Artikel 18 [Verwirkung von Grundrechten]
1 Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte. 2 Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.
I. Allgemeines
Art. 18 ist ein deutsches Unikat (vgl. aber zu ähnlichen Regelungen in anderen Ländern Dreier/Wittreck Art. 18 Rn. 18 f.) und dient der Abwehr von Gefahren, die der freiheitlichen demokratischen Grundordnung durch individuelle Betätigung drohen (BVerfGE 25, 44 (60)). Er richtet sich gegen den Einzelnen, der kraft seiner Fähigkeiten und der ihm zur Verfügung stehenden Mittel eine um der Erhaltung der Verfassung willen zu bekämpfende Gefahr schafft (BVerfGE 25, 44 (60)). Für Art. 18 ist „die Gefährlichkeit des Antragsgegners im Blick auf die Zukunft entscheidend“ (BVerfGE 38, 23 (24); vgl. bereits BVerfGE 11, 282 (283)). Ist sie während des Verwirkungsverfahrens gegeben, so lässt sich idR annehmen, dass von dem Antragsgegner auch in Zukunft eine Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung ausgehen wird. Eine Gefährlichkeit in diesem Sinne darzutun, ist Sache des Antragstellers. Gelingt das zunächst nicht und kann dem Antragsgegner erneut ein Missbrauch der Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vorgeworfen werden, so ist es in einem neuen Verfahren nach Art. 18 zulässig, auch auf diejenigen Vorgänge zurückzugreifen, die einem Erstverfahren zugrunde lagen (BVerfGE 11, 282 (283); 38, 23 (24 f.)). Die praktische Bedeutung der Vorschrift ist äußerst gering (v. Münch/Kunig/Krebs/Kotzur Art. 18 Rn. 32; MKS/Brenner Art. 18 Rn. 12; Sachs/Pagenkopf Art. 18 Rn. 7). Eine Verwirkung von Grundrechten wurde bislang noch nicht ausgesprochen (s. zu zwei erfolglosen Anträgen BVerfGE 11, 282 f.; 38, 23 ff.).
II. Voraussetzungen einer Verwirkungsentscheidung
Art. 18 begründet im Rahmen seines Anwendungsbereiches ein Entscheidungsmonopol des BVerfG. Die Norm steht Staatsschutzentscheidungen sonstiger Stellen nur dann entgegen, wenn die Entscheidung dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung dient und eine Verwirkung von Grundrechten im technischen Sinn ausspricht. Umstr. ist, ob ein Berufsverbot einer Verwirkung gleichkommt (dagegen BGHSt 17, 38 (41 ff.); dafür Sondervotum BVerfGE 63, 266 (307 f.)).
Die Zulässigkeit eines Antrages auf Erlass einer Verwirkungsentscheidung richtet sich nach den §§ 36–41 BVerfGG. Danach sind antragsberechtigt der BT, die BReg und die Landesregierungen. Antragsgegenstand ist die Feststellung der Verwirkung eines Grundrechts wegen möglichen Missbrauchs zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Antragsgegner können alle natürlichen und unter Berücksichtigung von Art. 19 III auch juristische Personen sein. Für politische Parteien wird Art. 18 durch Art. 21 II verdrängt (BVerfGE 25, 44 (59 f.)). Hingegen bleibt Art. 18 neben Art. 9 II anwendbar (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 18 Rn. 2; vgl. zum Verhältnis des Art. 18 zu anderen Bestimmungen des Grundgesetzes ausf. MKS/Brenner Art. 18 Rn. 72 ff.).
Voraussetzung der Verwirkung ist der Missbrauch eines der in Art. 18 genannten Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung des Grundgesetzes (Stern/Sodan/Möstl/Gärditz § 92 Rn. 10). Die Bestimmung dieses Begriffs erfordert nach einem Urt. des BVerfG v. 17.1.2017 eine „Konzentration auf wenige, zentrale Grundprinzipien, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich sind“ (BVerfGE 144, 20 (205) – NPD-Verbotsverfahren; näher Art. 21 Rn. 36 f.). Das in Art. 18 genannte Verhalten muss zukunftsbezogen (BVerfGE 11, 282 (283); 38, 23 (24 f.)) zu einer Gefährdung der Grundordnung führen. Notwendig ist damit eine Prognose über die künftige Gefährlichkeit (vgl. Sachs/Pagenkopf Art. 18 Rn. 15). Das Tatbestandsmerkmal Kampf setzt ein aktiv-kämpferisches, aggressives Handeln voraus, das auf die Beseitigung der bestehenden Grundordnung gerichtet ist (MKS/Brenner Art. 18 Rn. 32). Ein Missbrauch liegt vor, wenn die Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung eingesetzt werden; ein solches Verhalten impliziert den Missbrauch (MKS/Brenner Art. 18 Rn. 34; Stern/Sodan/Möstl/Gärditz § 92 Rn. 11 f.).
Für verwirkt erklärt werden können lediglich die in Art. 18 genannten Grundrechte ( Enumerationsprinzip, s. MKS/Brenner Art. 18 Rn. 43 ff.; v. Münch/Kunig/Krebs/Kotzur Art. 18 Rn. 12 ff.). Die Tatsache der Überlagerung von Bereichen verschiedener Grundrechte darf jedoch nicht dazu führen, dass der von Art. 18 gewollte Schutz der Grundordnung überhaupt nicht durchgesetzt wird. Hängt ein Grundrecht notwendig mit dem aberkannten Grundrecht zusammen, darf daran die Aberkennungsentscheidung nicht scheitern, es sei denn, dass der mitbetroffene Grundrechtsbereich sich gegenüber dem beabsichtigten Schutz des Staates als vorrangig erweist. Es liefe dem Zweck des Art. 18 zuwider, Schutzmaßnahmen zu unterlassen, wenn der Betroffene den politischen Kampf sogar berufsmäßig führt (BVerfGE 25, 88 (97)).
Die Entscheidung wirkt konstitutiv und ex nunc (Sachs/Pagenkopf Art. 18 Rn. 16). Die Verwirkung kann gem. § 39 I 2 BVerfGG auf einen bestimmten Zeitraum, mindestens ein Jahr, befristet werden.