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Artikel 120 [Kriegsfolge- und Sozialversicherungslasten; Ertragshoheit]

(1) 1 Der Bund trägt die Aufwendungen für Besatzungskosten und die sonstigen inneren und äußeren Kriegsfolgelasten nach näherer Bestimmung von Bundesgesetzen. 2 Soweit diese Kriegsfolgelasten bis zum 1. Oktober 1969 durch Bundesgesetze geregelt worden sind, tragen Bund und Länder im Verhältnis zueinander die Aufwendungen nach Maßgabe dieser Bundesgesetze. 3 Soweit Aufwendungen für Kriegsfolgelasten, die in Bundesgesetzen weder geregelt worden sind noch geregelt werden, bis zum 1. Oktober 1965 von den Ländern, Gemeinden (Gemeindeverbänden) oder sonstigen Aufgabenträgern, die Aufgaben von Ländern oder Gemeinden erfüllen, erbracht worden sind, ist der Bund zur Übernahme von Aufwendungen dieser Art auch nach diesem Zeitpunkt nicht verpflichtet. 4 Der Bund trägt die Zuschüsse zu den Lasten der Sozialversicherung mit Einschluß der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenhilfe. 5 Die durch diesen Absatz geregelte Verteilung der Kriegsfolgelasten auf Bund und Länder läßt die gesetzliche Regelung von Entschädigungsansprüchen für Kriegsfolgen unberührt.

(2) Die Einnahmen gehen auf den Bund zu demselben Zeitpunkte über, an dem der Bund die Ausgaben übernimmt.

I. Systematische Einordnung

Systematisch gehört Art. 120 I zur Finanzverfassung und enthält für die Kriegsfolgelasten sowie die Sozialversicherung Sonderregelungen der bundesstaatlichen Lastenverteilung. In Abweichung vom Konnexitätsprinzip des Art. 104a I (Art. 104a Rn. 2) und unabhängig von Art. 104a III wird dem Bund vorbehaltlich speziellerer Regelungen (Art. 131, 120a; dazu Sachs/Siekmann Art. 120 Rn. 1) die Ausgabentragung für die Kriegsfolgelasten und die Zuschüsse zu den Lasten der Sozialversicherung zugewiesen, obwohl die Wahrnehmung der Sachaufgabe den Ländern obliegt. Sinn und Zweck der Norm ist es, für diese beiden wichtigen gesamtstaatlichen Aufgaben eine gleichmäßige Lastenverteilung zu gewährleisten (BVerfGE 113, 167 (211, 214)). Unberührt von der Finanzierungsverantwortung bleibt die Verwaltungszuständigkeit der Länder (BSGE 102, 149 (155)). Die Kostentragungspflicht beschränkt sich auf die Übernahme der Zweckausgaben (Art. 104a Rn. 13); für die Verwaltungskosten bleibt es bei der Regelung des Art. 104a V (SHH/Henneke Art. 120 Rn. 9). Von Art. 120 unberührt bleiben auch die allg. Regeln der Verwaltungskompetenz (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 120 Rn. 2; aber zum Lastenausleich Art. 120a Rn. 1). Art. 120 I ist eine Schutzvorschrift zugunsten der Länder, hindert den Bund aber nicht daran, Kriegsfolge- und Sozialversicherungslasten auf andere Rechtsträger, insbes. die Träger der Sozialversicherung, abzuwälzen (BVerfGE 14, 221 (337); 113, 167 (208 ff., 211 f.)).

Art. 120 I trifft als Kompetenzvorschrift eine bundesstaatliche Regelung über die finanziellen Verhältnisse von Bund und Ländern. Außerhalb des Bund-Länder-Verhältnisses ist die Vorschrift keine Anspruchsnorm (BVerfGE 113, 167 (211); OVG NRW BeckRS 2017, 121964 Rn. 46). Damit können materielle Ansprüche nicht aus Art. 120, sondern nur aus dem einfachen Recht abgeleitet werden (BVerfGE 113, 167 (211)). Art. 120 I 5 stellt dies für Kriegsfolgelasten klar (SHH/Henneke Art. 120 Rn. 18), sodass die Vorschrift insbes. keine subjektiven Rechte zugunsten von Privatpersonen zu begründen vermag (BeckOK GG/Barczak Art. 120 Rn. 3; zu Ansprüchen der Länder Rn. 7).

Ungeachtet ihrer systematischen Stellung im XI. Abschn. handelt es sich jedenfalls bei Art. 120 I 4 nicht um eine Übergangsvorschrift, sondern um eine Dauerregelung. Dagegen hat die in Art. 120 II vorgesehene Beschränkung der Ertragshoheit des Bundes bereits 1950 ihre Bedeutung verloren.

II. Kriegsfolgelasten (Abs. 1 S. 1, 2, 3, 5)

1. Art. 120 I 1 weist dem Bund die Finanzierungskosten für Kriegsfolgelasten zu. Modifiziert wird die Regel zugunsten des Bundes durch die in Art. 120 I 2, 3 getroffenen Sonderregelungen, die die hiervon abweichende, ursprünglich verfassungswidrige Staatspraxis nachträglich legalisiert und für die Zukunft fortgeschrieben haben (Rn. 8). Kriegsfolgelasten sind Lasten, „deren entscheidende – und in diesem Sinne – alleinige Ursache der zweite Weltkrieg ist“ (BVerfGE 9, 305 (324); s. auch BVerwG NVwZ-RR 2012, 787 (788)). Dieser Eingrenzung bedarf es, weil eine Vielzahl staatlicher Aufgaben eine (Mit-)Ursache im Zweiten Weltkrieg hat, sodass sich die Vorschrift als ein Einfallstor für eine Aushebelung der Finanzverfassung erweisen könnte. Mit fortschreitendem Zeitablauf nimmt die praktische Relevanz der Vorschrift daher stetig ab. Einen Bedeutungszuwachs hat sie aber wieder im Zusammenhang mit Spätaussiedlern erfahren. Bis heute aktuell ist die Vorschrift zudem bei der Kampfmittelbeseitigung (s. OVG NRW BeckRS 2017, 121964; s. auch Greb NordÖR 2011, 318).

Die Differenzierung zwischen inneren und äußeren Kriegsfolgelasten dient allein der Veranschaulichung, ist aber ohne praktischen Wert. Die in Art. 120 I 1 genannten Besatzungskosten sind ein exemplarischer Unterfall der Kriegsfolgelasten, mittlerweile aber obsolet geworden. Die Kosten für die Stationierung ausländischer Truppen sind nunmehr als Verteidigungslasten vom Bund zu tragen (Art. 87a iVm Art. 104a I). Typische Kriegsfolgelasten sind die in Art. 74 I Nr. 9, 10 genannten Materien, etwa Wiederaufbaukosten, die Versorgung von Kriegsbeschädigten und Hinterbliebenen, Aufwendungen für die Versorgung und Eingliederung von Flüchtlingen und Vertriebenen. Einzubeziehen sind auch die Aufwendungen einer von den Besatzungsmächten angeordneten Entmilitarisierung (BVerwG NVwZ 2011, 307) sowie die Kosten für die Räumung von Kampfmitteln aus dem Zweiten Weltkrieg (BVerwG NVwZ-RR 2012, 787 (788); OVG NRW BeckRS 2017, 121964). Keine Kriegsfolgelasten sind dagegen Folgekosten der Wiedervereinigung und Leistungen zur Kompensation von DDR-Unrechtsmaßnahmen (MKS/Muckel Art. 120 Rn. 12 f.). Nicht erfasst sind ferner Folgelasten der NS-Terrorherrschaft (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 120 Rn. 3). Einzubeziehen sind dagegen Spätaussiedler (s. auch BVerwG DÖV 1993, 305 (307)).

Mit der Wendung „nach näherer Bestimmung von Bundesgesetzen“ weist das GG dem Bund keine allg. Definitionskompetenz für den Begriff der Kriegsfolgelasten zu (Jarass, DÖV 2019, 457 (459)), sondern ermöglicht es lediglich, Zweifelsfragen zu entscheiden (BVerfGE 9, 305 (325, 330)). Ebenso wenig bietet die Regelung eine Grundlage, die Länder an den Kriegsfolgelasten finanziell zu beteiligen (BVerfGE 9, 305 (318, 325)). Allerdings hat der verfassungsändernde Gesetzgeber als Reaktion auf die Rspr. die frühere verfassungswidrige Praxis für die vor dem 1.10.1969 erlassenen Bundesgesetze durch die Ausnahmeregelung des Art. 120 I 2, 3 festgeschrieben (Rn. 8).

Als Rechtsfolge ordnet Art. 120 I 1 die Kostentragung durch den Bund an. Wenn nicht der Bund selbst, sondern die Länder leistungspflichtig sind, besteht eine Verpflichtung, zugleich zu bestimmen, dass und in welcher Weise diese Aufwendungen vom Bund getragen werden (BVerfGE 9, 305 (318)). Der Bund kann seiner Finanzierungsverantwortung also auch mittelbar gerecht werden, indem er dem unmittelbaren Leistungsträger die Kosten erstattet (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 120 Rn. 6). Dies muss aber nicht notwendigerweise in dem Gesetz geschehen, das die Länder zur Leistung verpflichtet (BVerfGE 9, 305 (318)). Fehlt ein solches Gesetz oder erweist es sich als lückenhaft, so sind die Fachgerichte befugt, unzureichend ausgestaltete Ansprüche der Länder unmittelbar aus Art. 120 I 1 zuzusprechen (BVerwG NVwZ 2011, 307 (308); NVwZ-RR 2012, 787 (788); Sachs/Siekmann Art. 120 Rn. 17). Dem Anspruch auf Kostenübernahme durch den Bund kann nicht entgegengehalten werden, dass uU ein anderer Rechtsträger polizeirechtlich (zB als Zustandsstörer für die Gefahrenbeseitigung) verantwortlich ist (BVerwG NVwZ-RR 2012, 787 (790)). Die Zuständigkeit für die prozessuale Durchsetzung von Ansprüchen aus Art. 120 I 1 liegt beim BVerwG, da es sich um einen Bund-Länder-Streit nichtverfassungsrechtlicher Art iSd § 50 I Nr. 1 VwGO handelt (BVerwG NVwZ-RR 2012, 787 (788)).

2. Art. 120 I 2 ist eine Reaktion auf die Entscheidung des BVerfG v. 16.6.1959 (BVerfGE 9, 305), in der das Gericht die bisherige Praxis, den Ländern unter Verstoß gegen Art. 120 I 1 Kriegsfolgelasten aufzubürden, als verfassungswidrig beanstandet hat. Die Norm legalisiert die vor dem Stichtag des 1.10.1969 geltenden Bundesgesetze verfassungsrechtlich und sicherte damit den bestehenden status quo ab. Praktische Bedeutung kommt dem etwa für die Kostenverteilung bei der Räumung von Kampfmitteln zu, bei der der Bund auf nicht bundeseigenen Liegenschaften die Beseitigungskosten nur für die ehemals reichseigenen Kampfmittel zu tragen hat (BVerwG NVwZ-RR 2012, 787 (788)). Auch die Schutzklausel des Art. 120 I 3 dient dazu, die Lastenverteilungsregel des Art. 120 I 1 zugunsten des Bundes zu modifizieren (BT-Drs. 4/2524, Anl. 3). Danach besteht für Leistungen, die bis zum Stichtag des 1.10.1965 von den dort genannten Aufgabenträgern ohne bundesrechtliche Rechtsgrundlage erbracht worden sind, keine Übernahmeverpflichtung des Bundes.

III. Sozialversicherungslasten (Abs. 1 S. 4)

Ungeachtet der systematischen Stellung betrifft Art. 120 I 4 nicht allein die Lasten der Sozialversicherung, die zugleich Kriegsfolgelasten sind. Vielmehr ist die Vorschrift auf Dauer angelegt und erstreckt sich auf sämtliche Sozialversicherungslasten (BSGE 47, 148 (157)), ohne dass ein Zusammenhang mit Kriegsfolgelasten bestehen muss (BVerfGE 14, 221 (235)). Zusammen mit Art. 74 I Nr. 12 und 87 II bildet Art. 120 I 4 ein in sich geschlossenes Regelungssystem für die Sozialversicherung und deren Finanzierung (BVerfGE 113, 167 (200)). Vor allem die Arbeitslosen-, aber auch die gesetzliche Rentenversicherung werden zu erheblichen Anteilen nicht allein aus den Beiträgen der Sozialpartner, sondern auch aus Bundeszuschüssen finanziert. Die Summe der Zuschüsse des Bundes an die Sozialversicherung machten im Jahr 2022 31 % des Bundeshaushaltes aus (BMWK, Finanzierung von Staatsaufgaben: Herausforderungen und Empfehlungen für eine nachhaltige Finanzpolitik, 2023, S. 23).

Der Begriff der Sozialversicherung deckt sich mit dem der Art. 74 I Nr. 12, 87 II und ist dynamisch zu verstehen (Art. 74 Rn. 18). Erfasst sind die gesetzliche Kranken-, Unfall-, Invaliditäts- und Altersversicherung, kraft gesetzlicher Anordnung auch die Arbeitslosenversicherung sowie die Arbeitslosenhilfe, ebenso die erst mit Wirkung zum 1.1.1995 eingerichtete Pflegeversicherung. Mit Rücksicht auf den fehlenden Versicherungscharakter ist hingegen das heutige Bürgergeld, das an die Stelle des früheren Arbeitslosengeld II bzw. der Hartz IV-Leistungen getreten ist, nicht eingeschlossen (s. auch Jarass/Pieroth/Jarass Art. 120 Rn. 2).

Der Begriff der Zuschüsse beschränkt sich nicht nur auf staatliche Zuweisungen an die Sozialversicherungsträger zur Erfüllung ihrer gesetzlichen Leistungspflicht, sondern erfasst auch Erstattungen und Beiträge, durch die die Versicherteneigenschaft einer Person begründet werden soll (Sachs/Siekmann Art. 120 Rn. 27). Nach dem Wortlaut gilt Art. 120 I 4 nur für Sachausgaben, nicht hingegen für Personal- und Verwaltungskosten (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 120 Rn. 8). Analog zur Regelung der Kriegsfolgelasten (Rn. 7) erscheint auch eine mittelbare Zuschussträgerschaft des Bundes denkbar (DHS/Butzer Art. 120 Rn. 151).

Art. 120 I 4 begründet nicht nur ein Verbot des Bundes, die Länder zu Leistungen von Zuschüssen an die Sozialversicherung zu verpflichten, sondern auch ein Verbot der Länder, diese aus eigenem Antrieb zu bezuschussen (Sachs/Siekmann Art. 120 Rn. 28).

Eine Garantie für die Zahlungsfähigkeit der Sozialversicherung lässt sich aus Art. 120 I 4 ebenso wenig ableiten (MKS/Muckel Art. 120 Rn. 40; BeckOK GG/Barczak Art. 120 Rn. 14; aA aber BSGE 47, 148 (157 f.)) wie eine Zuschusspflicht bei der Übertragung versicherungsfremder Leistungen (BSGE 47, 148 (156); zu anderen verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkten aber Art. 20 Rn. 24) oder ein Verbot, anstelle steuerfinanzierter Zuschüsse ein Finanzausgleichsystem zwischen den Sozialversicherungsträgern vorzusehen (BVerfGE 113, 167 (211 f.)).

IV. Einnahmeverteilung (Abs. 2)

Die Vorschrift ist durch das 1. Überleitungsgesetz v. 28.11.1950 (BGBl. 1950, 773) obsolet geworden. Da dem Bund eine sofortige Übernahme der in Art. 120 I vorgesehenen Verpflichtungen nicht möglich war, sollten die ihm nach Art. 106 aF zustehenden Einnahmen auch erst mit Übernahme der Ausgaben zugutekommen (DHS/Butzer Art. 120 Rn. 209 ff.).