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Vorwort

Ein 75. Geburtstag ist nicht nur für einen Menschen ein besonderes Ereignis, sondern auch für eine Verfassung. Dem Parlamentarischen Rat war es bei seiner Arbeit 1948/49 darum gegangen, mit dem am 23.5.1949 verkündeten Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland lediglich ein Provisorium zu schaffen. Denn damit sollte bereits ausweislich der ursprünglichen Fassung der Präambel dem staatlichen Leben nur für eine Übergangszeit eine neue Ordnung gegeben werden.

Die Präambel aF forderte das gesamte Deutsche Volk auf, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“. Dieses verfassungsrechtliche Wiedervereinigungsgebot wurde nach der friedlichen Revolution in der DDR durch deren Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1990 gem. Art. 23 S. 2 GG aF erfüllt. Die daraufhin geänderte Präambel des Grundgesetzes formuliert nunmehr, dass die Deutschen in den im Einzelnen genannten 16 Ländern „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet“ haben; damit „gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk“ (vgl. auch Art. 146 GG nF). Aus dem westdeutschen Provisorium, das in der Zwischenzeit zu einer Dauerverfassung herangereift war, wurde also eine gesamtdeutsche Verfassung. Darin ist die bedeutendste Entwicklung des Grundgesetzes in den letzten 75 Jahren zu sehen. Dennoch vollzog sich dieser Prozess insgesamt gesehen in verfassungsrechtlicher Kontinuität. Diese Kontinuität wird durch das Grundgesetz selbst bereits dadurch erzwungen, dass es in Art. 79 III jede Änderung, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Art. 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, für unzulässig erklärt. Mit dieser „Ewigkeitsgarantie“ werden dem verfassungsändernden Gesetzgeber zur Wahrung der Grundlagen der Verfassung materielle Schranken gesetzt. Im Übrigen bedürfen Änderungen des Grundgesetzes nach seinem Art. 79 II der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates. Damit wurde eine hohe Hürde errichtet, deren Überwinden einen breiten politischen Konsens erfordert.

Zu einer grundlegenden Umgestaltung des Grundgesetzes gab und gibt es allerdings keinen Anlass. Das Grundgesetz kann für sich in Anspruch nehmen, die „freiheitlichste, stabilste und erfolgreichste Verfassung“ in der Geschichte Deutschlands zu sein (Depenheuer, Die Politische Meinung, Nr. 460 v. März 2008, 15). Mit den bislang insgesamt 68 Gesetzen zur Änderung des Grundgesetzes, die sich auf einen Zeitraum von über sieben Jahrzehnten verteilen, wollten die Verfassungsgeber Bundestag und Bundesrat jeweils auf neue Herausforderungen reagieren. Dazu gehört ein Änderungsgesetz von 1992, welches den heutigen Art. 23 I 1 eingefügt hat. Dieser enthält einen verbindlichen Verfassungsauftrag an alle staatlichen Stellen, zur Verwirklichung eines vereinten Europas bei der Entwicklung der EU mitzuwirken. Das Grundgesetz formuliert allerdings für die Integration Vorbehalte und Bedingungen. Die Union muss auf den gleichen Grundprinzipien beruhen wie die Bundesrepublik Deutschland, dh „demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen sowie föderativen Grundsätzen“ verpflichtet sein. Art. 23 I 1 erlaubt ferner nur die Mitwirkung an einer EU, die „einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet“; der Grundrechtsschutz auf der Ebene der EU wird materiell-rechtlich durch Art. 6 III EUV und die GRCh gesichert (dazu näher Art. 23 Rn. 13 ff., Art. 93 Rn. 42a ff.). Der Verfassungsauftrag des Art. 23 I 1 wird wesentlich durch die Mitgestaltung des primären und sekundären Unionsrechts, die Übertragung von Hoheitsrechten sowie die Umsetzung und Beachtung des Unionsrechts erfüllt.

Zu Änderungen des bundesstaatlichen Gefüges kam es insbes. durch die sog. Föderalismusreform I von 2006, durch die vor allem Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen modifiziert wurden, und die sog. Föderalismusreform II von 2009, welche die Bund-Länder-Finanzbeziehungen modernisiert und ua die sog. Schuldenbremse eingeführt hat, deren verfassungsrechtliche Verankerung in jüngster Zeit eine kontroverse politische Diskussion ausgelöst hat. Weitere Föderalismusreformen folgten 2017 und 2019.

Zu einem gewissen Wandel im Verfassungsrecht hat jedoch auch das BVerfG mit der Auslegung und Anwendung von Verfassungsbestimmungen wesentlich beigetragen. Es „gibt dem Geltungsanspruch der Verfassung institutionell Ausdruck und verleiht ihrem Vorrang Durchsetzungskraft. [...] Das Staatsleben und die Jurisprudenz, die Tätigkeit von Behörden und Gerichten sind in Breite und Tiefe in früher kaum vorstellbarem Ausmaß durch das Grundgesetz bestimmt und damit dem maßgebenden Einfluß der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts unterworfen. Dessen Autorität fußt auf der Autorität der Verfassung und stärkt diese durch die Überzeugungskraft seiner Entscheidungen, mit denen es die Geltungskraft des Grundgesetzes durch verbindliche Auslegung und Rechtsfortbildung sichert“ (Badura/Dreier¸ FS 50 Jahre BVerfG I, 2001, V). Die amtliche Sammlung der BVerfGE, welche die wichtigsten Urteile und Beschlüsse des BVerfG aus mittlerweile mehr als sieben Jahrzehnten enthält, umfasst aktuell 165 Bände. Die Alltagsarbeit des Gerichts, die von in beiden Senaten gebildeten Kammern bewältigt wird, besteht seit langem in der Bearbeitung einer Fülle von Verfassungsbeschwerden, deren Zahl zuletzt für das Jahr 2023 bei über 4.000 lag. Obwohl die Erfolgsquote bei Rügen von Grundrechtsverletzungen sehr gering ist und zuweilen bei unter 2 Prozent im Jahr liegt, erfreuen sich Verfassungsbeschwerden bei Rechtsschutzsuchenden weiterhin großer Beliebtheit.

Die besondere Bedeutung der Grundrechtsvorschriften wird schon dadurch deutlich, dass diese das Grundgesetz – anders noch als die WRV und nunmehr ganz in der nordatlantisch-westeuropäischen Verfassungstradition – nach der Präambel in seinem Abschn. I (Art. 1 bis 19) sogleich an die Spitze der Verfassung stellt. In Art. 1 II bekennt sich das Deutsche Volk „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“. Nach Art. 1 III binden die nachfolgenden Grundrechte „Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht“. Nach der Rspr. des BVerfG bilden die Grundrechte „einen untrennbaren Teil der Verfassung; sie sind der eigentliche Kern der freiheitlich-demokratischen Ordnung des staatlichen Lebens im Grundgesetz“ (BVerfGE 31, 58 (73)). Unter dem Einfluss der dominierenden Judikatur des BVerfG ist die Bundesrepublik Deutschland längst zur „Grundrechtsrepublik Deutschland“ geworden (Hufen NJW 1999, 1504).

Bereits im sog. Lüth-Urteil des BVerfG aus dem Jahr 1958 folgt der Betonung der primären Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat der Hinweis auf eine im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes auch errichtete „objektive Wertordnung“, in der „eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck kommt“ (BVerfGE 7, 198 (205)). Eine wichtige Konsequenz der Deutung der Grundrechte als objektive Wertordnung ist etwa die vom BVerfG schon vor Jahrzehnten vorgenommene Begründung staatlicher Schutzpflichten. Insgesamt bietet das BVerfG eine sehr ausdifferenzierte Judikatur zu verschiedenen Schutzrichtungen der Grundrechte (→ Vorb. Art. 1 Rn. 9 ff.), deren wissenschaftliche Aufarbeitung zu einer kaum noch überschaubaren Fülle von Schrifttum geführt hat. Bereits darin lässt sich eine besondere Wertschätzung für das Grundgesetz sowie die für dessen Auslegung und Anwendung zuständige Rspr. des BVerfG erkennen.

Wiederholt ist es seit Verkündung des Grundgesetzes zu Verfassungsänderungen gekommen, welche den Grundrechtsteil betreffen und mit denen der Verfassungsgeber auf neue Herausforderungen reagieren wollte. Gerade die umfangreichen und sehr detaillierten Regelungen zur Unverletzlichkeit der Wohnung in Art. 13 (1998) oder zum Asylrecht in Art. 16a GG (1993) zeigen beispielhaft jedoch, wie berechtigt der mahnende Hinweis ist, die „große Kunst der Verfassungsgebung“ bestehe „darin, nicht zu viel zu verfassen“ (Merten, Basta – Neue Aphorismen zu Staat und Recht, Individuum und Gemeinschaft, 2007, 13). Diesem Ideal für die Erarbeitung einer Verfassung sind die Mütter und Väter des Grundgesetzes 1949 sicherlich gerecht geworden. Ob dies auch in gleichem Maße für den modernen verfassungsändernden Gesetzgeber gilt, ist allerdings nicht selten zweifelhaft. Schon vor etwa 25 Jahren wurde kritisch angemerkt, Art. 13, ursprünglich eine schlichte Fassung des Grundsatzes „My home is my castle“, lese „sich jetzt wie ein steuerlicher Ausführungserlaß“ (Zuck NJW 1999, 1517 (1519)).

Unabhängig von solchen Einzelfragen ist das Grundgesetz jedenfalls für die Zukunft gut aufgestellt und ein sicheres Fundament für eine wehrhafte Demokratie. Neben dem Widerstandsrecht des Art. 20 IV und anderen Vorschriften der sog. Notstandsverfassung trägt zur Wehrhaftigkeit insbes. Art. 21 mit seinen Abs. 2 bis 4 bei. Gem. Art. 21 II sind „Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, […] verfassungswidrig“. Durch Änderungsgesetz v. 13.7.2017 wurde Art. 21 III eingefügt, der bestimmt, dass Parteien, welche die Voraussetzungen von Art. 21 II erfüllen, von staatlicher Finanzierung ausgeschlossen sind; im Falle der Feststellung eines Ausschlusses „entfällt auch eine steuerliche Begünstigung dieser Parteien und von Zuwendungen an diese Parteien“. Dem BVerfG obliegt die Entscheidung über die Frage der Verfassungswidrigkeit und über den Ausschluss von staatlicher Finanzierung (Art. 21 IV). Nach der Rspr. des BVerfG stellt das Parteiverbot „die schärfste und überdies zweischneidige Waffe des demokratischen Rechtsstaats gegen seine organisierten Feinde dar. Es soll den Risiken begegnen, die von der Existenz einer Partei mit verfassungsfeindlicher Grundtendenz und ihren typischen verbandsmäßigen Wirkungsmöglichkeiten ausgehen“ (BVerfGE 144, 20 (Ls. 1)).

Die Autoren des vorliegenden Kompakt-Kommentars zum Grundgesetz freuen sich, aus Anlass des 75-jährigen Jubiläums der Verfassung eine wesentlich überarbeitete und aktualisierte Neuauflage vorzulegen.

Zur Konzeption des Kommentars gelten folgende Ausführungen aus dem Vorwort zur ersten Auflage von 2009 auch weiterhin:

„Für viele Menschen, die sich täglich mit einer Flut von Informationen konfrontiert sehen, ist Zeit zu einem kostbaren Gut geworden. Dies gilt im juristischen Bereich besonders für die Ausbildung und Praxis und damit für Personengruppen, an die sich der Kommentar vornehmlich wendet: Studierende an Universitäten und Fachhochschulen, Referendare, Rechtsanwälte, Richter sowie diejenigen, welche sich im politischen Bereich mit Verfassungsfragen beschäftigen. Sie alle können zwar bei Bedarf auf eine große Zahl von Kommentaren zum Grundgesetz zurückgreifen, die überwiegend sehr umfangreich sind und deren Wert unbestritten ist. Nicht selten wird jedoch ein schneller und sicherer erster Zugriff auf das komplexe deutsche Verfassungsrecht zur Beantwortung einer Auslegungsfrage benötigt. Dabei will der neue Kommentar mit einer bewusst knapp gehaltenen und auf das Wesentliche konzentrierten Darstellung helfen. Angesichts des breiten Spektrums von den Grundrechtsvorschriften bis zur Finanzverfassung sollen – losgelöst von den behandelten Einzelproblemen – gerade auch die Strukturen des Verfassungsrechts aufgezeigt werden. Weil die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht nur die juristische Praxis, sondern auch die Rechtswissenschaft nachhaltig prägt, orientieren sich die einzelnen Erläuterungen vornehmlich an dieser Judikatur, ohne allerdings auf kritische und weiterführende Hinweise zu verzichten. Von Literaturübersichten und umfangreichen Nachweisen aus dem ohnehin kaum noch überschaubaren Schrifttum haben die Autoren dieses Kommentars bewusst abgesehen. Die Literaturzitate, die sich aus Platzgründen nicht in Fußnoten, sondern in Klammerzusätzen im Text befinden, beschränken sich – auch im Interesse der Lesbarkeit der gesamten Darstellung – auf einige besonders wesentliche Beiträge. Entsprechendes gilt für die Wiedergabe von Einzelfällen aus der Rechtsprechung. Auch insoweit war hier eine Auswahl erforderlich.“

Die Neuauflage berücksichtigt nicht nur aktuelle Rspr. und Literatur, sondern vor allem auch die seit der Vorauflage beschlossenen verfassungsändernden Gesetze. Dabei handelt es sich um das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 104b, 104c, 104d, 125c, 143e) v. 28.3.2019, das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 72, 105 und 125b) v. 15.11.2019, das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 104a und 143h) v. 29.9.2020, das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 87a) v. 28.6.2022 sowie das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 82) v. 19.12.2022. Von den zahlreichen, seit der Vorauflage ergangenen Entscheidungen des BVerfG verdienen besondere Erwähnung: die beiden Beschl. jew. v. 6.11.2019 zum „Recht auf Vergessen“ mit wesentlichen Aussagen zum Schutz durch die GRCh, der Beschl. v. 14.1.2020 zur Verfassungsmäßigkeit des Kopftuchverbots für Rechtsreferendarinnen, das Urt. v. 26.2.2020 zur Verfassungswidrigkeit des Verbots der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung, das Urt. v. 5.5.2020 zur Kompetenzwidrigkeit der Beschlüsse der EZB zum Staatsanleihekaufprogramm, der sog. Klimaschutz-Beschl. v. 24.3.2021, der Beschl. v. 19.11.2021 zum Recht auf schulische Bildung, der Beschl. v. 27.4.2022 zur Pflicht, eine COVID-19-Schutzimpfung nachzuweisen, das Urt. v. 15.6.2022 zum Recht auf Chancengleichheit der politischen Parteien, der Beschl. v. 21.7.2022 zur Vornahme von Impfungen gegen Masern bei entwicklungsbedingt noch nicht selbst entscheidungsfähigen Kindern, der Beschl. v. 29.9.2022 zum sog. Tierarztvorbehalt, das Urt. v. 16.2.2023 zur automatisierten Datenanalyse, das Urt. v. 15.11.2023 zur Nichtigkeit des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes 2021, das Urt. v. 23.1.2024 zum Ausschluss einer politischen Partei von der staatlichen Finanzierung und das Urt. v. 30.7.2024 zum Bundeswahlgesetz 2023.

Für sehr wertvolle Unterstützung bei der Überarbeitung von Kommentierungen zu Vorschriften über Grundrechte und grundrechtsgleiche Rechte für die Neuauflage gilt ein herzlicher Dank meinen früheren wissenschaftlichen Mitarbeitern am Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin: Herrn Dipl.-Jur. Antonio Cerminara, Herrn Dipl.-Jur. Christian Janssen und Herrn Staatsanwalt Jann Schmitt. Ein diesbezüglicher Dank gilt ferner Herrn David Constantin Schmitz, studentischer Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin, darüber hinaus vor allem für ausdauernde redaktionelle Durchsichten der Manuskripte sowie für Aktualisierungen des Abkürzungsverzeichnisses und des Stichwortverzeichnisses.

Für die wohlwollende und zuverlässige Förderung des Kommentars danken seine Autoren Herrn Rechtsanwalt Dr. Rolf-Georg Müller, LL.M., und Frau Assessorin Elisabeth Becker, LL.M., Juristisches Lektorat des Verlages C.H.Beck.

Berlin, im Juli 2024 Helge Sodan