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Artikel 30 [Funktionen der Länder]

Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben ist Sache der Länder, soweit dieses Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zuläßt.

I. Bedeutung für die Bundesstaatlichkeit

Art. 30 ist eine für das Bund-Länder-Verhältnis grdl. Bestimmung, ja für die Bundesstaatlichkeit als solche (BVerfGE 12, 205 (244); 36, 342 (365)), Grundlage, nicht nur Element, der „vertikalen Gewaltenteilung“ nach Staatsfunktionen (BVerfGE 55, 274 (318)). Daher ist dies eine der in der Verfassungsrechtsprechung sehr häufig herangezogenen Verfassungsnorm und nicht nur eine Verweisungsnorm auf andere grundgesetzliche Regelungen.

Die Bestimmung legt als rein objektives Verfassungsrecht (HStR VI/Isensee § 133 Rn. 87, 126 f.) ein Regel-Ausnahme-Verhältnis fest: Der Bund besitzt nur die ihm zugewiesenen Kompetenzen, der unbenannte Rest (Residualkompetenz) liegt bei den Ländern. Regelungsgegenstand ist die grds. innerstaatliche Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern, denen daher jew. Staatsqualität zukommt. Für die Länder trifft dies prinzipiell nach der auch staatsrechtlich geltenden Regel des Völker(gewohnheits)rechts (Art. 25 S. 2) von den drei Staatselementen zu: Auch die Länder üben eigenständige staatliche Hoheitsmacht aus (BVerfGE 1, 14 (34)); eine unbedingte Durchsetzungsfähigkeit („Souveränität“) ist längst nicht (mehr) erforderlich. Von der Staatlichkeit der Länder geht auch die Konkordatsrechtsprechung aus (BVerfGE 2, 347 (369); 6, 309 (362)). Zur Außenwirkung der Landesstaatlichkeit Art. 32 Rn. 10. An der Staatsqualität der Länder und ihres Rechts ändert ihre Einbindung in den Bundesstaat nichts, die zu der auch völkerrechtlich akzeptierten näheren Bestimmung der Landeskompetenzen durch die Bundesverfassung führt, sowie zur staatsrechtlichen Qualität der Bund-Länder-Beziehungen (BVerfGE 34, 216 ff.).

II. Das Regel-Ausnahme-Verhältnis Länder – Bund

Staatliche „Befugnisse und Aufgaben“ (Oberbegriff: „Kompetenzen“; vgl. Rn. 4 f.) verteilt Art. 30 zwischen Bund und Ländern allg., aber eindeutig, nach einem Regel-Ausnahme-Verhältnis („soweit“), welches näher im GG festgelegt ist. Grundregel ist die Landeszuständigkeit; die Bundeszuständigkeit muss sich aus dem GG ergeben. Sie ist dabei „strikt“ (BVerfGE 1, 205 (229); 37, 363 (405); 75, 108 (150) – stRspr), dh im Zweifel restriktiv, also einschränkend, eng zu interpretieren, wie es auch allg. Rechtsgrundsätzen zum Regel-Ausnahme-Verhältnis entspricht; daraus ergibt sich nicht etwa „genau“, was überflüssig wäre. Es besteht daher eine generelle Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Länder. Das GG sieht jedoch große Ausnahmenkomplexe für eine Zuständigkeit des Bundes vor, insbes. Art. 70 ff., 83 ff., in diesen wiederum sehr weitreichende Einzelkompetenzen des Bundes, etwa „Recht der Wirtschaft“ (Art. 74 I Nr. 11) – dies alles allerdings teilweise eingeschränkt durch Art. 72. Alle diese „Regelungen“ (Art. 30) müssen zunächst aus sich heraus interpretiert werden; erst wenn sich dabei Zweifel ergeben, muss zugunsten der Länder entschieden werden. Dabei kann sich – innerhalb weiter Bundeskompetenzen – das Regel-Ausnahmeverhältnis zugunsten des Bundes umkehren; nur insoweit darf dann von „Kompetenzzuweisungen des Grundgesetzes an die Länder“ gesprochen werden.

III. Keine Übertragung von Kompetenzen

„Doppelzuständigkeiten“ sind unzulässig (BVerfGE 104, 249 (267); 106, 62 (114)), weil Art. 30 von einer klaren Kompetenztrennung ausgeht. Ein Land darf dem Bund auch nicht, durch Gesetz oder Vereinbarung, Kompetenzen übertragen oder überlassen – und umgekehrt, soweit das GG das nicht vorsieht oder zulässt (BVerfGE 26, 281 (296); 63, 1 (39) – stRspr). Dies gilt aber nicht zwischen den Ländern, deren Verhältnis zueinander Art. 30 nicht regelt; ebenso wenig verbietet dieser die Schaffung einer „dritten“, gemeinsamen Länderebene, auf der auch Entscheidungen fallen können; es handelt sich insoweit um gemeinsam ausgeübte Kompetenzen „der Länder“. Unzulässig sind aber sog. „dynamische Verweisungen“ (MKS/März Art. 30 Rn. 29; schwankend für Ausnahmen BVerfGE 47, 285 (311 ff.); 67, 348 (363 f.)), durch welche Länder in ihrem Zuständigkeitsbereich bei Änderung einer Bundesgesetzregelung einen Anpassungsautomatismus für ihre Gesetzgebung vorsehen. Soweit im GG nicht ausdrücklich vorgesehen (etwa Art. 91a], b]), verstößt Mischverwaltung gegen Art. 30 (BVerfGE 32, 145 (156); 119, 331 (365 f.) – stRspr). Die Länder dürfen auch die Ausführung ihrer Gesetze nicht dem Bund übertragen (BVerfGE 21, 312 (325 f.)). Zulässig ist dagegen Rechts- und Amtshilfe (Art. 35), einschließlich ausnahmsweiser Inanspruchnahme von Verwaltungsmitteln eines Landes durch den Bund (BVerfGE 63, 1 (33 ff.)).

„Kompetenzüberschneidungen“ sind von den unzulässigen – Kompetenzübertragungen zu unterscheiden. Dazu werden grundgesetzliche Regelungen diskutiert, die entweder ein Zusammenwirken von Bund und Ländern, etwa auf gemeinschaftsrechtlicher Grundlage (BVerfGE 116, 271 (310)), eine Kontrolle des Bundes über die Länder, oder Vorrang- bzw. Abweichungsregelungen zwischen beiden bei der Gesetzgebung beinhalten. In all diesen Gestaltungen ist der Verfassungsgesetzgeber nach Art. 30 frei, er ist weder durch Art. 79 III noch durch einen Kernbereich bisheriger Kompetenzzuweisung(en) zum Bund beschränkt, den allerdings der einfache Gesetzgeber achten muss, soweit ihm die nähere Ausgestaltung einer Kompetenz im GG übertragen ist. „Kompetenzüberschneidung“ gehört begrifflich in den Bereich der Ermittlung der Zuständigkeiten von Bund und Ländern durch Auslegung der betr. Verfassungsbestimmung (Rn. 3), nicht in den des Art. 30.

IV. Staatliche Befugnisse und Aufgaben

Befugnisse sind die rechtlichen Mittel zur Erfüllung der Aufgaben; die Unterscheidung kann insoweit an die klassischen Begrifflichkeiten des Polizeirechts anknüpfen, wobei die Rechtsformen der Aufgabenerfüllung gleichgültig sind (BVerfGE 12, 205 (224 ff.)). Art. 30 gilt für alle drei Staatsgewalten (BVerfGE 22, 180 (217); 39, 98 (109)) und auch für die Ausführung von EU-Recht (BVerwGE 102, 119 (125); 116, 234 (239)), entspr. dessen jew. Bindungswirkung. „Staatliche Aufgaben“ betrifft alle Regelungs- und Tätigkeitsbereiche, die der Staat (dh der Bund und/oder die Länder), nach dem GG zulässig, jew. für sich in Anspruch nimmt. „Staatliche Befugnisse“ bezieht sich nur auf hoheitliche und informelle Tätigkeitsformen der Erfüllung der Aufgaben, wobei Bund und Länder weitgehend frei sind, wo und wie sie diese einsetzen (Daseinsvorsorge, Privatisierungen). „Aufgaben“ wie „Befugnisse“ verweisen mithin auf einfach-gesetzliche Vorgaben im grundgesetzlichen Rahmen. Insoweit ist auch Erwerbswirtschaft grds. zulässige Staatsaufgabe (unter Wahrung der Wettbewerbsfreiheit; Art. 12 Rn. 14). Zu den Aufgabenerfüllungen, damit auch zu den Befugnissen, gehören jew. die dazu erforderlichen Vorbereitungshandlungen, Hilfsgeschäfte sowie die Öffentlichkeitsarbeit.

V. Bestimmung oder Zulassung anderer Regelungen im Grundgesetz

„Andere Regelung“ kann eine Kompetenzzuweisung zum Bund (so die Regel), zu einem Land, zu mehreren Ländern oder zu einem Länderverbund beinhalten. Bisher begegnen vor allem Zuweisungen an den Bund (Ausnahmen etwa Art. 29, 118, 118a, 138). „Regelungen“ oder „Zulassung“ von solchen müssen sich aus dem Text des GG ergeben (Art. 79 I). Eine Grundlage im Verfassungsgewohnheitsrecht genügt nicht. Bei Gesetzesvorbehalten ist der Bund zuständig, wenn dies „durch Bundesgesetz“ oder „mit Zustimmung des BRats“ geregelt werden soll/kann. Wird „der Bund“ genannt, so ist nach grundgesetzlichen Vorgaben zu entscheiden, ob dessen Gesetzgebung oder Verwaltung zuständig ist (BVerfGE 22, 155 (167)); aus seiner administrativen kann nicht auf eine legislative Kompetenz geschlossen werden – und umgekehrt.

Eine Regelung trifft das GG, wenn sich eine solche durch Auslegung aus seinem Text erschließen lässt. „Zulassen“ deckt aber nicht alles ab, was das GG „nicht verbietet“; denn sonst wäre eine Kompetenzverschiebung im Föderalgefüge durch jedes einfache Gesetz zulässig, das dem GG nicht widerspräche – Art. 30 liefe so weitestgehend leer. Nach zutr. hL reicht daher eine außergrundgesetzliche Rechtsgrundlage nicht aus. „Zulassen“ ist aber kein Verweisungs-, sondern ein Kompetenzübertragungsbegriff, der daher nur den impliziten Transfer bezeichnen kann. Dieser ist aber kein Ergebnis der Auslegung von im GG ausdrücklich getroffenen Regelungen als solchen (wie etwa Art. 71; vgl. auch BVerfGE 26, 281 (298 ff.)); er verweist vielmehr auf Zuständigkeiten kraft (engen; BVerfGE 18, 265 (299)) Sachzusammenhangs, als Regelungsannex oder kraft „Natur der Sache“ (vgl. im Einzelnen Art. 70 Rn. 17 ff.).

VI. Rechtsfolgen – Rechtsschutz

Primäres Regelungsziel des Art. 30, damit Verbot abweichender Rechtsfolgen, ist der Schutz des Landesbereichs, in dessen Territorialbestand (BVerfGE 11, 6 (19)), zu dem auch die Gemeinden und Gemeindeverbände gehören (BVerfGE 22, 180 (210); 86, 148 (215)), – daher keine Bundeskommunalaufsicht (BVerfGE 8, 122 (137)) – nach Maßgabe von Art. 28 II und der grundgesetzlichen Finanzverfassung. Die Landeskompetenzen dürfen nicht ausgehöhlt werden (BVerfGE 61, 147 (175)); ihre Ausübung wird durch Landesrecht geregelt, in das der Bund nicht, etwa durch Zuordnung einer Gesetzgebungskompetenz zur Landesregierung, eingreifen darf (BVerfGE 78, 249 (273)). – Die Rechtsfolgen können in Verfassungsprozessen nach Art. 93 I Nr. 2a, 3 durchgesetzt werden, aber auch in Normenkontrollverfahren nach Art. 93 I Nr. 2, 100 oder Art. 93 I Nr. 4a.