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Artikel 109a [Vermeidung von Haushaltsnotlagen; Stabilitätsrat]

(1) Zur Vermeidung von Haushaltsnotlagen regelt ein Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf,

  • die fortlaufende Überwachung der Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern durch ein gemeinsames Gremium (Stabilitätsrat),
  • die Voraussetzungen und das Verfahren zur Feststellung einer drohenden Haushaltsnotlage,
  • die Grundsätze zur Aufstellung und Durchführung von Sanierungsprogrammen zur Vermeidung von Haushaltsnotlagen.

(2) 1 Dem Stabilitätsrat obliegt ab dem Jahr 2020 die Überwachung der Einhaltung der Vorgaben des Artikels 109 Absatz 3 durch Bund und Länder. 2 Die Überwachung orientiert sich an den Vorgaben und Verfahren aus Rechtsakten auf Grund des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin.

(3) Die Beschlüsse des Stabilitätsrats und die zugrunde liegenden Beratungsunterlagen sind zu veröffentlichen.

I. Zielsetzung, Zusammensetzung des Stabilitätsrates, Begriff der Haushaltsnotlage

Die Vorschrift ist mit der Föderalismusreform II (Vor Art. 104a Rn. 4) in das GG eingefügt worden. Ziel des Art. 109a ist es, durch den Stabilitätsrat ein System fortlaufender Kontrollen des Bundes- wie der Länderhaushalte zu errichten (ausf. Thye, Der Stabilitätsrat, 2014). Damit wird auf Anregung des BVerfG in zwei obiter dicta (BVerfGE 86, 148 (266); 116, 327 (393)) durch ein neues Verfassungsorgan eine institutionelle und prozedurale Sicherung zur Vermeidung von Haushaltsnotlagen geschaffen. Im Rahmen der Föderalismusreform III (Vor Art. 104a Rn. 4) wurde die Vorschrift mit dem Ziel, den Stabilitätsrat zu stärken, umgestaltet. Zusammensetzung und Aufgaben des Stabilitätsrates werden unter Beachtung der Vorgaben des Art. 109a I, II durch ein an die Zustimmung des BRats gebundenes Bundesgesetz geregelt. Seiner Verpflichtung ist der Bund durch das Stabilitätsratsgesetz (StabiRatG) nachgekommen (BGBl. 2009 I 2702; zul. geänd. durch Gesetz v. 4.12.2022, BGBl. 2022 I 2142). Dem StabiRatG kommt bei der Auslegung des Art. 109a GG mittelbare Relevanz zu, da der Entwurf dem verfassungsändernden Gesetzgeber bereits vor Augen stand und Art. 109a die für das Inkrafttreten notwendige verfassungsrechtliche Grundlage schaffen sollte (BeckOK GG/Reimer Art. 109a Rn. 4.2). In seiner konstituierenden Sitzung vom 28.4.2010 hat der Stabilitätsrat eine GeschO beschlossen (SHH/Henneke Art. 109a Rn. 21).

Der Stabilitätsrat ist kein (hybrides) gemeinsames Organ des Bundes und der Länder (aA aber BeckOK GG/Reimer Art. 109a Rn. 8 f.; MKS/G. Kirchhof Art. 109a Rn. 5; Sachs/Siekmann Art. 109a Rn. 5), sondern ein Bundesorgan, das eine neue finanzverfassungsrechtliche Gemeinschaftsaufgabe zu erfüllen hat. Durch die Formulierung „gemeinsames Gremium“ wird allein eine Vorgabe für die Besetzung gemacht und eine paritätische Besetzung nahegelegt (vgl. auch BeckOK GG/Reimer Art. 109a Rn. 14). Art. 109a überantwortet die Zusammensetzung des Stabilitätsrates im Übrigen dem Gestaltungsspielraum des einfachen Gesetzgebers. Denkbar sind Amtsmitgliedschaften (so § 1 I 2 StabiRatG), Wahlmitgliedschaften sowie die Entsendung wechselnder Vertreter (BeckOK GG/Reimer Art. 109a Rn. 16). Zur Abgrenzung zum Ausschuss für Finanzstabilität vgl. Sachs/Siekmann Art. 109a Rn. 22.

Der Stabilitätsrat unterliegt selbst keinen Weisungen; die ihm angehörigen Vertreter des Bundes wie der Länder – gem. § 1 I 2 StabiRatG der Bundesminister der Finanzen, die Finanzminister der Länder sowie der Bundesminister für Wirtschaft – können im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben des GG bzw. des Landesverfassungsrechts hingegen Weisungen unterworfen werden (BeckOK GG/Reimer Art. 109a Rn. 19, 21).

Wann eine Haushaltsnotlage vorliegt und unter welchen Voraussetzungen diese droht, ist gem. Art. 109a I Nr. 2 grds. durch das Bundesgesetz festzulegen. Dabei kommt dem Bundesgesetzgeber ein Beurteilungsspielraum zu. Als Indikator kann auf Kriterien zurückgegriffen werden, die das BVerfG im Kontext des Art. 107 II 3 anerkannt hat (BeckOK GG/Reimer Art. 109a Rn. 64; dazu BVerfGE 86, 148 (258); →  Art. 107 Rn. 13). Eine Delegation der materiellen Voraussetzungen an den Stabilitätsrat selbst, wie dies § 4 I StabiRatG vorsieht, ist zulässig, sofern dies in dem Gesetz nach Art. 109a I vorgesehen ist (kritisch BeckOK GG/Reimer Art. 109a Rn. 64). Der Begriff der Vermeidung umfasst nicht nur die Prävention, sondern auch die Beseitigung einer bereits eingetretenen Haushaltsnotlage (BeckOK GG/Reimer Art. 109a Rn. 71). Da die Kommunen Bestandteil der Länder sind, erstreckt sich der Kontrollauftrag des Stabilitätsrates nicht nur auf die Bundes- und Landeshaushalte, sondern (jedenfalls mittelbar) auch auf die kommunale Ebene (BeckOK GG/Reimer Art. 109a Rn. 62). Einbezogen ist auch die Sozialversicherung (MKS/G. Kirchhof Art. 109a Rn. 11; aA Jarass/Pieroth/Jarass Art. 109a Rn. 3; für eine Beobachtungspflicht aber DHS/Kube Art. 109a Rn. 49) sowie weitere Einrichtungen, bei denen (noch) eine Gewährträgerhaftung besteht (Sachs/Siekmann Art. 109a Rn. 10).

II. Vermeidung von Haushaltsnotlagen (Abs. 1)

Das auf Grundlage des Art. 109a I zu implementierende System zur Vermeidung von Haushaltsnotlagen soll vier Elemente umfassen, was in den Materialien deutlich (BT-Drs. 16/12410, 12), im Wortlaut hingegen nur unvollkommen zum Ausdruck kommt. Verbindende Klammer ist die Vermeidung bzw. die Beendigung einer bereits eingetretenen Haushaltsnotlage (Rn. 4):

(1) Erste Stufe ist die dauerhafte Überwachung der Haushalte des Bundes und der Länder (einschließlich der Kommunen [ →  Rn. 4]) anhand der vom Stabilitätsrat beschlossenen finanzwirtschaftlichen Kennzahlen (Rn. 4). Ziel der Überwachung ist es, die Gefahr einer Haushaltsnotlage so frühzeitig zu erkennen, dass noch erfolgreich Gegenmaßnahmen ergriffen werden können. (2) Zeichnet sich auf der ersten Stufe das Risiko einer Haushaltsnotlage ab, ist die Haushaltssituation der betroffenen Gebietskörperschaft umfassend zu analysieren. Auf der Grundlage festzulegender Kriterien hat der Stabilitätsrat ggf. die Gefahr einer Haushaltsnotlage festzustellen. (3) Im Zuge einer derartigen Feststellung ist die betroffene Gebietskörperschaft verpflichtet, in eigener Verantwortung alle Konsolidierungsspielräume konsequent auszuschöpfen und mit dem Stabilitätsrat ein Sanierungsprogramm zu vereinbaren. (4) Die Durchführung des Sanierungsprogramms ist wiederum durch den Stabilitätsrat zu überwachen, ohne dass er im Fall von Verstößen Sanktionen verhängen kann (Schmidt DVBl 2009, 1274 (1284)). Vielmehr bleibt die Umsetzung dem politischen Prozess überantwortet (Rn. 8).

III. Überwachung der staatlichen Kreditaufnahme (Abs. 2)

Art. 109a II wurde durch die Föderalismusreform III neu eingefügt. Die Vorschrift weist dem Stabilitätsrat unmittelbar Überwachungsaufgaben zu und geht damit über den bisherigen Gesetzgebungsauftrag des Art. 109a S. 1 aF hinaus (MKS/Kirchhof Art. 109a Rn. 3; zweifelnd Sachs/Siekmann Art. 109a Rn. 11). Ab dem Jahr 2020 – der Verbindlichkeit des Art. 109 III 5 für die Länder, Art. 143d I 3 – hat der Stabilitätsrat die Einhaltung der Vorgaben des Art. 109 III (sog. Schuldenbremse; →  Art. 109 Rn. 8 ff.) durch den Bund und die Länder zu überwachen (Abs. 2 S. 1). Die Überwachung hat sich an den Vorgaben und Verfahren für Rechtsakte auf Grund des AEUV zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin zu orientieren (Abs. 2 S. 2). Einfachgesetzliche Parallelnorm ist § 6 StabiRatG. Als Grundlage der Überwachung der Einhaltung der Schuldenbremse dient ein vom Stabilitätsrat beschlossenes Kompendium, das zuletzt durch Beschl. v. 10.10.2023 aktualisiert worden ist.

Hieraus kann nicht abgeleitet werden, dass sich der Prüfauftrag verfassungsrechtlich zwingend auch auf die unionsrechtlichen Grenzen staatlicher Kreditaufnahme erstreckt (so aber MKS/G. Kirchhof Art. 109a Rn. 16). Zwar werden nach der Gesetzesbegründung die Aufgaben des Stabilitätsrates auch mit Blick auf die Verpflichtung Deutschlands erweitert, die Vorgaben des präventiven Arms des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakets sowie des Vertrags über Stabilität, Koordination und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion einzuhalten (BT-Drs. 18/11131, 12). Aus dem Umstand, dass Art. 109a II den unionsrechtlichen Vorgaben dienen soll, folgt aber noch nicht ein doppelter Prüfauftrag. Dem steht nicht nur der Wortlaut („orientiert sich“), sondern auch die Entstehungsgeschichte entgegen, weil der BR ausdrücklich auf die Unterschiede zwischen der nationalen und der europäischen Schuldenregel hingewiesen hatte, sodass die Einhaltung der nationalen Schuldenregel nicht ohne weiteres geeignet sei, die Einhaltung auch der europäischen Vorgaben abzusichern (BT-Drs. 11135, 130). Hierfür spricht auch die Gegenäußerung der BReg, wonach die Bezugnahme auf Unionsrecht lediglich darauf hinweisen soll, dass „sich die Analysemethodik der Überwachung der Schuldenbremsen an die europäisch technische Durchführung anzulehnen hat“ (BT-Drs. 18/11186, 3). Ein Bedürfnis, Art. 109a II erweiternd auszulegen, besteht nicht, weil die Überprüfung der Einhaltung der europäischen Schuldenregel dem Stabilitätsrat in Erfüllung des Gesetzgebungsauftrags des Abs. 1 Nr. 1 aufgegeben werden kann.

Art. 109a II stellt eine bloße Aufgabenzuweisung dar (Sachs/Siekmann Art. 109a Rn. 11), aus der keine Sanktionsbefugnisse abgeleitet werden können (Rn. 6).

Über Art. 109a hinaus war dem Stabilitätsrat in Erfüllung des Gesetzgebungsauftrags des Art. 143d II 5 die Überwachung des Abbaus struktureller Finanzierungsdefizite der Länder übertragen, die Konsolidierungshilfen in Anspruch nehmen durften (Art. 143d Rn. 8).

IV. Publizität (Abs. 3)

Die bisher in Art. 109a S. 2 aF geregelte Publizitätsverpflichtung wurde durch die Föderalismusreform III unverändert in Abs. 3 überführt (Sachs/Siekmann Art. 109a Rn. 24). Der Publizitätsverpflichtung der Beschlüsse und der zugrunde liegenden Beratungsunterlagen nach Art. 109a S. 2 kommt eine Doppelfunktion zu: Auf der einen Seite soll durch die Veröffentlichung öffentlicher Druck auf die Haushaltsgesetzgeber aufgebaut werden (BT-Drs. 16/12410, 7). Auf der anderen Seite wird die Arbeit des Stabilitätsrates selbst transparent gemacht, sodass das Gremium seinerseits durch die öffentliche Meinung und die Fachöffentlichkeit kontrolliert werden kann (SHH/Henneke Art. 109a Rn. 39). Eine Verletzung der Publizitätsverpflichtung begründet einen Verstoß gegen die grundrechtlich geschützte allg. Informationsfreiheit (Art. 5 I 1 Var. 2; s. BeckOK GG/Reimer Art. 109a Rn. 83). Die Sitzungen selbst sind allerdings vertraulich und nicht öffentlich (§ 1 III 2 StabiRatG).