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Artikel 112 [Überplanmäßige und außerplanmäßige Ausgaben]

1 Überplanmäßige und außerplanmäßige Ausgaben bedürfen der Zustimmung des Bundesministers der Finanzen. 2 Sie darf nur im Falle eines unvorhergesehenen und unabweisbaren Bedürfnisses erteilt werden. 3 Näheres kann durch Bundesgesetz bestimmt werden.

I. Regelungsgegenstand und systematische Stellung

Mit Rücksicht auf die Autonomie des Haushaltsgesetzgebers ist Art. 112 eine grds. eng auszulegende Ausnahmevorschrift zu Art. 110 II. Die subsidiäre Notkompetenz des Art. 112 S. 1 ermächtigt den Bundesminister für Finanzen, die Verwaltung unter tatbestandsmäßig eng umrissenen Voraussetzungen des S. 2 von den Bindungen an den vom Gesetzgeber beschlossenen Haushaltsplan zu befreien, sofern eine parlamentarische Bewilligung zu spät käme (BVerfGE 45, 1 (36 f.); 135, 317 (417)). S. 3 gibt dem Bund die Kompetenz, die Erfordernisse der S. 1 und 2 durch Gesetz zu konkretisieren. Verstöße gegen Art. 112 können vom BT und prozessstandschaftlich von den Fraktionen im Organstreitverfahren geltend gemacht werden (v. Münch/Kunig/Heintzen Art. 112 Rn. 13). Antragsgegner können sowohl der Bundesminister für Finanzen, aber auch die BReg sein, die grds. für das Verhalten des Bundesministers für Finanzen einzustehen hat (BVerfGE 45, 1 (28, 45 ff., 48 ff.)).

II. Anwendungsbereich (S. 1)

Art. 112 S. 1 ermächtigt die Exekutive, über- sowie außerplanmäßige Ausgaben zu leisten (instruktiv Kalb/Roßner NVwZ 2012, 1071). Überplanmäßig sind solche Ausgaben, für die im Haushaltsplan ein Ansatz vorhanden ist, die diesen jedoch überschreiten (DHS/Kube Art. 112 Rn. 24). Ausgaben sind außerplanmäßig, wenn für sie überhaupt kein Ansatz vorhanden ist (Sachs/Siekmann Art. 112 Rn. 7). Eingeschlossen sind auch rechtserhebliche oder tatsächliche Maßnahmen, durch die dem Bund Verpflichtungen entstehen können, für die keine Ausgaben im Haushaltsplan vorgesehen sind, sowie Verpflichtungsermächtigungen (§§ 37 II, 38 I 2 BHO; DHS/Kube Art. 112 Rn. 32; v. Münch/Kunig/Heintzen Art. 112 Rn. 3), nicht jedoch über- bzw. außerplanmäßige Kreditaufnahmen (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 112 Rn. 1). In der etatlosen Periode nach Art. 111 ist Art. 112 ebenfalls anwendbar (BVerfGE 45, 1 (37); aA BK/Gröpl Art. 112 Rn. 91). Da in diesem Zeitraum kein Haushaltsplan existiert, gilt Art. 112 S. 1 mit der Maßgabe, dass eine Ausgabe außerplanmäßig ist, wenn sie nicht durch Art. 111 gedeckt ist (BVerfGE 45, 1 (37)).

III. Zustimmung durch den Bundesminister der Finanzen (S. 1)

Über- und außerplanmäßige Ausgaben bedürfen der Zustimmung des Bundesministers für Finanzen. Trotz Unvorherseh- und Unabweisbarkeit (Rn. 4 ff.) muss die Zustimmung grds. vor Leistung der Ausgaben ergehen (Sachs/Siekmann Art. 112 Rn. 26); eine rückwirkende Zustimmung mit heilender Wirkung ist möglich (§ 116 II BHO; v. Münch/Kunig/Heintzen Art. 112 Rn. 8). Die Zustimmung ist weder form- noch fristgebunden. Die Kompetenz des Bundesministers für Finanzen ist nachrangig zur Feststellungskompetenz des Haushaltsgesetzgebers (BVerfGE 45, 1 (37 ff.); s. aber § 37 I 4 BHO). Den Bundesminister für Finanzen trifft in verfahrensrechtlicher Hinsicht eine besondere Kommunikations- und Konsultationspflicht zum Zwecke der Prüfung, ob eine im Hinblick auf die zeitliche Dringlichkeit des Bedürfnisses rechtzeitige Bewilligung durch den Gesetzgeber in einem Nachtrags- oder Ergänzungshaushaltsgesetz möglich ist (BVerfGE 45, 1 (37 ff.)). Dagegen steht dem Parlament kein Vetorecht gegen die Ausübung der Notkompetenz zu (DHS/Kube Art. 112 Rn. 76; aA BeckOK GG/Reimer Art. 112 Rn. 38). Bei beabsichtigter Zustimmung ist der Bundesminister für Finanzen verpflichtet, die Richtlinienkompetenz des BKanzlers nach Art. 65 S. 1 und die Kompetenzen der BReg nach Art. 65 S. 3 zu beachten; bei Ausgaben von erheblichem Gewicht muss er aufgrund der Haushaltsverantwortung der BReg diese informieren und einen positiven Beschl. der BReg (Kabinettsprinzip) einholen (BVerfGE 45, 1 (47 f.); v. Münch/Kunig/Heintzen Art. 112 Rn. 10; aA MKS/Schwarz Art. 112 Rn. 32, 34). Dagegen kann die BReg den Bundesminister für Finanzen nicht zwingen, einer Ausgabe nach Art. 112 zuzustimmen (BVerfGE 45, 1 (49)). Einer nachträglichen Genehmigung durch das Parlament bedarf es nicht (MKS/Schwarz Art. 112 Rn. 39).

IV. Unvorhergesehenes und unabweisbares Bedürfnis (S. 2)

Tatbestandlich setzt S. 2 ein unvorhergesehenes und unabweisbares Bedürfnis voraus. Für eine Fehleinschätzung hat auch die BReg einzustehen (BVerfGE 45, 1 (48 f.)). Bei der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte des Tatbestandes ist zu differenzieren: Ob ein Bedürfnis für Ausgaben besteht, beantwortet sich nach politischen Wertungen, weshalb hier allein die Grenze offensichtlicher Unvertretbarkeit zu beachten ist (BVerfGE 45, 1 (39)). Dagegen unterliegen die Tatbestandsvoraussetzungen der Unvorhersehbarkeit und Unabweisbarkeit der vollen verfassungsgerichtlichen Überprüfung (BVerfGE 45, 1 (39)).

Unvorhergesehen ist ein Bedürfnis, das gleich aus welchen Gründen vom Bundesminister für Finanzen oder der BReg bei der Aufstellung des Haushaltsplanes oder vom Gesetzgeber bei dessen Beratung und Feststellung nicht vorhergesehen wurde oder dem durch Veränderung der Sachlage eine nicht vorhergesehene gesteigerte Dringlichkeit zukommt (BVerfGE 45, 1 (35)). Maßgebend ist die tatsächliche Kenntnis des Bundesministers für Finanzen, der BReg oder des Haushaltsgesetzgebers (v. Münch/Kunig/Heintzen Art. 112 Rn. 7); die Kenntnis nachgeordneter Stellen ist irrelevant (BVerfGE 45, 1 (35 f.)). Bei Bedürfnissen, die bekannt waren, eine entspr. Ausgabe vom BT aber abgelehnt wurde, ist die Unvorhersehbarkeit nur dann gegeben, wenn sich die Grundlage der Entscheidung im Nachhinein wesentlich geändert hat (v. Münch/Kunig/Heintzen Art. 112 Rn. 7).

Unabweisbar ist ein Bedürfnis, wenn eine Ausgabe sachlich unbedingt notwendig und zugleich zeitlich unaufschiebbar ist, dh ohne Beeinträchtigung schwerwiegender politischer, wirtschaftlicher oder sozialer Staatsinteressen nicht mehr zeitlich aufgeschoben werden kann (BVerfGE 45, 1 (36 f.)). Je größer der bereitzustellende Betrag ist, umso bedeutsamer müssen die zu beurteilenden Staatsinteressen sein (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 112 Rn. 8). Die Mehrausgabe muss so eilbedürftig sein, dass die Einbringung eines Nachtragshaushaltsplanes, eines Ergänzungshaushaltsplanes oder die Zurückstellung bis zum nächsten Haushaltsgesetz nicht mehr vertretbar ist (§ 37 I 3 BHO; BVerfGE 45, 1 (37); 135, 317 (418); DHS/Kube Art. 112 Rn. 7; Kalb/Roßner NVwZ 2012, 1071 (1072)). Eine Missachtung der Grenzen des Art. 112 führt nicht zur Unwirksamkeit der darauf basierenden Verträge (Kalb/Roßner NVwZ 2012, 1071 (1073); aA Wolff NJW 2012, 812 (815)).

V. Gesetzliche Regelungsbefugnis (S. 3)

Die allein an den Bundesgesetzgeber adressierte Regelungsermächtigung des S. 3 ist nicht durch ein spezielles Gesetz, sondern insbes. durch § 37 BHO ausgefüllt worden. Eine Verpflichtung zur Gesetzgebung besteht nicht (BVerfGE 79, 311 (352)). Die Regelungsbefugnis erlaubt es lediglich, die Anforderungen der S. 1 und 2 zu konkretisieren, nicht aber substantiell von diesen abzuweichen. Zulässig ist die Festlegung von Bagatellgrenzen (BVerfGE 45, 1 (39); s. § 37 I 4, § 38 I 3 BHO).