mitwirkungsrecht nach Art. 23 III zu unterstellen (Rathke/Vollrath DÖV 2017, 565 ff.; v. Achenbach JZ 2023, 237 (240 ff.); offenlassend noch BVerfGE 131, 152 (202); nunmehr ausdrücklich bejahend BVerfGE 163, 298 (343 ff.)). Aus entspr. Gründen unterfallen auch Ausarbeitung, vorläufige Anwendung, Vertragsschluss und Durchführung des CETA-Freihandelsabkommens dem Anwendungsbereich von Art. 23 II, III (BVerfGE 157, 1 (24 ff.); v. Arnauld AöR 141 [2016], 268 (272 f.)). Desgleichen unterlag das am 29.3.2017 eingeleitete Austrittsverfahren des Vereinigten Königreichs („Brexit“) der informierten Mitwirkung des BT an der Willensbildung des Bundes iSd Art. 23 II, III (Simon JZ 2017, 481 (486); Rn. 23).
Bei der Mitwirkung des BT sind insgesamt zwei Beteiligungsformen zu unterscheiden, wobei zwischen den verschiedenen Mitwirkungsarten in der Rechtspraxis nicht immer klar getrennt wird (vgl. Schmahl DÖV 2014, 501 (503 f.)): Zum einen trägt der BT unter Mitwirkung des BR die Integrationsverantwortung iSd Art. 23 I 2 (Rn. 20, 26 ff.). Diese Mitwirkungsrechte der Gesetzgebungsorgane gelten prinzipiell für Verschiebungen der Machtbalance zwischen nationaler und europäischer Ebene (Hahn EuZW 2009, 758 (762)). Für das europapolitische „Alltagsgeschäft“ (zum Begriff etwa Gröning-von Thüna integration 2010, 312) hinzu kommen die Mitwirkung im Rahmen der europäischen Rechtsetzung (Art. 23 III) und die Mitwirkung in anderen Tätigkeitsbereichen der Union (Art. 23 II 2). Das in Art. 23 III 2 für die Mitwirkung des BT an europäischen Rechtsetzungsverfahren vorgesehene AusführungsG (EUZBBG, BGBl. 1993 I 311; zul. geänd. BGBl. 2009 I 3026; neugefasst BGBl. 2013 I 2170) sowie die „Vereinbarung zwischen BReg und BT in Angelegenheiten der EU“ (BGBl. 2006 I 2177), die seit 2009 weitgehend in das EUZBBG überführt worden ist, konkretisieren die verfassungsrechtlichen Vorgaben für das operative „Alltagsgeschäft“.
In allen Angelegenheiten der EU muss die BReg den BT gem. Art. 23 II 2 umfassend und frühzeitig informieren. Dies schließt eine fortlaufende und umfängliche Unterrichtungspflicht auch in Bezug auf Vorlagen, Entwürfe sowie den Gang der Beratungen ein (vgl. § 3 II 1, § 5 EUZBBG). Die Unterrichtung muss so frühzeitig erfolgen, dass sie es dem Parlament erlaubt, effektiven Einfluss auf die Willensbildung der BReg zu nehmen; BT und BR dürfen nicht in eine bloß nachvollziehende Rolle geraten (BVerfGE 129, 124 (178 f.); 130, 318 (344 f.); 131, 152 (203); 132, 195 (241); 142, 123 (207 ff.); 158, 51 (71); 163, 298 (333); vgl. auch § 4 I 2 EUZBBG). In sachlicher Hinsicht muss die Unterrichtung umso intensiver ausgestaltet sein, je komplexer sich ein bestimmter Vorgang darstellt, je mehr dadurch legislative Zuständigkeiten berührt werden und je näher eine förmliche Vereinbarung oder Beschlussfassung rückt (BVerfGE 131, 152 (206 f.); 142, 123 (207 ff.); 158, 51 (72); 163, 298 (336)). Grenzen dieser Unterrichtungspflicht ergeben sich erst aus dem Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung (BVerfGE 131, 152 (206); 158, 51 (76 ff.); 163, 298 (348 ff.)). Dieser Bereich ist jedoch dann wieder verlassen, sobald die BReg ihre interne Willensbildung abgeschlossen hat und mit den erzielten Ergebnissen an die Öffentlichkeit gehen will oder in einen Abstimmungsprozess mit Dritten tritt (BVerfGE 131, 152 (227); 158, 51 (77)). Auch aus Gründen des Staatswohls können sich Grenzen ergeben (BVerfGE 163, 298 (349)), wobei die Geheimhaltungsbedürftigkeit der Unterrichtung prinzipiell nicht entgegensteht (BVerfGE 137, 185 (243); 147, 50 (130 f.); 158, 51 (74); 163, 298 (349 f.)). In zeitlicher Hinsicht muss der BT die Möglichkeit erhalten, sich fundiert mit den entsprechenden Informationen auseinanderzusetzen, bevor die BReg wirksame Erklärungen nach außen abgibt (BVerfGE 131, 152 (212); 158, 51 (78 f.); 163, 298 (340 f.)). Von der Unterrichtungspflicht erfasst werden auch Maßnahmen im Rahmen der GASP und der GSVP (vgl. BVerfGE 163, 298 (343 ff.); Rn. 41) sowie zur Vorbereitung von Regierungskonferenzen (MKS/Classen Art. 23 Rn. 74; Dreier/Wollenschläger Art. 23 Rn. 116 ff.). Da die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Parlaments eine eigenverantwortliche Entscheidung des BT über jede ausgabenwirksame Maßnahme größeren Umfangs verlangt (BVerfGE 129, 124 (178 f.); 135, 317 (399 ff., 424); 146, 216 (291 ff.); 154, 17 (87); 157, 332 (387)), sehen das AusführungsG zum ESM-Vertrag (StabMechG, BGBl. 2010 I 627; zul. geänd. BGBl. 2023 I Nr. 416) und das ESMFinG (BGBl. 2012 I 1918; zul. geänd. BGBl. 2023 I Nr. 416) als leges speciales zudem selbst eine Unterrichtung des BT vor (vgl. § 5 I 1 StabMechG; § 7 I ESMFinG; § 5 III Nr. 1, 2 EUZBBG; näher EnzEuR I/Häde, § 25 Rn. 41 f.). Die grundlegende Bedeutung einer Angelegenheit kann generell die Verfahrensanforderungen beeinflussen (BVerfGE 131, 152 (205); 158, 51 (72); 163, 298 (335 f.)).
Vor jeder Art von Mitwirkung an Rechtsetzungsakten, also vor der entscheidenden Abstimmung im zuständigen Mitwirkungsorgan der EU, hat die BReg dem BT Gelegenheit zur Stellungnahme unter Einräumung einer angemessenen Frist zu geben (Art. 23 III 1, § 8 EUZBBG). Damit erhält der BT zwar kein konstitutives Beteiligungsrecht an der Entwicklung von europäischem Sekundärrecht, aber doch eine beachtliche Kompetenz zur Kontrolle der BReg in europapolitischen Angelegenheiten (BK/Schorkopf Art. 23 Rn. 131). Rechtsetzungsakt iSd Art. 23 III ist jeder förmliche Beschluss des Rates mit Rechtswirkungen nach außen. Erfasst werden vor allem die Rechtsakte nach Art. 288 AEUV (SHH/Hillgruber Art. 23 Rn. 64); auch delegierte Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte (Art. 290 f. AEUV) sowie „atypische“ Rechtsakte können hierunter fallen (BK/Schorkopf Art. 23 Rn. 217 ff.), wobei aber etwa Beschlüsse nach Art. 311 III AEUV und die zur europäischen Staatsschuldenkrise geschlossenen intergouvernementalen Vereinbarungen sogar ein Gesetz iSd Art. 23 I 2 voraussetzen (vgl. § 3 I IntVG). Die Einschaltung des BT hat so rechtzeitig vor der entscheidenden Abstimmung im Rat zu erfolgen, dass der BT noch ausreichend Gelegenheit hat, sich mit der Vorlage zu befassen (§ 3 I 1 EUZBBG). Die BReg teilt dem BT mit, bis zu welchem Zeitpunkt eine Stellungnahme wegen der sich aus dem Verfahrensablauf innerhalb der EU ergebenden zeitlichen Vorgaben angemessen erscheint (§ 8 I 2 EUZBBG). Die BReg hat die Stellungnahme des BT zu berücksichtigen. Sie muss sich also mit der Ansicht des BT und dessen Begründung inhaltlich auseinandersetzen (BT-Drs. 12/3338, 8); eine strikte rechtliche Bindung an die Stellungnahme besteht aber nicht (Friauf/Höfling/Hobe Art. 23 Rn. 64). Soweit § 8 II 1 EUZBBG statuiert, die BReg müsse die Stellungnahme des BT ihrem Verhalten auf europäischer Ebene „zugrunde legen“, ist dies verfassungskonform reduzierend auszulegen, da das EUZBBG als einfaches Bundesgesetz Art. 23 III nicht einschränken kann (DHS/Scholz Art. 23 Rn. 158). Das Recht der BReg in Kenntnis der Stellungnahme des BT aus wichtigen außen- oder integrationspolitischen Gründen abweichende Entscheidungen zu treffen, bleibt unberührt (§ 8 IV 6 EUZBBG). Damit der BT organisatorisch in die Lage versetzt wird, den Informationsfluss nach Art. 23 II, III zu verarbeiten, sieht Art. 45 S. 2 vor, dass diese Aufgaben grds. an den Europaausschuss delegiert werden können (Hölscheidt DÖV 2012, 105 (109); Art. 45 Rn. 5).
Im Kontext des Lissabonner Vertrags ist in Ausführung von Art. 5 III UAbs. 2 S. 2, Art. 12 lit. b EUV und Art. 8 SubsProt die in Art. 23 Ia niedergelegte Subsidiaritätsklage eingeführt worden (Rn. 1, 11). Die Klage zum EuGH, die auf Nichtigerklärung des gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoßenden Akts gerichtet ist, kann gem. Art. 23 Ia 2 von einem Viertel der Mitglieder des BT erhoben werden, so dass dieses Instrument im Regelfall auch der parlamentarischen Opposition offensteht (vgl. § 12 I 1 IntVG). Die Anwendung des Art. 23 Ia 3, der die Möglichkeit vorsieht, die Mehrheitserfordernisse des Art. 42 II 1 und des Art. 52 3 1 zu ändern, ist derzeit nicht vorgesehen (zu Gestaltungsmöglichkeiten vgl. v. Münch/Kunig/Uerpmann-Wittzack Art. 23 Rn. 111). Die Verpflichtung des BT, die Subsidiaritätsklage bereits dann zu erheben, wenn ein Viertel seiner Mitglieder diesen Schritt verlangt, weicht vom Mehrheitsprinzip des Art. 42 II 1 ab. Dies begegnet jedoch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, da es hier nicht um Entscheidungen mit regelnder Wirkung, sondern um die Befugnis zur Anrufung eines Gerichts geht (BVerfGE 123, 267 (431 f.); Dreier/Wollenschläger Art. 23 Rn. 107). Zudem ist gem. § 12 I 2 IntVG auf Antrag eines Viertels derjenigen Mitglieder des BT, die die Erhebung der Klage nicht stützen, deren Auffassung in der Klageschrift deutlich zu machen. Das Klagerecht kann entspr. Art. 45 S. 3 auch auf den Europaausschuss delegiert werden (Art. 45 Rn. 1).
V. Mitwirkung des Bundesrats
Art. 23 IV–VI soll den Kompetenzverlust, den die Länder durch die Europäisierung diverser Politikbereiche erlitten haben, kompensieren und sieht daher die Mitwirkung des BR über die gemeinsam mit dem BT ausgeübte Integrationsverantwortung (Rn. 26 ff.) hinaus auch im europapolitischen „Alltagsgeschäft“ vor. Das Nähere bestimmt ein AusführungsG nach Art. 23 VII, das EUZBLG (BGBl. 1993 I 313; zul. geänd. BGBl. 2009 I 3031). Die Mitwirkungsrechte des BR fallen nach dem EUZBLG zT intensiver aus als die des BT (Rn. 43 f.), da sie nicht nur Kompetenzverluste des Organs „BR“ selbst, sondern vornehmlich jene der Landesparlamente ausgleichen sollen (BT-Drs. 12/3338, 8; SHH/Hillgruber Art. 23 Rn. 79 f.; vgl. auch BayVerfGH BayVBl. 2017, 407 (410 f.); dazu Schmahl FS Jung 2021, 245 (257); krit. zur Mediatisierung der Landesparlamente Schwanengel DÖV 2014, 93 (95 ff.)). Ähnlich wie der BT mit dem Europaausschuss (Rn. 44 f.) hat der BR für Angelegenheiten der EU gem. Art. 52 IIIa eine Europakammer gebildet, die die Arbeitsweise des BR beschleunigen soll.
Die Informationspflicht der BReg besteht gem. Art. 23 II 2 gegenüber dem BR in gleichem Umfang wie gegenüber dem BT (vgl. § 9 EUZBLG iVm der Anlage). Auch § 5 I 2 StabMechG und § 7 I ESMFinG (Rn. 43) sehen spezialgesetzlich eine Unterrichtungspflicht des BR vor. Der BR ist zudem gem. Art. 23 Ia ebenso wie der BT zur Erhebung der Subsidiaritätsklage befugt (Rn. 11, 45). Der BR kann in der GOBR regeln, wie ein Beschluss über die Erhebung der Subsidiaritätsklage herbeizuführen ist (§ 12 II IntVG). Neben der nachgelagerten Subsidiaritätsklage gem. Art. 8 SubsProt hat sich vor allem die Subsidiaritätsrüge gem. Art. 12 lit. b EUV iVm Art. 6 f. SubsProt. zu einem wichtigen Instrument des BR zur Stärkung des materiellen Gehalts des Subsidiaritätsprinzips entwickelt (Huber NordÖR 2012, 161 (164); Korioth BayVBl. 2017, 469 (473)). Die in Art. 23 IV vorgesehene Beteiligung des BR an der Willensbildung des Bundes erstreckt sich auf Fälle, in denen der BR an einer entspr. innerstaatlichen Maßnahme mitzuwirken hätte oder in denen innerstaatlich die Länder zuständig wären. Dies bedeutet, dass die Mitwirkung des BR sich lückenlos auf alle Rechtsetzungsakte erstreckt, für die innerstaatlich ein Gesetz erforderlich wäre, denn an der Bundesgesetzgebung wirkt der BR immer mit, und sei es nur dadurch, dass er von seinem Einspruchsrecht keinen Gebrauch macht (Sachs/Streinz Art. 23 Rn. 117; Friauf/Höfling/Hobe Art. 23 Rn. 70 f.). Obgleich eine Gelegenheit zur Stellungnahme für den BR nicht ausdrücklich vorgesehen wurde, ist anzunehmen, dass der BR ein solches Recht überall dort hat, wo er gem. Art. 23 IV zu beteiligen ist (MKS/Classen Art. 23 Rn. 84). Art. 23 V setzt ein derart umfassendes Stellungnahmerecht voraus und regelt nur Sonderfälle, in denen dieser Stellungnahme ein besonderes Gewicht zukommt (SHH/Hillgruber Art. 23 Rn. 82; Dreier/Wollenschläger Art. 23 Rn. 136).
Art. 23 V enthält eine abgestufte Skala von Mitwirkungsrechten des BR, die sich in der Intensität nach dem Ausmaß bestimmt, in dem die Länderkompetenzen oder -interessen betroffen sind. So muss die BReg eine Stellungnahme des BR gem. Art. 23 V I berücksichtigen, wenn die Frage zwar in den Bereich der ausschließlichen Gesetzgebungsbefugnis des Bundes fällt, aber dennoch Länderinteressen berührt, oder wenn der Bund die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz besitzt und diese entweder bereits ausgeübt hat oder gem. Art. 72 II ausüben könnte (SHH/Hillgruber Art. 23 Rn. 86; Dreier/Wollenschläger Art. 23 Rn. 142). „Berücksichtigen“ bedeutet in Art. 23 V 1 dasselbe wie in Art. 23 II 2.
Erheblicheres Gewicht kommt indes der Stellungnahme des BR gem. Art. 23 V 2 zu, wenn im Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse der Länder, die Einrichtung ihrer Behörden oder ihr Verwaltungsverfahren betroffen sind (DHS/Scholz Art. 23 Rn. 169 f.). Gesetzgebungsbefugnisse der Länder meint, dass die Länder entweder von vornherein die ausschließliche Zuständigkeit haben oder aber einer der Ausnahmefälle vorliegt, dass der Bund von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz nach Art. 74 I wegen Art. 72 II keinen Gebrauch machen kann (SHH/Hillgruber Art. 23 Rn. 87). Die in Art. 23 V 2 genannten Länderzuständigkeiten müssen im Schwerpunkt betroffen sein. Dies ist qualitativ, nicht quantitativ zu verstehen (BT-Drs. 12/3338, 9; näher v. Münch/Kunig/Uerpmann-Wittzack Art. 23 Rn. 150). Liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 23 V 2 vor, so ist die Stellungnahme maßgeblich zu berücksichtigen (vgl. § 5 II 1 EUZBLG). Was „maßgeblich berücksichtigen“ im Ergebnis bedeutet, ist umstr. Teilweise wird darin ein Letztentscheidungsrecht des BR gesehen (DHS/Scholz Art. 23 Rn. 169; Jarass/Pieroth/Jarass Art. 23 Rn. 64; Umbach/Clemens/Heyde Art. 23 Rn. 99), zT wird dies verneint (Sachs/Streinz Art. 23 Rn. 127; v. Münch/Kunig/Uerpmann-Wittzack Art. 23 Rn. 151; BeckOK GG/Heintschel v. Heinegg/Frau Art. 23 Rn. 46). § 5 II 5 EUZBLG sieht auf einfachgesetzlicher Ebene ein Vetorecht des BR vor (sog. „Beharrungsbeschluss“, vgl. Korioth BayVBl. 2017, 469 (473)). Von diesem Vetorecht sind jedoch aufgrund der verfassungsrechtlichen Regelung des Art. 23 V 2 Hs. 2 und S. 3 Ausnahmen zu machen, wenn die vom BR begehrte Entscheidung sich auf die Bundesfinanzen auswirkt oder wenn die BReg der Ansicht ist, die gesamtstaatliche Verantwortung gebiete ein Abweichen von der Stellungnahme des BR. Dabei haben BReg und BR den allg. Grundsatz der Organtreue zu wahren (BVerfGE 97, 350 (374 f.)).
Die nach Art. 72 III den Ländern eröffnete Möglichkeit der Abweichungsgesetzgebung findet sich in der Systematik der Mitwirkungsrechte des BR nach Art. 23 V nicht wieder. Dies ist problematisch, da die Abweichungsgesetzgebung der Länder nur Anwendungsvorrang vor dem Bundesrecht genießt und der Bund daher nicht gehindert ist, erneut dem Landesrecht vorgehendes Bundesrecht zu erlassen, von dem die Länder wieder abweichen können (vgl. Art. 72 III 3; Art. 72 Rn. 27) mit der Folge, dass hier keine endgültige Kompetenzzuordnung vorgenommen werden kann. Zum anderen ist der Fall ungeklärt, wenn nur einzelne Länder abweichende Regelungen erlassen. Hier mag es nicht mehr adäquat erscheinen, den BR mitwirken zu lassen, da in der Sache nur die abweichenden Länder stellungnahmeberechtigt sein dürften (SHH/Hillgruber Art. 23 Rn. 90). Der Praktikabilität halber dürfte aber im Bereich der Abweichungsgesetzgebung generell von einer Mitwirkung des BR auszugehen sein (ähnl. v. Münch/Kunig/Uerpmann-Wittzack Art. 23 Rn. 147; Jarass/Pieroth/Jarass Art. 23 Rn. 62).
VI. Mitwirkung durch einen Ländervertreter
Sind im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungskompetenzen der Länder betroffen, dann sollten nach Art. 23 VI aF die Mitgliedschaftsrechte der Bundesrepublik Deutschland auf europäischer Ebene durch einen vom BR benannten Vertreter wahrgenommen werden (hierzu Dreier/Pernice, 2. Aufl. 2006, Art. 23 Rn. 116 f.). Der im Zuge der Föderalismusreform neu gefasste Art. 23 VI (Rn. 1) schränkt den Bereich der relevanten ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen der Länder auf die Gebiete der schulischen Bildung, der Kultur oder des Rundfunks ein (näher v. Münch/Kunig/Uerpmann-Wittzack Art. 23 Rn. 156). Dieser sachlichen Begrenzung steht eine verfahrensrechtliche Stärkung dergestalt gegenüber, dass in dem verbleibenden Anwendungsbereich die Übertragung der Mitgliedschaftsrechte der Bundesrepublik Deutschland in den europäischen Organen auf einen Ländervertreter (im Rang eines Landesministers, vgl. § 6 II 2 EUZBLG) iSe strikten Verpflichtung erfolgen muss. Das Recht der Länder im Rahmen des Art. 23 VI wird insgesamt also quantitativ beschränkt, in dem verbleibenden Bereich aber qualitativ gestärkt (SHH/Hillgruber Art. 23 Rn. 92 f.; Sachs/Streinz Art. 23 Rn. 128). Die Wahrnehmung der Rechte der Bundesrepublik durch den Ländervertreter nach Art. 23 VI 1 muss gem. Art. 23 VI 2 unter Beteiligung und in Abstimmung mit der BReg sowie unter Wahrung der gesamtstaatlichen Verantwortung erfolgen (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 23 Rn. 68). Differieren die Ansichten der Staatsorgane inhaltlich, gilt für das Verhältnis beider Standpunkte zueinander die Regelung des Art. 23 V 2. Die in Art. 23 VI 1 vorgesehene Vertretungskonstruktion wird auf EU-Ebene durch Art. 16 EUV ermöglicht. Der Ländervertreter ist nicht dem (Landes-)Parlament, sondern dem BR gegenüber verantwortlich (MKS/Classen Art. 23 Rn. 103; unentsch. v. Münch/Kunig/Uerpmann-Wittzack Art. 23 Rn. 162 f.).