Artikel 109 [Haushaltswirtschaft in Bund und Ländern; Schuldenbremse]
(1) Bund und Länder sind in ihrer Haushaltswirtschaft selbständig und voneinander unabhängig.
(2) Bund und Länder erfüllen gemeinsam die Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aus Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft auf Grund des Artikels 104 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin und tragen in diesem Rahmen den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung.
(3) 1 Die Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen. 2 Bund und Länder können Regelungen zur im Auf- und Abschwung symmetrischen Berücksichtigung der Auswirkungen einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung sowie eine Ausnahmeregelung für Naturkatastrophen oder außergewöhnliche Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, vorsehen. 3 Für die Ausnahmeregelung ist eine entsprechende Tilgungsregelung vorzusehen. 4 Die nähere Ausgestaltung regelt für den Haushalt des Bundes Artikel 115 mit der Maßgabe, dass Satz 1 entsprochen ist, wenn die Einnahmen aus Krediten 0,35 vom Hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt nicht überschreiten. 5 Die nähere Ausgestaltung für die Haushalte der Länder regeln diese im Rahmen ihrer verfassungsrechtlichen Kompetenzen mit der Maßgabe, dass Satz 1 nur dann entsprochen ist, wenn keine Einnahmen aus Krediten zugelassen werden.
(4) Durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können für Bund und Länder gemeinsam geltende Grundsätze für das Haushaltsrecht, für eine konjunkturgerechte Haushaltswirtschaft und für eine mehrjährige Finanzplanung aufgestellt werden.
(5) 1 Sanktionsmaßnahmen der Europäischen Gemeinschaft im Zusammenhang mit den Bestimmungen in Artikel 104 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin tragen Bund und Länder im Verhältnis 65 zu 35. 2 Die Ländergesamtheit trägt solidarisch 35 vom Hundert der auf die Länder entfallenden Lasten entsprechend ihrer Einwohnerzahl; 65 vom Hundert der auf die Länder entfallenden Lasten tragen die Länder entsprechend ihrem Verursachungsbeitrag. 3 Das Nähere regelt ein Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf.
I. Regelungsgegenstand und Systematik
Art. 109 ist eine fundamentale Konkretisierung des Bundesstaatsprinzips, in der sich auf dem Gebiet des Haushaltsrechts einerseits die Selbständigkeit von Bund und Ländern, andererseits aber auch das Erfordernis des bündischen Prinzips des Einstehens füreinander widerspiegeln (BVerfGE 86, 148 (264)). Die Neufassungen der Vorschrift im Zuge der Föderalismusreform I und II (Vor Art. 104a Rn. 4) zielen darauf, europarechtliche Verpflichtungen zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin umzusetzen (Abs. 2, 5) und einen materiell ausgeglichenen Haushalt ohne Staatsschulden zu ermöglichen (Abs. 3). Abs. 1 normiert den Grundsatz der Haushaltsautonomie, dh der getrennten Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern. Die Abs. 2, 5 verpflichten Bund und Länder gemeinsam, den Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt zu erfüllen und etwaige Sanktionsmaßnahmen zu tragen. Abs. 3 normiert mit der sog. Schuldenbremse den Grundsatz sowie die Ausnahmen vom Gebot materiell, dh ohne Kreditaufnahme ausgeglichener Haushalte. Nach Abs. 4 können durch Bundesgesetz für Bund wie Länder gemeinsam geltende Grundsätze für die Haushaltswirtschaft normiert werden.
II. Der Grundsatz der getrennten Haushaltswirtschaft (Abs. 1)
Der Begriff der Haushaltswirtschaft ist weit zu verstehen und bezieht sich auf alle Vorgänge, die staatliche Einnahmen und Ausgaben erfassen (DHS/Kube Art. 109 Rn. 32). Eingeschlossen ist auch die Kreditautonomie (Kramer/Hinrichsen/Lauterbach JuS 2012, 896 (900)). Der Grundsatz der Haushaltsautonomie wird im GG an zahlreichen Stellen durchbrochen (Art. 91a, 91b, 91c, 91e, 104a, 104b, 105–108, 109 II–V, 120, 120a, 143d). Die entspr. Finanzvorgänge fallen aber nicht bereits aus dem Begriff der Haushaltswirtschaft heraus, sondern schränken die Haushaltsautonomie lediglich ein (v. Münch/Kunig/Heintzen Art. 109 Rn. 12; aA aber wohl BVerfGE 101, 158 (220)), wobei die einschränkenden Normen wiederum im Lichte der Grundentscheidung des Art. 109 I restriktiv zu interpretieren sind (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 109 Rn. 3). Die Garantie der Selbständigkeit und der Unabhängigkeit sind synonym zu verstehen.
Die von Abs. 1 geforderte Eigenständigkeit und Eigenverantwortung der Haushaltswirtschaft (BVerfGE 86, 148 (264)) findet ihre Grenzen in den vorrangigen Spezialvorschriften des GG (Rn. 2), aber auch im Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens (BVerfGE 32, 199 (218 f.); 4, 115 (140)). Abs. 1 garantiert (v. Münch/Kunig/Heintzen Art. 109 Rn. 14) die Aufstellung getrennter Haushalte des Bundes und der Länder (formelle Haushaltsautonomie) sowie die Eigenverantwortlichkeit der haushaltsrechtlichen Entscheidungen ( materielle Haushaltsautonomie; → Art. 114 Rn. 10 zu den Auswirkungen der Haushaltsautonomie auf die Kontrollbefugnisse des BRH). Unzulässig sind daher eine fremde Kontrolle der Ausgabenwirtschaft (BVerfGE 1, 117 (133)) und Mit- oder Mischfinanzierungen (DHS/Kube Art. 109 Rn. 13 ff., 28 ff.), zulässig aber gerichtliche Verfahren gegen Haushaltsgesetze, die von einer anderen bundesstaatlichen Ebene initiiert werden (BVerfGE 20, 56 (94)). Unter dem Aspekt der getrennten Haushaltswirtschaft nicht unerheblichen Einwänden sind gemeinsame Anleihen von Bund und Ländern ausgesetzt (Deutschland-Bonds), sofern für die Rückzahlung nicht lediglich teilschuldnerisch, sondern gesamtschuldnerisch gehaftet wird (G. Kirchhof ZG 2012, 313 ff.).
Die kommunale Ebene ist als Teil der Länder vor einem Zugriff des Bundes geschützt. Die Gemeinden können sich zur Verteidigung ihrer haushaltsmäßigen Selbständigkeit gegenüber den Ländern hingegen nur auf Art. 28 II (Art. 28 Rn. 12 ff.) sowie die entspr. Garantien der Landesverfassungen berufen (Sachs/Siekmann Art. 109 Rn. 7). Im Verhältnis zur EU sind nunmehr die Bestimmungen des europäischen Stabilitätspakts zu beachten (Rn. 6).
III. Nationaler Stabilitätspakt, gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht und Haushaltswirtschaft (Abs. 2)
Abs. 2 schränkt die Bund und Ländern gewährleistete Haushaltsautonomie durch die Staatszielbestimmung (v. Münch/Kunig/Heintzen Art. 109 Rn. 18) ein, gemeinsam die Verpflichtungen der Bundesrepublik aus dem Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt zu erfüllen (Abs. 2 Hs. 1 – Nationaler Stabilitätspakt ). In diesem Rahmen ist auch den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen (Abs. 2 Hs. 2). Abs. 2 Hs. 1 geht ursprünglich auf die Föderalismusreform I (BT-Drs. 16/813, 8, 20) zurück und ist im Zuge der Föderalismusreform II (Vor Art. 104a Rn. 4) von Abs. 5 S. 1 aF an den derzeitigen Standort verschoben worden. Durch die Umstellung sollte der Zusammenhang zu der bereits zuvor in Abs. 2 geregelten Bindung der Haushaltswirtschaft an die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts deutlich gemacht werden (BT-Drs. 16/12410, 10).
Primärrechtliche Grundlage des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts ist nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Art. 126 AEUV (ex Art. 104 EGV). Konkretisiert werden die primärrechtlichen Verpflichtungen durch das Protokoll (Nr. 12) über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit sowie Sekundärrechtsakte (VO [EG] Nr. 1467/97; geänd. durch VO [EG] Nr. 1056/05; VO [EG] Nr. 1466/97 geänd. durch VO [EG] Nr. 1055/05), auf die in der Gesetzesbegründung der Föderalismusreform II explizit Bezug genommen wird (BT-Drs. 16/12410, 10). Der Europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt verpflichtet die Mitgliedstaaten, ihr Haushaltsdefizit auf 3 % des BIP und den Gesamtschuldenstand auf 60 % des BIP zu begrenzen. Um dies zu gewährleisten, errichtet er ein diffiziles System der Überwachung und ggf. auch finanziellen Sanktionierung der Haushaltsdisziplin (GKKK/Khan/Richter AEUV Art. 126 Rn. 9 ff.). Art. 126 II AEUV iVm Art. 2 lit. a, Art. 3 S. 1 des Protokolls (Nr. 12) über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit rechnet den Regierungen der Mitgliedstaaten auch die Defizite ihrer regionalen und lokalen Gebietskörperschaften sowie der Sozialversicherungsträger zu. Zu den Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aus Rechtsakten der EU, die auf Grund des Art. 126 AEUV zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin von Bund und Ländern gemeinsam zu erfüllen sind, zählen auch Mitteilungs- und Nachweispflichten (Art. 3 S. 3 des Protokolls). Einen Aufteilungsschlüssel enthält das GG lediglich in Art. 109 V für die Sanktionen, nicht hingegen für die Verteilung der Defizitgrenzen (BeckOK GG/Reimer Art. 109 Rn. 27).
Neben Art. 109 II wird der Begriff des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts auch noch in Art. 104b I Nr. 1 verwandt und ist gleichbedeutend zu verstehen (Art. 104b Rn. 7). Adressaten des Abs. 2 sind auch die Gemeinden als Teil der Länder (Dreier/Heun Art. 109 Rn. 34; aA Sachs/Siekmann Art. 109 Rn. 40: zulässig bleibt aber eine einfach-gesetzliche Inpflichtnahme). Die gerichtliche Überprüfung ist auf Fälle einer offensichtlichen Missachtung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts beschränkt (BVerfG [K] NVwZ 1990, 356 (357)). Als Staatszielbestimmung, die das Sozialstaatsprinzip konkretisiert, ist Art. 109 II Hs. 2 einer Abwägung mit anderen Verfassungsprinzipien zugänglich (DHS/Kube Art. 109 Rn. 88; s. auch MKS/G. Kirchhof Art. 109 Rn. 54) und keine eigenständige Eingriffsgrundlage im Verhältnis zum Bürger, vermag aber Grundrechtseingriffe zu legitimieren (MKS/G. Kirchhof Art. 109 Rn. 64).
IV. Materieller Haushaltsausgleich und Schuldenbremse (Abs. 3)
1. Grundkonzept
Art. 109 III steht im Zentrum der 2009 beschlossenen Föderalismusreform II (Vor Art. 104a Rn. 4) und markiert einen grdl. Paradigmenwechsel im Staatsschuldenrecht (Christ NVwZ 2009, 1333 (1339); ausf. Mayer AöR 136 [2011], 266 ff.; Kramer/Hinrichsen/Lauterbach JuS 2012, 896 ff.). Im Zuge des Vertrages über die Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (SKSV; → Vor Art. 104a Rn. 5) haben sich die EU-Mitgliedstaaten des Euro-Raumes auf eine europäische Schuldenbremse auf völkerrechtlicher Grundlage verständigt (Tappe/Wernsmann Rn. 502 ff.), die sich weitgehend mit den sich aus Art. 109, 115 und 143d ergebenden Anforderungen deckt (BVerfGE 132, 195 (278 ff.)). Um eine Lastenverschiebung auf zukünftige Generationen zu vermeiden, war vor der Föderalismusreform II auf Ebene des Bundes durch Art. 115 I aF (wie idR auch im Verfassungsrecht der Länder) eine Nettokreditaufnahme nur bis zur Höhe der im Haushalt veranschlagten Investitionen zulässig („goldene Regel“; s. BT-Drs. 16/12410, 5). Dahinter stand die Vorstellung, zukünftige Zins- und Tilgungslasten durch die „Rendite“ der kreditfinanzierten Neuinvestitionen zu begleichen. Gescheitert ist dieses Konzept u. a. an einem fragwürdigen (Brutto-)Investitionsbegriff, zu weit gefassten Ausnahmeregelungen im Falle von konjunkturellen Störungen sowie einer fehlenden Verpflichtung, die zur Abwehr einer „Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ aufgenommenen Schulden in konjunkturellen Erholungsphasen zurückzuführen (BT-Drs. 16/12410, 5). Zudem konnte die Verschuldungsobergrenze durch die Einrichtung von Sondervermögen des Bundes gem. Art. 115 II a. F. umgangen werden (Friauf/Höfling/Pünder Art. 115 Rn. 80; BVerfG NVwZ 2023, 1892 (1901)).
Die Neuregelung wählt mit der sog. Schuldenbremse einen vollständigen Neuansatz, um ein weiteres Anwachsen der Staatsverschuldung zu vermeiden und die Verpflichtungen der Bundesrepublik aus dem Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt (Art. 126 AEUV; ex Art. 104 EGV) zu erfüllen. Ausgangspunkt ist danach der sowohl für die Haushalte des Bundes wie der Länder geltende Grundsatz eines ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichenden Haushalts (Art. 109 III 1 – sog. materieller Haushaltsausgleich – im Unterschied zum nur formellen Haushaltsausgleich des Art. 110 I 2; → Art. 110 Rn. 7). Die früher dem Bund eröffnete Möglichkeit, Sondervermögen mit eigener Kreditermächtigung einzurichten (Art. 115 II aF), ist entfallen (BT-Drs. 16/12410, 7, 13). Vielmehr umfasst das Verbot struktureller Neuverschuldung auch juristisch unselbstständige Nebenhaushalte (BVerfG NVwZ 2023, 1892 (1901)).
Die Verpflichtung, den Haushalt ohne Kredite auszugleichen, gilt allein für den Bund sowie für die Länder, nicht hingegen für die Kommunen und Sozialversicherungen. Deren Verschuldung wird allein durch die allg. Regelung des Art. 109 II reguliert (BT-Drs. 16/12410, 10 f.; Jarass/Pieroth/Jarass Art. 109 Rn. 12; für eine gegenständliche Einbeziehung der kommunalen Haushalte aber mit beachtlichen Argumenten BeckOK GG/Reimer Art. 109 Rn. 52c). Zu beachten ist die Schuldenbremse nicht allein bei der Aufstellung, sondern ebenso beim Vollzug des Haushalts (BT-Drs. 16/12410, 5, 7). Das Verbot der Neuverschuldung in Art. 109 III 1 hat Verfassungsrang, muss aber mit anderen verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und Instituten entsprechend dem Grundsatz praktischer Konkordanz im Wege der Abwägung zu einem schonenden Ausgleich gebracht werden. Zu Letzteren gehört auch der Grundsatz der amtsangemessenen Alimentation nach Art. 33 V (BVerfGE 140, 240 Rn. 108 ff.; → Art. 33 Rn. 33 ff.). Mit der Konsolidierung des Haushalts verfolgt der Gesetzgeber wichtige Gemeinwohlinteressen (BSG SBb 2014, 266 Rn. 27). Der Begriff des Kredits ist nicht vollständig mit dem des Art. 115 I (Art. 115 Rn. 2 f.) deckungsgleich (aA BeckOK/Reimer Art. 109 Rn. 55). Hinsichtlich Art. 109 III 1 gilt das Nettoprinzip, sodass Kredite, die zur Tilgung bzw. Umschuldung verwendet werden, außer Betracht bleiben (Tappe/Wernsmann Rn. 441). Nicht erfasst sind ferner Kassenverstärkungskredite (Tappe/Wernsmann Rn. 441; krit. Mayer AöR 136 [2011], 266 (306 ff.)). Alternative Finanzierungsformen unterliegen zwar nach Art. 115 I („sonstige Gewährleistungen“) einem Gesetzesvorbehalt, sind aber grds. nicht durch Art. 109 III 1, 115 II erfasst (Friauf/Höfling/Pünder Art. 115 Rn. 83; Tappe/Wernsmann Rn. 443 f.; s. auch BVerfGE 129, 124 (182)). Eine Übernahme von Schulden Dritter muss jedenfalls dann einbezogen werden, wenn sich die Einschaltung eines Dritten als ein Umgehungsgeschäft darstellt (für eine Missbrauchsgrenze v. Münch/Kunig/Heintzen Art. 109 Rn. 47; noch strenger BeckOK GG/Reimer Art. 109 Rn. 56b).
2. Konkretisierung und Durchbrechungen
Bedeutung und Tragweite des Grundsatzes des materiellen Haushaltsausgleichs des Art. 109 III 1 erschließen sich erst in der Zusammenschau mit den weiteren Regelungen, die die Grundregel näher konkretisieren und Ausnahmen zulassen (Abs. 3 S. 2–4; → Rn. 12; → Art. 115 Rn. 5 ff.; → Art. 143d Rn. 3 ff.). Dabei wird zT zwischen der Ebene des Bundes und der Ebene der Länder differenziert (Rn. 16 f.). In temporaler Hinsicht wurde der Übergang vom alten System des Staatsschuldenrechts auf den neuen Rechtszustand in Art. 143d durch ein System abgestufter Interimsregelungen abgefedert, sodass die Schuldenbremse auf Ebene des Bundes erst im Haushaltsjahr 2016 und auf Ebene der Länder erst im Haushaltsjahr 2020 ihre volle Wirksamkeit entfaltet hat (Art. 143d Rn. 3 f.). Allein dem Bund, nicht hingegen den Ländern ist nach Maßgabe des Abs. 3 S. 4 eine strukturelle Neuverschuldung in Höhe von 0,35 % des nominalen BIP gestattet (Rn. 17; → Art. 115 Rn. 5 ff.).
Art. 109 III 2, 3 gestattet, den Grundsatz des materiellen Haushaltsausgleichs zu durchbrechen, um durch eine erhöhte Kreditaufnahme eine antizyklische Konjunkturpolitik zu ermöglichen sowie außergewöhnliche Notsituationen zu überwinden. Die Ausübung dieser Befugnis ist an eine nähere Ausgestaltung gebunden, die gem. Art. 109 III 4 auf Ebene des Bundes in Art. 115 II geregelt ist und nach Art. 115 II 4 durch den Bundesgesetzgeber konkretisiert werden muss. Die nähere Ausgestaltung auf Ebene der Länder bleibt deren Verfassungsautonomie überlassen (Art. 109 III 4).
Grundgedanke der durch Art. 109 III 2 Hs. 1 ermöglichten antizyklischen Konjunkturpolitik ist es, die Wirtschaftstätigkeit in der Abschwungphase durch erhöhte kreditfinanzierte Staatsausgaben anzuregen. In der Aufschwungphase soll die Staatsverschuldung durch wachsende Steuereinnahmen und sinkende Staatsausgaben zurückgeführt werden (Scholl DÖV 2010, 160 (164 f.)). Um eine Konsolidierung sicherzustellen, muss eine Regelung, die zusätzliche konjunkturbedingte Defizite gestattet, mit der Verpflichtung zur Einbeziehung konjunkturbedingter Überschüsse im Aufschwung verbunden werden, sodass mittel- bis langfristig Kreditaufnahmen im Abschwung durch Überschüsse im Aufschwung ausgeglichen werden (BT-Drs. 16/12410, 11 f.). Den Grundsatz der amtsangemessenen Alimentierung aus rein finanziellen Gründen zur Bewältigung einer der in Art. 109 III 2 genannten Ausnahmesituationen einzuschränken, ist nur zulässig, wenn dies ausweislich einer aussagekräftigen Begründung in den Gesetzgebungsmaterialien Teil eines schlüssigen und umfassenden Konzepts der Haushaltssanierung ist (BVerfGE 140, 240 Rn. 110).
In Art. 109 III 2 Hs. 2 ist eine weitere Ausnahmeregelung für Naturkatastrophen oder andere außergewöhnliche Notsituationen vorgesehen, um die Handlungsfähigkeit des Staates zur Krisenbewältigung zu gewährleisten. Das BVerfG billigt dem Gesetzgeber sowohl auf Tatbestands- wie auf Rechtsfolgenseite erhebliche Einschätzungs- und Beurteilungsspielräume zu (Rn. 15), denen Darlegungslasten im Gesetzgebungsverfahren entsprechen (BVerfG NVwZ 2023, 1892 (1898)). Macht der Gesetzgeber wiederholt innerhalb eines Haushaltsjahres oder innerhalb aufeinanderfolgender Haushaltsjahre von der Möglichkeit notlagenbedingter Kreditmittel Gebrauch, so wachsen auch die Anforderungen an seine Darlegungslasten (BVerfG NVwZ 2023, 1892 (1899)). Der Begriff der Naturkatastrophe entspricht dem des Art. 35 II 2, III (Art. 35 Rn. 5). Er bezeichnet unmittelbar drohende Gefahrenzustände oder Schädigungen von erheblichem Ausmaß, die durch Naturereignisse ausgelöst werden, wie etwa Erdbeben, Hochwasser, Unwetter, Dürre oder Massenerkrankungen (BT-Drs. 16/12410, 11 (13); BVerfG NVwZ 2023, 1892 (1893)). Die Entstehungsgeschichte zeigt, dass auch für Naturkatastrophen die einschränkenden Anforderungen für Notsituationen iSd Vorschriften gelten, dh die Naturkatastrophe muss außergewöhnlich sein, sich der Kontrolle des Staates entziehen und den Haushalt erheblich beeinträchtigen (BT-Drs. 16/12410, 11; BVerfG NVwZ 2023, 1892 (1893 f.)). Anthropogene Katastrophen auszuklammern, wozu insbesondere der menschengemachte globale Klimawandel zählt, führt zu kaum bewältigbaren Abgrenzungsproblemen und kann daher nicht überzeugen (aA BeckOK GG/Reimer Art. 109 Rn. 65; Schneider/Stüber DÖV 2021, 836 (840)). Bsp. für außergewöhnliche Notsituationen sind besonders schwere Unglücksfälle i. S. d. Art. 35 II 2, III, aber auch Ereignisse von „positiver historischer Tragweite“, die wie die deutsche Wiedervereinigung einen erheblichen Finanzbedarf auslösen. Als ein weiteres mögliches Anwendungsbeispiel verweist die Gesetzesbegründung auf eine plötzliche Beeinträchtigung der Wirtschaftsabläufe in einem extremen Ausmaß aufgrund eines exogenen Schocks, wozu ausdrücklich die 2007 einsetzende Finanzkrise (Vor Art. 104a Rn. 5) zählen soll (BT-Drs. 16/12410, 11; BVerfG NVwZ 2023, 1892 (1893)). Unstreitig dürfte auch die Einbeziehung von Epidemien und Pandemien sein (BeckOK GG/Reimer Art. 109 Rn. 66.1; zur Corona-Pandemie nur BVerfG NVwZ 2023, 1892 (1902)). Zyklische Konjunkturverläufe werden hingegen allein durch Art. 109 II 2 Hs. 1 erfasst (BT-Drs. 16/12410, 11; BVerfG NVwZ 2023, 1892 (1894)). Die Abgrenzung hat der Haushaltsgesetzgeber nachvollziehbar darzulegen (BVerfG NVwZ 2023, 1892 (1899, 1904)). Der Anlass für die Durchbrechung der Schuldenbremse muss sich der Kontrolle des Staates entziehen. Dies schließt die Aufnahme von Notkrediten aus, die Krisen bewältigen sollen, die bereits lange absehbar waren oder gar von der öffentlichen Hand verursacht wurden (BVerfG NVwZ 2023, 1892 (1894)). Ob dies die Aufnahme von Krediten zur Bewältigung der Folgen des anthropogenen Klimawandels ausschließt, erscheint zweifelhaft, weil auch eine Dauergefahr eine unmittelbar drohende Gefahr sein kann. Das Erfordernis der erheblichen Beeinträchtigung bezieht sich auf eine Beeinträchtigung der Finanzsituation, sei es durch den Aufwand zur Schadensbeseitigung oder aus dem etwaigen Aufwand für vorbeugende Maßnahmen (BVerfG NVwZ 2023, 1892 (1894)). Zwischen der Notsituation und dem Neuverschuldungsbedarf muss eine kausale Beziehung bestehen (BVerfG NVwZ 2023, 1892 (1894)).
Ist der Tatbestand des Art. 109 III 2 Hs. 2 erfüllt, ist dem Haushaltsgesetzgeber keine grenzen- und maßstabslose Kreditaufnahme gestattet (BVerfG NVwZ 2023, 1892 (1896)). Die Überschreitung der regulären Kreditaufnahmegrenze ist nur im Hinblick auf diese spezifisch notlagenbezogenen Maßnahmen zulässig (BVerfG NVwZ 2023, 1892 (1897)). Der geforderte Veranlassungszusammenhang zwingt aber nicht dazu, die notlagenbedingte Kreditaufnahme auf die Beseitigung der unmittelbaren Folgen einer Notlage zu beschränken (BVerfG NVwZ 2023, 1892 (1897)). Die Entscheidung des Haushaltsgesetzgebers muss zur Krisenbewältigung geeignet sein, allein politisch zu verantworten ist aber die Erforderlichkeit und Angemessenheit der Kreditaufnahme, sodass der Gesetzgeber auch nicht von Verfassungs wegen zur Ausschöpfung anderer Konsolidierungsspielräume gehalten ist (BVerfG NVwZ 2023, 1892 (1898)).
Um die Kompensation eines erhöhten Kreditbedarfes sicher zu stellen, verpflichtet Art. 109 III 3 den Haushaltsgesetzgeber, eine erhöhte Nettokreditaufnahme mit einem Tilgungsplan zu versehen, der die Rückführung der oberhalb der Regelgrenzen liegenden Kreditaufnahmen verbindlich regelt (BT-Drs. 16/12410, 11). Hinsichtlich der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte ist zu differenzieren. In vollem Umfang justiziabel sind die Tatbestandsvoraussetzungen der Naturkatastrophe oder außergewöhnlichen Notlage, nur eingeschränkt überprüfbar hingegen das Erfordernis der erheblichen Beeinträchtigung. Gleiches gilt auf Rechtsfolgenseite für die Ausgestaltung der Maßnahmen zur Bekämpfung, Anpassung und Nachsorge der Notsituation (BVerfG NVwZ 2023, 1892 (1897)). Allerdings verengt sich der Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum, je weiter das auslösende Ereignis in der Vergangenheit liegt und je entfernter die Folgen sind (BVerfG NVwZ 2023, 1892 (1897, 1903)). Ein Verstoß gegen Art. 109 III 2 führt nicht allein zu einer Unvereinbarkeitserklärung, sondern zur Nichtigkeit des Gesetzes (BVerfG NVwZ 2023 1892 (1906)).
3. Konkretisierungskompetenz und strukturelle Verschuldung
Für die nähere Ausgestaltung der Schuldenbremse auf Bundesebene verweist Art. 109 III 4 auf Art. 115 II (Art. 115 Rn. 5 ff.). Der Grundsatz des ausgeglichenen Haushalts ist für den Bund gem. Art. 109 III 4 auch dann noch erfüllt, wenn die Einnahmen aus Krediten in der konjunkturellen Normallage 0,35 % des nominalen BIP nicht übersteigen. Damit wird dem Bund die Option einer beschränkten strukturellen Verschuldung eröffnet. Die Erwartung des verfassungsändernden Gesetzgebers, hiermit könnten Impulse für eine dauerhafte Stärkung von Wachstum und nachhaltiger Entwicklung gesetzt werden (BT-Drs. 16/12410, 11), ist rechtlich nicht erzwingbar. BIP ist die Summe aller in der Bundesrepublik hergestellten Waren und erbrachten Dienstleistungen, die innerhalb eines Jahres in Deutschland hergestellt werden und keine Vorleistungen sind (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 115 Rn. 8). Nominal bedeutet, dass die Rechengröße nicht um einen Inflationsausgleich bereinigt werden darf, sodass Marktpreise anzusetzen sind. Als Bezugspunkt hat § 4 S. 2 G 115 in verfassungskonformer Weise das Jahr bestimmt, das dem Haushaltsjahr voran geht.
Die Ausgestaltung der Schuldenbremse auf Ebene der Länder überlässt Art. 109 III 5 deren (Verfassungs-)Autonomie (Tappe/Wernsmann Rn. 477 mwN zur zT auch einfachgesetzlichen „Umsetzung“ in den Ländern; BeckOK GG/Reimer Art. 109 Rn. 79 ff.). Abw. von der Bundesebene wird den Ländern aber keine begrenzte strukturelle Neuverschuldung zugebilligt (Rn. 11). Regeln können die Länder insbes. die Bereinigung der Einnahmen und Ausgaben um finanzielle Transaktionen sowie die Kontrolle und den Ausgleich von Abweichungen der tatsächlichen von der zulässigen Kreditaufnahme (BT-Drs. 16/12410, 12). Art. 109 III führt aus Sicht der Länder zu einer empfindlichen Einschränkung ihrer Haushaltsautonomie, ist iE aber keinen verfassungsrechtlichen Einwänden ausgesetzt (Scholl DÖV 2010, 160 (168 f.) mwN).
V. Grundsätze der Haushaltswirtschaft (Abs. 4)
Art. 109 IV (vor der Föderalismusreform II Abs. 3; → Vor Art. 104a Rn. 4) ermächtigt den Bund, durch Bundesgesetz für Bund und Länder gemeinsam geltende Grundsätze der Haushaltswirtschaft für das Haushaltsrecht, die konjunkturgerechte Haushaltswirtschaft sowie die mehrjährige Finanzplanung aufzustellen. Mit Rücksicht auf die Haushaltsautonomie der Länder ist die Regelungsbefugnis an die Zustimmung des BRats gebunden. Von der Ermächtigung hat der Bund durch das HGrG (zul. geänd. durch Art. 10 Gesetz v. 14.8.2017, BGBl. I 3122), das StabG (zul. geänd. durch Art. 267 VO v. 31.8.2015, BGBl. I 1474) und die BHO (zul. geänd. durch Art. 2 Gesetz v. 1.7.2022, BGBl. I 1030) Gebrauch gemacht.
Innerhalb der Normhierarchie des GG nimmt die Grundsatzgesetzgebung nach Abs. 4 eine Sonderstellung ein, weil der Grundsatz lex posterior derogat legi priori durchbrochen wird (MKS/G. Kirchhof Art. 109 Rn. 115). Die Grundsatzgesetzgebung bindet damit nicht nur die Länder einschließlich der Gemeinden, sondern auch den Bundesgesetzgeber selbst (Dreier/Heun Art. 109 Rn. 57; BT-Drs. 5/3040, 38; aA Sachs/Siekmann Art. 109 Rn. 100). In Parallele zu Art. 106 IV 3 hat er sich auf die Normierung von Grundsätzen zu beschränken (v. Münch/Kunig/Heintzen Art. 109 Rn. 51; Jarass/Pieroth/Jarass Art. 109 Rn. 22). Als Ermächtigungsgrundlage für Normen mit unmittelbarer Außenwirkung kommt Art. 109 IV nicht in Betracht (Sachs/Siekmann Art. 109 Rn. 107). Die Regelungen nach Abs. 3 müssen für Bund und Länder einheitliche Grundsätze enthalten.
Gegenständlich umfassen die Grundsätze des Haushaltsrechts die gesamte Haushaltswirtschaft einschließlich der Regelungen des materiellen Haushaltsrechts (v. Münch/Kunig/Heintzen Art. 109 Rn. 54; enger Sachs/Siekmann Art. 109 Rn. 91). Zur Vermeidung einer Haushaltsnotlage können dies etwa Vorgaben bei der Kreditfinanzierung sein (BVerfGE 86, 148, (266 f.)). Eine konjunkturgerechte Haushaltswirtschaft steht in enger Verbindung zu dem in Art. 109 II, III rezipierten Modell der antizyklischen Globalsteuerung. Grundsätze der mehrjährigen Finanzplanung sind in §§ 9 I, 14 StabG, §§ 50, 51 HGrG normiert worden (BeckOK GG/Reimer Art. 109 Rn. 90.2).
VI. Sanktionsmöglichkeiten (Abs. 5)
Abs. 5 S. 1, 2 verteilt die finanziellen Lasten von Sanktionsmaßnahmen bei Missachtung des Europäischen Wachstums- und Stabilitätspakts (Art. 126 XI AEUV) in vertikaler und in horizontaler Richtung. Vertikal hat der Bund nach Abs. 5 S. 2 einen Anteil von 65 % und die Gesamtheit der Länder einen Anteil von 35 % zu tragen. Horizontal werden nach Abs. 5 S. 3 Hs. 1 35 % der von den Ländern zu übernehmenden Gesamtlast nach der Einwohnerzahl aufgeteilt. Als Verteilungsmaßstab der übrigen 65 % gibt Abs. 5 S. 3 Hs. 2 den Verursachungsbeitrag der Länder vor.
Auf Grundlage des Regelungsvorbehalts des Abs. 5 S. 3 wurde der Sanktionsschlüssel im Sanktionszahlungs-Aufteilungsgesetz näher konkretisiert (Art. 14 Gesetz v. 5.9.2006, BGBl. I 2098). Nach der Föderalismusreform II erstreckt sich der Regelungsauftrag nur noch auf die Verteilung der Sanktionslasten (BeckOK GG/Reimer Art. 109 Rn. 102; Dreier/Heun Art. 109 Rn. 65).