Artikel 144 [Annahme des Grundgesetzes]
(1) Dieses Grundgesetz bedarf der Annahme durch die Volksvertretungen in zwei Dritteln der deutschen Länder, in denen es zunächst gelten soll.
(2) Soweit die Anwendung dieses Grundgesetzes in einem der in Artikel 23 aufgeführten Länder oder in einem Teile eines dieser Länder Beschränkungen unterliegt, hat das Land oder der Teil des Landes das Recht, gemäß Artikel 38 Vertreter in den Bundestag und gemäß Artikel 50 Vertreter in den Bundesrat zu entsenden.
I. Bedeutung der Norm
Art. 144 hat keine aktuelle Bedeutung mehr, sondern ist nur noch rechtshistorisches Dokument (v. Münch/Kunig/Kerkemeyer Art. 144 Rn. 1). Art. 144 I bezieht sich auf die Verfassunggebung des GG und zeugt durch den Einschub „zunächst“ vom (zeitweiligen) Offenhalten der sog. deutschen Frage. Art. 144 II ist durch den EinigungsV v. 3.10.1990 überholt und sollte gestrichen werden, zumal der Verweis auf Art. 23 aF ins Leere läuft (Sachs/Huber Art. 144 Rn. 12).
II. Annahme des Grundgesetzes
Von den Volksvertretungen der zwölf ursprünglichen Länder (das heutige BW bestand damals aus drei Ländern), auf die sich Art. 144 I bezieht, haben in der Woche v. 16.–22.5.1949 zehn dem GG zugestimmt, womit die erforderliche 2/3 -Mehrheit gegeben war. Nur der Bayerische Landtag hat seine Zustimmung verweigert, zugleich jedoch in einem parallel dazu gefassten Beschluss – deklaratorisch (BayVerfGH BayVBl. 1991, 561 (562)) – klargestellt, dass er die Mehrheitsentscheidung als rechtsverbindlich anerkenne (Dreier/Dreier Art. 144 Rn. 21). Berlin wurde wegen der besatzungsrechtlichen Sondersituation nicht in die Abstimmung einbezogen (vgl. BVerfGE 7, 1 (12)); seine Mitwirkung erfolgte über Art. 145 I (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 144 Rn. 1).
Das in Art. 144 I statuierte Verfahren zur Ausübung der verfassunggebenden Gewalt weicht zwar von den typischen Formen demokratischer Verfassunggebung ab, ist jedoch völker- und staatsrechtlich unproblematisch (v. Münch/Kunig/Kerkemeyer Art. 144 Rn. 4 f.). Mit der Annahme des GG 1949 durch die Volksvertretungen der Länder ist nur ein erster Teilakt der Verfassunggebung gesetzt worden. Die erste freie Wahl zum BT am 14.8.1949, die Volksabstimmung im Saarland 1955, die Wahl der Volkskammer am 18.3.1990 und deren Beitrittsbeschluss sind weitere Schritte eines „gestuften Verfahrens der Verfassunggebung“ (Sachs/Huber Art. 144 Rn. 4). Von einem Legitimationsdefizit des GG kann daher keine Rede sein (v. Münch/Kunig/Kerkemeyer Art. 144 Rn. 4; Dreier/Dreier Art. 144 Rn. 15); vielmehr ist das GG nunmehr als ein Schöpfungsakt des gesamten deutschen Volkes anzusehen (ähnl. DHS/H. Klein Art. 144 Rn. 22). Der Austritt eines Landes aus der Bundesrepublik Deutschland ist mit dem geltenden Verfassungsrecht unvereinbar (Lindner BayVBl. 2014, 97 (100 ff.)).
III. Alliierte Vorbehalte
Die Anwendung des GG unterlag ursprünglich den Beschränkungen durch die Vorbehalte der Alliierten, die im Genehmigungsschreiben der Militärgouverneure v. 12.5.1949 enthalten waren (vgl. BVerfGE 7, 1 (8); 119, 394 (414)). Die Vorbehalte sind schrittweise reduziert worden. Entscheidende Etappen waren der Deutschlandvertrag, der das Besatzungsstatut aufhob (BGBl. 1955 II 305), und die Erklärung der Drei Mächte von 1968 zur Ablösung der alliierten Vorbehaltsrechte (BGBl. 1968 I 714). Danach blieben Vorbehaltsrechte nur noch für Berlin (Rn. 5) und Deutschland als Ganzes bestehen (HStR I/Mußgnug § 8 Rn. 94 f.). Mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag (BGBl. 1990 II 1318) und der Aussetzung der Vier-Mächte-Rechte und -Verantwortlichkeiten in Bezug auf Deutschland mit Wirkung v. 3.10.1990 sind diese vollständig aufgehoben worden (HStR VIII/Kilian § 12 Rn. 84).
Berlin (West) war zwar bereits seit 1949 ein Land der Bundesrepublik Deutschland; seit diesem Zeitpunkt galt dort auch das GG (BVerfGE 1, 70 (73); 7, 1 (7 f.); 37, 57 (62); diff. Sachs/Huber Art. 144 Rn. 11). Die Anwendbarkeit des GG war jedoch aufgrund von Ziff. 4 des Alliierten Genehmigungsschreibens erheblich beschränkt (vgl. BVerfGE 37, 57 (62); 49, 329 (336)). Berlin durfte „nicht durch den Bund regiert“ werden (BVerfGE 20, 257 (266)). Für die Geltung jedes einzelnen Bundesgesetzes in Berlin war eine entspr. Zustimmung des Berliner Gesetzgebers nötig (HStR I/Luchterhandt § 10 Rn. 49). Auch durfte Berlin keine Stimmberechtigung in BT und BR eingeräumt werden; den vom Berliner Abgeordnetenhaus entsandten Vertretern des Landes war nur beratende Mitwirkung gestattet (Dreier/Dreier Art. 144 Rn. 24). Diesen Beschränkungen trug Art. 144 II Rechnung, ohne dass dies im Wortlaut ersichtlich wird (BVerfGE 4, 157 (175 f.); Jarass/Pieroth/Jarass Art. 144 Rn. 3).