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Artikel 135a [Verbindlichkeiten des Reichs und anderer Körperschaften]

(1) Durch die in Artikel 134 Abs. 4 und Artikel 135 Abs. 5 vorbehaltene Gesetzgebung des Bundes kann auch bestimmt werden, daß nicht oder nicht in voller Höhe zu erfüllen sind

  • Verbindlichkeiten des Reiches sowie Verbindlichkeiten des ehemaligen Landes Preußen und sonstiger nicht mehr bestehender Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts,
  • Verbindlichkeiten des Bundes oder anderer Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts, welche mit dem Übergang von Vermögenswerten nach Artikel 89, 90, 134 und 135 im Zusammenhang stehen, und Verbindlichkeiten dieser Rechtsträger, die auf Maßnahmen der in Nummer 1 bezeichneten Rechtsträger beruhen,
  • Verbindlichkeiten der Länder und Gemeinden (Gemeindeverbände), die aus Maßnahmen entstanden sind, welche diese Rechtsträger vor dem 1. August 1945 zur Durchführung von Anordnungen der Besatzungsmächte oder zur Beseitigung eines kriegsbedingten Notstandes im Rahmen dem Reich obliegender oder vom Reich übertragener Verwaltungsaufgaben getroffen haben.

(2) Absatz 1 findet entsprechende Anwendung auf Verbindlichkeiten der Deutschen Demokratischen Republik oder ihrer Rechtsträger sowie auf Verbindlichkeiten des Bundes oder anderer Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts, die mit dem Übergang von Vermögenswerten der Deutschen Demokratischen Republik auf Bund, Länder und Gemeinden im Zusammenhang stehen, und auf Verbindlichkeiten, die auf Maßnahmen der Deutschen Demokratischen Republik oder ihrer Rechtsträger beruhen.

I. Verbindlichkeiten nach dem Zweiten Weltkrieg (Abs. 1)

Art. 135a I wurde erst durch Gesetz v. 22.10.1957 (BGBl. I 1745) eingefügt und ermächtigt den Bundesgesetzgeber, das Schicksal der offenen Verbindlichkeiten des Deutschen Reichs und anderer Körperschaften zu regeln. Verfassungspolitischer Hintergrund war die Abwendung des drohenden Staatsbankrotts, der bei einer vollumfänglichen Übernahme der Reichsverbindlichkeiten gedroht und den Wiederaufbau mit einer schweren Hypothek belastet hätte. Von seiner Befugnis hat der Bundesgesetzgeber vor allem durch das Allg. Kriegsfolgengesetz v. 5.11.1957 (BGBl. I 1747) Gebrauch gemacht, dessen Verfassungskonformität zweifelhaft erschien und durch Art. 135a abgesichert werden sollte. Die entspr. Befugnis lässt sich indes bereits aus Art. 134 IV und Art. 135 V ableiten, sodass Art. 135a allein eine deklaratorische Bedeutung hat und vom BVerfG als „Legalinterpretation“ qualifiziert wird (BVerfGE 41, 126 (152)).

Der Begriff der Verbindlichkeit schließt alle vermögenswerten Verpflichtungen ein. Über die in Art. 135a genannten Rechtsträger hinaus ist die Vorschrift auch auf Stiftungen anwendbar (BK/Haratsch Art. 135a Rn. 19). Ausgenommen sind Auslandsverbindlichkeiten (MKS/Dietlein Art. 135a Rn. 1). Über völkerrechtliche Verbindlichkeiten des Reichs wurde im Londoner Abkommen über deutsche Auslandsschulden v. 27.2.1953 eine völkerrechtliche Vereinbarung erzielt (BGBl. II 331; dazu Wolff NJW 1953, 1409 ff.). Nicht einbezogen können aber auch sonstige Verbindlichkeiten ausländischer Gläubiger sein, weil deren entschädigungslose Entwertung kaum mit dem Völkerrecht zu vereinbaren wäre (DHS/Müller-Terpitz Art. 135a Rn. 13). In zeitlicher Hinsicht beschränkt sich der Anwendungsbereich auf Verbindlichkeiten, die vor dem 1.8.1945 entstanden sind, was im Einklang mit anderen Kriegsfolgen regelnden Gesetzen steht (v. Münch/Kunig/Mager/Goldhammer Art. 135a Rn. 9). Der Bundesgesetzgeber bedarf der Zustimmung des BRats, was sich aus Art. 134 IV, 135 V ergibt.

Bei der Ausfüllung seiner Regelungsbefugnis kommt dem Gesetzgeber ein sehr weiter Spielraum zu, der nach dem Wortlaut bis hin zur vollständigen Annullierung reichen kann. Allerdings sind der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt. So muss der Gesetzgeber die „dem Grunde nach existenten“ Forderungen gegen das Reich nach Maßgabe des Möglichen berücksichtigen (BVerfGE 23, 153 (166)). Zur Begründung beruft sich das BVerfG zwar nicht unmittelbar auf Art. 14, da der Schutz der Eigentumsgarantie überhaupt erst wirksam werden könne, wenn und soweit die gesetzliche Regelung die Leistungspflicht begründet habe. Gebunden sei der Gesetzgeber aber doch wenigstens an den Wertgehalt des Art. 14 (krit. Art. 134 Rn. 8) sowie an den allg. Gleichheitssatz des Art. 3 I (BVerfGE 29, 413 (429)). Bei Regelungen zur Beseitigung der Folgen des Krieges und des Zusammenbruchs des NS-Regimes steht dem Gesetzgeber allerdings eine besonders weite Gestaltungsfreiheit zu (BVerfGE 23, 153 (168)).

Verfassungsrechtlich gerät Art. 135a I weder mit Art. 19 II noch mit Art. 79 III in Konflikt (v. Münch/Kunig/Mager/Goldhammer Art. 135a Rn. 12).

II. Beitrittsbedingte Verbindlichkeiten (Abs. 2)

Art. 135a II erweitert den Regelungsgehalt der Norm auf Verbindlichkeiten der DDR und ihrer Rechtsträger. Eingefügt wurde die Vorschrift durch Art. 4 Nr. 4 EinigungsV v. 31.8.1990. Den verfassungspolitischen Hintergrund bildet die Gemeinsame Erklärung der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR zur Regelung offener Vermögensfragen v. 15.6.1990 (Anl. III EinigungsV Nr. 1). Die in Aussicht gestellte Entschädigungsregelung für die nicht mehr rückgängig zu machenden Enteignungen zwischen 1945 und 1949 sollten durch Art. 135a II verfassungsrechtlich abgesichert werden (Dreier/Heun Art. 135a Rn. 14). Zudem sollte der Gesetzgeber bei der Bewältigung der Folgelasten aus der Wiedervereinigung prinzipiell dieselben Gestaltungsspielräume wie bei der Bereinigung der Kriegsfolgelasten erhalten (v. Münch/Kunig/Mager/Goldhammer Art. 135a Rn. 13). Im Unterschied zu Art. 135a I hat die Vorschrift nicht nur deklaratorische Bedeutung (Rn. 1), sondern ist eine eigenständige Handlungsgrundlage (v. Münch/Kunig/Mager/Goldhammer Art. 135a Rn. 13). Von der Regelungsbefugnis hat der Gesetzgeber u. a. durch das Finanzbereinigungsgesetz-DDR v. 22.4.1993 (BGBl. I 463) und das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz v. 27.9.1994 (BGBl. I 2624) Gebrauch gemacht. Art. 135a II ist keine eigenständige Anspruchsgrundlage, sondern setzt voraus, dass eine Verbindlichkeit aufgrund einer anderweitigen Regelung auf die Bundesrepublik Deutschland oder andere Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts übergegangen ist (BGHZ 175, 232 (234)).

Sachlich erstreckt sich der Anwendungsbereich auf drei Fallgruppen: (1) Dies sind Verbindlichkeiten der DDR und ihrer Rechtsträger, die mit dem Beitritt auf die Bundesrepublik durch den EinigungsV übergegangen sind (Abs. 2 Var. 1). (2) Erfasst sind weiter Verbindlichkeiten, die im Zusammenhang mit dem Übergang von Vermögenswerten der DDR auf Bund, Länder und Gemeinden stehen (Abs. 2 Var. 2). (3) Die dritte Fallgruppe der Verbindlichkeiten, die auf Maßnahmen der DDR und ihrer Rechtsträger beruhen (Abs. 2 Var. 3), hat die größte praktische Relevanz und erstreckt sich entgegen dem Wortlaut auch auf Enteignungen und Konfiskationen besatzungsrechtlicher bzw. besatzungshoheitlicher Grundlagen, die nicht rückgängig gemacht werden sollten (vgl. die Denkschrift zum EinigungsV, BT-Drs. 11/7760, 355, 359; BVerfGE 84, 90 (128 f.)).

Die Anwendung setzt voraus, dass die Norm nicht durch eine vorrangige Spezialregelung verdrängt wird und der Gesetzgeber erkennbar von der Möglichkeit des Abs. 2 Gebrauch machen wollte (BVerfGE 100, 1 (48)). In personeller Hinsicht werden private wie öffentliche Gläubiger erfasst; wie bei Abs. 1 (Rn. 2) sind jedoch ausländische Gläubiger ausgeschlossen, für die Art. 24 EinigungsV maßgeblich ist.

Nach dem Wortlaut deckt Art. 135 II auch den vollständigen Ausschluss der Übernahme von Verbindlichkeiten (BVerwGE 132, 358 (368)). Bei Ausgestaltung seiner Regelungsbefugnis steht dem Gesetzgeber prinzipiell ein weiter Spielraum zu. Dabei darf er auch darauf Rücksicht nehmen, welche finanziellen Möglichkeiten er unter Berücksichtigung der sonstigen Staatsaufgaben hat. Die für den Ausgleich von Kriegsfolgeschäden entwickelten Grundsätze gelten insoweit entspr. (BVerfGE 84, 90 (130)).

Eingegrenzt werden die legislativen Spielräume durch den allg. Gleichheitssatz (Art. 3 I), wenn auch nur in seiner Bedeutung als Willkürverbot (BVerfGE 102, 254 (300); s. aber auch BVerwGE 132, 358 (369)). Da für Enteignungen, die nicht auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage erfolgt sind, nach dem Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen (BGBl. 1990 II 1159) der Grundsatz der Restitution gilt, schließt dies jedenfalls einen vollständigen Ausschluss jeglicher Ausgleichsleistungen auch für Enteignungen in der SBZ aus (BVerfGE 84, 90 (129)). Weitere Grenzen sind dem Gesetzgeber durch das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Rn. 20 ff.) sowie durch die materielle Gerechtigkeit als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Rn. 34 ff.) gesetzt (BVerfGE 102, 254 (298 f.)). Ein Rückgriff auf Art. 14 scheidet dagegen bei Enteignungen aus, weil diese außerhalb des zeitlichen oder territorialen Geltungsbereichs des GG stattgefunden haben (BVerfGE 112, 1 (21)). Die Entschädigungsregelungen und die hierzu ergangene Rspr. des BVerfG hatten vor dem EGMR Bestand, das hierin keinen Verstoß gegen das in Art. 1 des Zusatzprotokolls zur EMRK garantierte Recht auf Eigentum sah (EGMR NJW 2005, 2530).

Art. 135a II ist keinen verfassungsrechtlichen Einwänden ausgesetzt (BVerfGE 84, 90 (125 ff.)).