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Artikel 116 [Begriff des „Deutschen“; nationalsozialistische Ausbürgerung]

(1) Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat.

(2) 1 Frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge sind auf Antrag wieder einzubürgern. 2 Sie gelten als nicht ausgebürgert, sofern sie nach dem 8. Mai 1945 ihren Wohnsitz in Deutschland genommen haben und nicht einen entgegengesetzten Willen zum Ausdruck gebracht haben.

I. Bedeutung der Norm

Während Art. 116 I als Schlussbestimmung des GG fungiert (Wegner, Die Übergangs- und Schlussbestimmungen des Grundgesetzes, 2021, 106 f.), wurde Art. 116 II als Übergangsvorschrift in das GG aufgenommen, um einerseits die durch die nationalsozialistische Diktatur, den Zweiten Weltkrieg und die sich anschließenden Vertreibungen Deutscher aus den Ostgebieten entstandenen staatsangehörigkeitsrechtlichen Konflikte zu lösen und andererseits die NS-Ausbürgerungsmaßnahmen insbes. gegenüber jüdischen Bürgern wiedergutzumachen (Sachs/Kokott Art. 116 Rn. 1; v. Münch/Kunig/Vedder/Lorenzmeier/Wendel Art. 116 Rn. 1). Aufgrund der Einzigartigkeit dieser Ereignisse kennt Art. 116 keine Vorgängerregelung. Die praktische Bedeutung von Art. 116 sinkt mit zeitlicher Entfernung zu diesen Ereignissen, obgleich seit Beginn des „Brexit“-Verfahrens (Art. 23 Rn. 23) britische Staatsangehörige jüdischen Glaubens vermehrt ihren Wiedereinbürgerungsanspruch als Abkömmlinge der iSd Art. 116 II Ausgebürgerten geltend machen. Art. 116 I und II sind nebeneinander anwendbar (Dreier/Wittreck Art. 116 Rn. 106).

II. Deutsche im Sinne des Grundgesetzes

1. Vorbehalt anderweitiger gesetzlicher Regelung

Art. 116 I definiert, wer Deutscher iSd GG ist. Die Bestimmung hat die Existenz verschiedener Kategorien von Deutschen hervorgebracht: Deutsche mit deutscher Staatsangehörigkeit (Alt. 1) und sog. „Statusdeutsche“ ohne deutsche Staatsangehörigkeit (Alt. 2). Der Vorbehalt einer anderweitigen gesetzlichen Regelung der Deutscheneigenschaft bezieht sich nach dem Telos von Art. 116 I nur auf die Statusdeutschen, nicht auf die Deutschen mit deutscher Staatsangehörigkeit (Dreier/Lübbe-Wolff, 1. Aufl., Art. 116 Rn. 16; unter Berufung auf die grammatische Auslegung aA: Dreier/Wittreck Art. 116 Rn. 47; Friauf/Höfling/Zimmermann/Bäumler Art. 116 Rn. 25). Die Staatsangehörigkeit darf zwar gesetzlich geregelt werden (Rn. 3), jedoch nicht so weitgehend wie der Status der Deutschen iSd Art. 116 I Alt. 2. Dem Übergangscharakter der Norm entspr. darf die Kategorie des Statusdeutschen eingeschränkt und sogar dann vollständig abgeschafft werden, wenn den Statusdeutschen die Option der Staatsangehörigkeit eingeräumt wird (MKS/Masing/Kau Art. 116 Rn. 26 f.). Die umstr. Frage, ob der Gesetzgeber auch eine Ausweitung des Status vornehmen darf (dafür HStR V/v. Mangoldt, 1. Aufl. 1992, § 119 Rn. 53; dagegen v. Münch/Kunig/Vedder/Lorenzmeier, 6. Aufl. 2012, Art. 116 Rn. 9) – wie dies bei den Spätaussiedlern geschehen ist (§ 4 III BVFG) –, ist heute nicht mehr praxisrelevant, da der Spätaussiedlerzuzug langsam zum Stillstand kommt (Rn. 9). Zudem haben fast alle Statusdeutschen gem. §§ 7, 40a StAG die deutsche Staatsangehörigkeit bereits erlangt oder können diese noch erlangen (MKS/Masing/Kau Art. 116 Rn. 21); damit ist die Regelung in Alt. 2 praktisch bedeutungslos geworden (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 116 Rn. 2).

2. Deutsche Staatsangehörige

Die Bestimmung, wer deutscher Staatsangehöriger ist, ist der Ausgestaltung durch den Bundesgesetzgeber (Art. 73 Nr. 2) unter den Vorgaben des Art. 16 überlassen (BVerfGE 144, 20 (264 ff.)). Art. 116 I hat für das Staatsangehörigkeitsrecht ieS keine Bedeutung; insbes. ergibt sich aus Art. 116 kein Homogenitätsgebot iSe „ethnischen Volkes“ oder einer „deutschen Kulturnation“ (BVerfGE 144, 20 (264); Friauf/Höfling/Zimmermann/Bäumler Art. 116 Rn. 32). Bis 31.12.1999 galt in der Bundesrepublik Deutschland das RuStAG von 1913. Durch die am 1.1.2000 in Kraft getretene Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts (BGBl. 1999 I 1618, zul. geänd. BGBl. 2023 I 217) ist das RuStAG in StAG umbenannt und das traditionelle Abstammungsprinzip (ius sanguinis) durch das Geburtsortprinzip (ius soli) ergänzt worden. Maßgeblich ist grds. das Staatsangehörigkeitsrecht im jeweiligen Anwendungszeitpunkt (DHS/Giegerich Art. 116 Rn. 34; zu Ausnahmen Rn. 13; zu den Folgen der Sammeleinbürgerungen während der NS-Zeit vgl. Friauf/Höfling/Zimmermann/Bäumler Art. 116 Rn. 36 ff.).

3. Statusdeutsche

Gem. Art. 116 I Alt. 2 werden die sog. „Statusdeutschen“ zu den Deutschen iSd GG gezählt. Dies ist die eigentliche legislatorische Aussage des Art. 116 I (Dreier/Wittreck Art. 116 Rn. 52; v. Münch/Kunig/Vedder/Lorenzmeier/Wendel Art. 116 Rn. 36), weshalb sich auch der Gesetzesvorbehalt nur auf diese bezieht (Rn. 2). Statusdeutscher kann nur sein, wer nicht schon die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt (Dreier/Lübbe-Wolff, 1. Aufl., Art. 116 Rn. 22). Grund der Regelung sind die Vertreibungen, die als Rache- und Vergeltungsakte gegen die deutschstämmige Bevölkerung in den vom Deutschen Reich zuvor überfallenen und unterdrückten Ländern durchgeführt wurden (AK/Zuleeg Art. 116 Rn. 13). Das ungewisse staatsangehörigkeitsrechtliche Schicksal der Opfer kriegsbedingter Flucht und Vertreibung sollte aufgefangen werden, indem ihnen in der Bundesrepublik nach ihrer Aufnahme ein adäquater Status gewährt wird, der sie den deutschen Staatsangehörigen weitestgehend gleichstellt (BVerwGE 90, 173 (175)). Da man zunächst davon ausging, dass die Vertriebenen nach friedensvertraglichen Verhandlungen in ihre Heimat zurückkehren würden, sollte ihnen nicht sogleich die deutsche Staatsbürgerschaft verliehen werden, um den status quo nicht zu perpetuieren (MKS/Masing/Kau Art. 116 Rn. 18).

Voraussetzungen des Status sind die Flüchtlings- oder Vertriebeneneigenschaft, die deutsche Volkszugehörigkeit und die Aufnahme in Deutschland, sofern der Betroffene nicht einen entgegenstehenden Willen bekundet hat (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 116 Rn. 10). Flüchtling oder Vertriebener ist, wer seinen Wohnsitz außerhalb des Gebietes der heutigen Bundesrepublik hatte und diesen Wohnsitz kriegsbedingt aus Angst vor oder aufgrund von Vertreibung durch fremde Staatsgewalt verloren hat oder an diesen Wohnsitz im Vertreibungsgebiet nicht zurückgekehrt ist (BVerfGE 17, 224 (231); Sachs/Kokott Art. 116 Rn. 4). Überwiegend wird also die Legaldefinition des § 1 I BVFG zugrunde gelegt (BVerfGE 17, 224 (230 f.); 59, 128 (156 f.); BVerwGE 9, 231 (232); 38, 224 (226); v. Münch/Kunig/Vedder/Lorenzmeier/Wendel Art. 116 Rn. 79), auch wenn sich zu dem verfassungsrechtlichen Begriff Abweichungen ergeben können (MKS/Masing/Kau Art. 116 Rn. 63). Aufgrund des Gesetzesvorbehalts ist aber eine gesetzliche Interpretation der Verfassung unbedenklich, soweit dadurch die Verfassung nicht letztverbindlich konkretisiert wird (Dreier/Wittreck Art. 116 Rn. 60).

Hinzukommen muss die deutsche Volkszugehörigkeit. Der Betroffene muss sich in seiner früheren Heimat zumindest vor Vertreibung oder Flucht (BVerfGE 59, 128 (150 f.)) subjektiv auch zum deutschen Volkstum bekannt haben (v. Münch/Kunig/Vedder/Lorenzmeier/Wendel Art. 116 Rn. 85), und dies muss durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung und Kultur bestätigt werden (BVerfGE 17, 224 (227); BVerwGE 5, 239 (240 f.); 9, 231 (232); vgl. § 6 I BVFG). Die objektiven Merkmale müssen nicht kumulativ vorliegen; von ihrer Anzahl geht aber eine Indizwirkung für das subjektive Kriterium aus (BVerfGE 59, 128 (158); BVerwGE 74, 336 (337); HStR X/E. Klein § 212 Rn. 16). Vom Merkmal der Sprachbeherrschung kann ausnahmsweise abgesehen werden, wenn deren Fehlen Folge der Unterdrückung der Volksdeutschen in dem betr. Gebiet ist (VGH BW DVBl 1994, 1415). Im Interesse der Familieneinheit sind Ehegatten und Abkömmlinge (vgl. BVerfGE 90, 171 (176); 90, 181 (183); BVerwGE 119, 172 (179); vgl. auch § 4 III BVFG) ohne deutsche Volkzugehörigkeit im Status gleichgestellt, sofern sie ihre Heimat wegen der Verbindung zu dem deutschen Volkszugehörigen verlassen haben (Sachs/Kokott Art. 116 Rn. 8). Bei Abkömmlingen genügt, dass ein Elternteil deutscher Volkszugehöriger ist (BVerfGE 37, 217 (252)); dies gilt auch für nichteheliche Abkömmlinge (BVerwGE 85, 108 (116); DHS/Giegerich Art. 116 Rn. 81). Auch derjenige stammt von einem deutschen Volkszugehörigen ab, der einen deutschen Großelternteil hat (BVerwGE 143, 171 (179)). Ferner Rn. 8.

Die von Art. 116 I erfassten Personen müssen in Deutschland Aufnahme gefunden haben. Die Aufnahme ist konstitutiv für den Status; vor diesem Zeitpunkt sind die deutschen Volkszugehörigen keine Deutschen iSd GG (BVerwGE 122, 313 (315 f.); BGHZ 121, 305 (314)), sondern allenfalls potenzielle Deutsche (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 116 Rn. 8). Deshalb haben sie aus Art. 116 I auch keinen Anspruch auf Einreise in das und auf Aufenthalt im Bundesgebiet (OVG NRW BeckRS 2012, 45155 Rn. 30 ff.; Hömig/Wolff/Antoni Art. 116 Rn. 4; aA Dreier/Wittreck Art. 116 Rn. 58); einfachgesetzlich kann ein solcher Anspruch aber begründet werden (MKS/Masing/Kau Art. 116 Rn. 119). Die Aufnahme muss gem. dem Wortlaut der Norm im Reichsgebiet nach dem Stande v. 31.12.1937 erfolgt sein. Allerdings zählen die ehemaligen deutschen Ostgebiete nicht dazu, da es sich nicht um Aufnahme-, sondern um Vertreibungsgebiete handelt (BVerwGE 38, 224 (228); MKS/Masing/Kau Art. 116 Rn. 121). Die Aufnahme muss also im heutigen Bundesgebiet, einschließlich des Gebiets der ehemaligen DDR, erfolgt sein (HStR II/Grawert, 1. Aufl. 1987, § 16 Rn. 38).

Eine Aufnahme liegt vor, wenn der Betroffene mit dem Willen, einen ständigen Wohnsitz zu nehmen, ins Bundesgebiet gezogen ist, und wenn aufgrund eines Tätigwerdens der Behörden (einschließlich der früheren DDR-Behörden) der Schluss gerechtfertigt ist, dass ihm die Aufnahme nicht verweigert wird (BVerwGE 90, 173 (175); 119, 172 (175); DHS/Giegerich Art. 116 Rn. 76; krit. in Bezug auf behördliche Sanktionierung Dreier/Wittreck Art. 116 Rn. 75). Der Aufenthalt in Deutschland darf nicht nur vorübergehender Art sein (BVerwGE 119, 172 (177)). An einer Aufnahme fehlt es, wenn der Betreffende vor der Niederlassung in Deutschland in einem anderen Staat Aufnahme gefunden hat (BVerfGE 2, 98 (100 f.); BVerwGE 9, 231 (231 f.)). Eine förmliche Zuzugsgenehmigung ist unnötig (BVerwGE 9, 231 (233 f.)); durch Gesetz können aber weitere Voraussetzungen etabliert werden (BVerwGE 114, 332 (334, 336 f.)). Die Aufnahme ist auch nach Inkrafttreten des GG möglich (BVerfGE 8, 81 (86); 17, 224 (231)), sie muss aber prinzipiell in engem zeitlichem und räumlichem Zusammenhang mit der Vertreibung oder Flucht stattgefunden haben (BVerfGE 2, 98 (100 f.); BVerwGE 90, 173 (176); Friauf/Höfling/Zimmermann/Bäumler Art. 116 Rn. 55). Dieses zeitliche und räumliche Nähekriterium gilt grds. auch für Ehegatten und Abkömmlinge (BVerwGE 90, 173 (176 f.); vgl. aber auch BVerwGE 115, 10 (12)), wobei eine spätere Übersiedlung aus Gründen der familiären Einheit gleichgestellt wird (BVerwGE 90, 173 (177)). Bei Ehegatten muss die Ehe bereits im Zeitpunkt der Aufnahme bestehen (BVerwGE 90, 181 (185); vgl. auch BVerwG NVwZ-RR 1990, 658 (659)).

Durch das KriegsfolgenbereinigungsG v. 21.12.1992 (BGBl. I 2094) wurde der Deutschen-Status auf alle deutschstämmigen Personen in den ehemaligen kommunistischen Ländern ausgeweitet, unabhängig von den Kriterien der Flucht oder Vertreibung. Zu den Vertriebenen iSv Art. 116 I zählen seither auch die sog. Aussiedler (§ 1 II Nr. 3 BVFG), sofern sie vor dem 1.1.1993 ihre Heimat verlassen haben. Die Spätaussiedler, also jene, die nach dem 31.12.1992 ausgereist sind (§ 4 BVFG), stellen eine eigene Kategorie im BVFG dar. Ihr Status als Deutsche wird eigens festgeschrieben (§ 4 III BVFG). Es handelt sich dabei nicht um eine gesetzliche Interpretation des Vertriebenenbegriffs, sondern um eine einfachgesetzliche Erweiterung des Deutschen-Status (Dreier/Lübbe-Wolff, 1. Aufl., Art. 116 Rn. 32, vgl. auch BVerwGE 143, 171 (179)). Der Spätaussiedlerzuzug hat sich seit der Jahrtausendwende stetig vermindert (von 91.416 registrierten Spätaussiedlern im Jahr 2002 auf nur 1.817 im Jahr 2012). Perspektivisch ist mit einem Auslaufen des Zuzugs zu rechnen, da als Spätaussiedler nicht mehr anerkannt werden kann, wer nach dem 31.12.1992 geboren wurde (§ 4 I Nr. 3 BVFG). Auf der anderen Seite sind die übrigen Anforderungen an die Aufnahme von Spätaussiedlern (zB beim Familiennachzug) durch die Reform des BVFG am 6.9.2013 (BGBl. I 3554) erleichtert worden, weshalb bereits 2013 wieder ein geringfügiger Anstieg auf insgesamt 2.427 registrierte Personen zu verzeichnen war (näher Bund/Kohls/Worbs ZAR 2014, 349 (351 f.); zum Ganzen auch Herzog ZAR 2014, 400 (401 ff.)). Dennoch waren trotz dieser Erleichterungen seither jährlich nie mehr als etwa 7.000 Aufnahmen zu verzeichnen; auch dies zeigt, dass der Regelung des Art. 116 I im Wesentlichen nur noch verfassungshistorische Bedeutung iSe „transitional justice“ zukommt (Friauf/Höfling/Zimmermann/Bäumler Art. 116 Rn. 69 f.).

4. Rechtsstellung der Statusdeutschen

Auf die Statusdeutschen sind alle Normen des GG, die für Deutsche gelten, in gleicher Weise anwendbar (BVerfGE 37, 217 (252)). Dies gilt auch für das Wahlrecht (BVerfGE 83, 37 (50 ff.); 132, 39 (66); BVerwGE 90, 181 (183)) und die Deutschen-Grundrechte (v. Münch/Kunig/Vedder/Lorenzmeier/Wendel Art. 116 Rn. 37). Eine Differenzierung findet lediglich in Art. 16 I statt mit der Folge, dass die Statusdeutschen von Verfassungs wegen nicht vor dem Entzug oder Verlust ihres Status geschützt sind (MKS/Masing/Kau Art. 116 Rn. 13). Offen lässt Art. 116 I, ob die Gleichstellung auch im einfachen Recht gilt; dies ist freilich mit Blick auf Art. 3 III 1 anzunehmen (BeckOK GG/Hillgruber Art. 116 Rn. 20).

Die Rechtsstellung des Statusdeutschen ist keine (zweite) Staatsangehörigkeit (v. Münch/Kunig/Vedder/Lorenzmeier/Wendel Art. 116 Rn. 36; aA DHS/Giegerich Art. 116 Rn. 59). Art. 116 I gewährt auch keinen Anspruch auf die Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 116 Rn. 9); allerdings kann sich dieser Anspruch aus dem einfachen Recht ergeben (Rn. 2, 3). Völkervertragsrechtlich werden Statusdeutsche idR den deutschen Staatsangehörigen gleichgestellt (Sachs/Kokott Art. 116 Rn. 15). Auch im Rahmen des diplomatischen Schutzes sind Statusdeutsche wie deutsche Staatsangehörige zu behandeln, sofern nicht die Statuseigenschaft von einer anderen (effektiveren) Staatsangehörigkeit überlagert wird (Sachs/Kokott Art. 116 Rn. 15; BeckOK GG/Hillgruber Art. 116 Rn. 22; weitergehend Friauf/Höfling/Zimmermann/Bäumler Art. 116 Rn. 18). Die Rechtsstellung eines Statusdeutschen geht in analoger Anwendung der Vorschriften zur Staatsangehörigkeit auf Abkömmlinge und Ehegatten über; damit ist auch ein derivativer Erwerb des Status möglich (BVerwGE 71, 301 (304 f.)). Der Verlust des Status folgt ebenfalls den Regeln des Staatsangehörigkeitsrechts; eine Beendigung durch Verzicht ist damit ebenso zulässig wie der Verlust durch den späteren Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit (v. Münch/Kunig/Vedder/Lorenzmeier/Wendel Art. 116 Rn. 92). Zur Rücknahme einer Spätaussiedlerbescheinigung vgl. BVerwGE 143, 171 (180 f.).

III. Wiedergutmachung nationalsozialistischer Ausbürgerungen

Art. 116 II ist Kompensationsvorschrift für das NS-Unrecht auf dem Gebiet des Staatsangehörigkeitsrechts (Sachs/Kokott Art. 116 Rn. 20). Die zwischen dem 30.1.1933 und dem 8.5.1945 erfolgten Ausbürgerungen waren offensichtlich rechtswidrig und daher nichtig (BVerfGE 23, 98 (108); 54, 53 (68, 70)). Im Blick stehen vor allem die aufgrund des Gesetzes v. 14.7.1933 (RGBl. I 480) vorgenommenen Einzelausbürgerungen sowie die Kollektivausbürgerungen durch die 11. VO zum ReichsbürgerG v. 25.11.1941 (RGBl. I 722). Art. 116 II will diese Unrechtsakte zeitlich unbegrenzt wiedergutmachen (BVerfGE 8, 81 (86); 54, 53 (69 f.)). Die in Art. 116 II niedergelegten Rechte sind subjektiver Natur und können im Rahmen einer auf Art. 3 I gestützten Verfassungsbeschwerde überprüft werden (BVerfGE 23, 98 (104); 54, 53 (66 f.)).

Berechtigt sind all jene, die zwischen dem 30.1.1933 und dem 8.5.1945 ihre deutsche Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen verloren haben, unabhängig davon, in welcher Form dies geschah (Dreier/Wittreck Art. 116 Rn. 88). Die Existenz des Ausbürgerungsgrundes ergibt sich meist schon aus den NS-Vorschriften der damaligen Zeit (Rn. 12), kann aber auch mittelbar erschlossen werden (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 116 Rn. 12). Ehegatten müssen selbst die Voraussetzungen des Art. 116 II erfüllen, um sich auf diese Norm berufen zu können (BVerwGE 68, 220 (226); v. Münch/Kunig/Vedder/Lorenzmeier/Wendel Art. 116 Rn. 119). Abkömmlinge (Kinder und Kindeskinder) der iSd Art. 116 II Ausgebürgerten sind aber diesen gleichgestellt (BVerwGE 95, 36 (37); Umbach/Clemens/Rennert Art. 116 Rn. 39), sofern sie zu dem Ausgebürgerten in einem Verhältnis stehen, an das das jew. Staatsangehörigkeitsrecht den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit knüpft (BVerwGE 68, 220 (222); 85, 108 (110 f.); 95, 36 (40 f.)). Allerdings wird ein kausaler Bezug insoweit gefordert, als der Abkömmling infolge der Ausbürgerung des Elternteils kein deutscher Staatsbürger geworden ist (BVerwGE 85, 108 (112 ff.)). Nach der Rspr. des BVerwG wurden vor dem 1.4.1953 geborene nichteheliche Abkömmlinge ausgebürgerter Männer ebenso wenig erfasst (BVerwGE 68, 220 (234 f.); 85, 108 (114)) wie vor dem 1.4.1953 geborene eheliche Kinder ausgebürgerter Frauen (BVerwGE 85, 108 (110 ff.)), da sie nach dem damaligen Staatsangehörigkeitsrecht die deutsche Staatsangehörigkeit nicht erworben hätten (zu Recht krit. Sachs/Kokott Art. 116 Rn. 26). Das BVerfG hat diese Rspr. in einem Kammerbeschluss v. 20.5.2020 (BVerfG [K] NJW 2021, 223) als mit den Wertentscheidungen der Art. 6 V und 3 II sowie mit Art. 8 und 14 EMRK unvereinbar angesehen und den Begriff des Abkömmlings so ausgelegt, dass der Einbürgerungsanspruch auch Abkömmlinge erfasst, die unter Geltung des früheren Staatsangehörigkeitsrechts wegen nichtehelicher Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit nicht hätten erwerben können. Bislang nicht abschließend geklärt ist, ob der sog. Generationenschnitt des 1999 neu gefassten § 4 IV StAG, wonach die deutsche Staatsangehörigkeit dann nicht mehr erworben wird, wenn der deutsche Elternteil nach dem 31.12.1999 selbst im Ausland geboren wurde und dort zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, auf entspr. Kausalitätsprüfungen Anwendung findet (dafür MKS/Masing/Kau Art. 116 Rn. 158; DHS/Giegerich Art. 116 Rn. 112; BeckOK/Hillgruber Art. 116 Rn. 25; dagegen Dreier/Wittreck Art. 116 Rn. 92; eingehend zur Problematik Zimmermann/Bäumler DÖV 2016, 97 (100 ff.)). Praktische Relevanz dürfte der Frage aber kaum zukommen, da der Gesetzgeber das StAG in Reaktion auf die o. g. Rspr. des BVerfG angepasst hat (BGBl. 2021 I 3538). Gem. § 15 StAG steht nun auch nicht von Art. 116 II erfassten Abkömmlingen nationalsozialistisch Verfolgter ein einfachgesetzlicher Einbürgerungsanspruch zu, für den es nicht auf die Grenze des § 4 IV StAG ankommt. Auch kann nach § 5 StAG ein Recht bestehen, die deutsche Staatsangehörigkeit durch Erklärung zu erwerben (Berlit ZAR 2022, 54 ff.). Jeder Abkömmling ist selbst Träger des Rechts nach Art. 116 II und kann es unabhängig von der Geltendmachung durch den Vorfahren geltend machen, es sei denn, letzterer hat seinen Anspruch durch (freiwilligen) Verzicht verloren (BVerwGE 95, 36 (42)). Art. 116 II gilt nicht für die Ausgebürgerten, die mit Wirkung v. 27.4.1945 wieder als Österreicher in Anspruch genommen worden sind (BVerwGE 85, 108 (116 ff.)). Desgleichen ist Art. 116 II nicht unmittelbar anwendbar auf die Fälle, in denen eine Einbürgerung aus entspr. Gründen abgelehnt wurde. Bei einem aktuellen Einbürgerungsbegehren ist dieser Umstand aber zu berücksichtigen (BVerwGE 114, 195 (204 f.)).

Art. 116 II 2 stellt fest, dass die Ausbürgerungen unwirksam sind, wenn die betroffenen Personen nach dem 8.5.1945, dh auch noch nach Inkrafttreten des GG (BVerfGE 8, 81 (86)), mit dem Willen, sich dauerhaft niederzulassen, ihren tatsächlichen Wohnsitz (vgl. § 7 BGB; auch Beziehen eines Hotelzimmers, vgl. BVerfGE 8, 81 (85)) in Deutschland, einschließlich der ehemaligen DDR (DHS/Giegerich Art. 116 Rn. 123), genommen haben, sofern sie nicht einen der Nichtigkeit der Ausbürgerung entgegenstehenden Willen zweifelsfrei zum Ausdruck gebracht haben (BVerfGE 8, 81 (87); 54, 53 (70 f.)). Der Wohnsitznahme steht es gleich, wenn der Betroffene trotz Verfolgung in Deutschland geblieben ist; in diesem Fall reicht eine (erneute) Wohnsitznahme auf dem Gebiet des Deutschen Reichs in den Grenzen v. 31.12.1937 aus (Dreier/Wittreck Art. 116 Rn. 102). Die Wohnsitznahme, auf die der Betroffene einen Anspruch hat, kann grds. selbst heute noch erfolgen (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 116 Rn. 15; Friauf/Höfling/Zimmermann/Bäumler Art. 116 Rn. 98). Mit der Wohnsitznahme in Deutschland erhalten Zurückkehrende die deutsche Staatsangehörigkeit ex tunc wieder („Nichtausbürgerungsfiktion“). Damit werden aber nicht alle mit der Staatsangehörigkeit des Betroffenen zusammenhängenden Rechtsverhältnisse in den Zustand versetzt, in dem sie sich befänden, wenn die Ausbürgerung nicht stattgefunden hätte. Ein rückwirkender derivativer Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch Abkömmlinge und Ehegatten findet nicht statt (Sachs/Kokott Art. 116 Rn. 30). Für vor dem 8.5.1945 verstorbene Personen besteht die Staatsangehörigkeit fort, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte vorliegen, dass der Betroffene in ein freies und demokratisches Deutschland nicht zurückkehren wollte (BVerfGE 23, 98 (111 f.); krit. MKS/Masing/Kau Art. 116 Rn. 145 f.).

Soweit Art. 116 II 2 nicht einschlägig ist, weil es an einer Wohnsitznahme in Deutschland fehlt, obgleich es sich um den in Rn. 13 aufgeführten Personenkreis handelt (Friauf/Höfling/Zimmermann/Bäumler Art. 116 Rn. 100), erklärt Art. 116 II 1 die Ausbürgerungen trotz ihrer offensichtlichen Rechtswidrigkeit zunächst für wirksam. Zweck dieser dogmatisch nicht ganz stimmigen Lösung (Sachs/Kokott Art. 116 Rn. 34) ist, dass den Ausgebürgerten und ihren Abkömmlingen nicht ohne Anhaltspunkte für einen entspr. Willen die deutsche Staatsangehörigkeit (wieder-)aufgedrängt werden soll. Die Betroffenen – auch jene, die zunächst einen gegen die deutsche Staatsangehörigkeit gerichteten Willen geäußert haben (Dreier/Lübbe-Wolff, 1. Aufl., Art. 116 Rn. 50 f.) – verfügen aber gem. Art. 116 II 1 über einen Anspruch auf Wiedereinbürgerung, selbst wenn sie zwischenzeitlich eine andere Staatsbürgerschaft erworben haben (BVerfGE 23, 98 (108)), es sei denn, dass dieser Erwerb bereits vor der Ausbürgerung ohne Zusammenhang mit NS-Verfolgungsmaßnahmen stattfand (BVerwGE 94, 185 (187)). Der Anspruch ist von einer Antragstellung abhängig, wobei an den Antrag keine hohen Voraussetzungen gestellt werden dürfen (BVerfGE 54, 53 (71); Hömig/Wolff/Antoni Art. 116 Rn. 7). Die Wiedereinbürgerung nach Art. 116 II 1 wirkt trotz der grds. Nichtigkeit der Ausbürgerungen ex nunc (BSGE 50, 21 (23 f.); Dreier/Wittreck Art. 116 Rn. 95; SHH/Gnatzy Art. 116 Rn. 30). Vor Stellung des Antrags wird der Betroffene grds. nicht als deutscher Staatsangehöriger betrachtet (BVerfGE 23, 98 (108 f.); 54, 53 (69 f.); näher DHS/Giegerich Art. 116 Rn. 114 f.); nach der Wiedereinbürgerung dürfen dem Betroffenen daraus aber keine unangemessenen Nachteile erwachsen.