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Artikel 102 [Abschaffung der Todesstrafe]

Die Todesstrafe ist abgeschafft.

Die durch Art. 102 ausgesprochene Abschaffung der Todesstrafe umfasst nicht nur die Aufhebung der diesbezüglich bei Erlass des Grundgesetzes vorgefundenen Rechtslage, sondern stellt zugleich ein zukunftsgerichtetes verfassungsrechtliches Verbot auf, die Todesstrafe durch Gesetz wieder einzuführen (Stern IV/1/Sachs, 154). Wie sich auch durch die Nichterwähnung der Norm in Art. 93 I Nr. 4a zeigt, ist Art. 102 kein Grundrecht oder grundrechtsgleiches Recht. Vielmehr stellt er eine materielle Grenze für die Beschränkbarkeit anderer Grundrechte, insbes. des in Art. 2 II 1 verbürgten Rechts auf Leben, dar (sog. „Schranken-Schranke“).

Todesstrafe iSd Art. 102 ist die von Staats wegen angeordnete Tötung eines Menschen zur Ahndung einer Straftat (Sachs/Degenhart Art. 102 Rn. 1a). Ihr Verbot erstreckt sich auf die Strafandrohung als solche, die Verhängung im Einzelfall sowie die Vollstreckung (BVerfGE 18, 112 (116)). Art. 102 umfasst insoweit allerdings nur die repressive Tötung eines Menschen, weswegen etwa der präventive, der Gefahrenabwehr dienende polizeiliche Todesschuss („finaler Rettungsschuss“) nicht an Art. 102 zu messen ist (Dreier/Dreier Art. 102 Rn. 47; SHH/Schmahl Art. 102 Rn. 3).

Umstr. ist, ob Art. 102 der Auslieferung oder Ausweisung eines Ausländers an einen anderen Staat entgegensteht, wenn ihm dort die Todesstrafe droht. Die Frage stellt sich vor allem, soweit nicht bereits einfachgesetzliche Regelungen wie etwa § 8 IRG oder § 60 I AufenthG für diesen Fall die Überstellung ins Ausland verbieten. Da diese Überstellung keine durch die deutsche Staatsgewalt vorgenommene Ahndung einer Straftat darstellt, sondern der deutsche Staat bloß eine mittelbare Ursache für die Vollstreckung der Todesstrafe im Ausland setzt, enthält Art. 102 für die Beantwortung dieser Frage grds. keine unmittelbare Aussage; etwas anderes kommt allenfalls in Betracht, wenn die Ausweisung die Reaktion auf eine in Deutschland begangene Straftat ist. Das BVerfG hatte zunächst unter Hinweis auf die „völkerrechtsfreundliche Grundhaltung des Grundgesetzes“ entschieden, dass Art. 102 die Auslieferung im Falle der im Ausland drohenden Todesstrafe nicht schlechthin verbietet (BVerfGE 18, 112 (116 ff.); iE ähnl. Dreier/Dreier Art. 102 Rn. 51 ff.), es später aber offengelassen, ob hieran noch festgehalten werden kann (BVerfGE 60, 348 (354)). Obwohl Art. 102 in diesen Fällen nicht unmittelbar einschlägig ist, wird man allerdings aufgrund des in ihm verkörperten Bekenntnisses zum Wert des menschlichen Lebens (vgl. BVerfGE 18, 112 (117); BVerwGE 78, 285 (294)) die Auslieferung in diesen Fällen allenfalls in besonderen Ausnahmesituationen für zulässig erachten können (vgl. dazu Sachs/Degenhart Art. 102 Rn. 5/6; Jarass/Pieroth/Jarass Art. 102 Rn. 3 aE; SHH/Schmahl Art. 102 Rn. 5).

Auch wenn, wie sich an Art. 2 II 3 zeigt, der Zugriff auf das menschliche Leben dem Staat nicht völlig entzogen ist, scheitert eine Aufhebung des Art. 102 bzw. die Wiedereinführung der Todesstrafe an der Ewigkeitsklausel des Art. 79 III (Sachs/Degenhart Art. 102 Rn. 7; Stern IV/1/Sachs, 154). Denn die Todesstrafe ist, egal in welcher Form, mit der in Art. 1 I garantierten Menschenwürde unvereinbar, ihre staatliche Anordnung und Vollstreckung „ein schlechterdings unzumutbares und unerträgliches Unterfangen“ (BGHSt 41, 317 (325); offengelassen von BVerfGE 94, 115 (138)). Aus humanitären Gründen kann keinem zivilisierten Staat das Recht zustehen, durch diese Sanktion über das Leben des Einzelnen zu verfügen (BGHSt 41, 317 (325)). Jegliche Differenzierung verbietet sich daher (vgl. MKS/Gusy Art. 102 Rn. 33). Auch das Rechtsstaatsprinzip steht einer Strafe entgegen, deren Vollstreckung im Falle ihrer nachträglich festgestellten Unrechtmäßigkeit nicht mehr „rückgängig“ gemacht werden kann.