Artikel 143 [Sondervorschriften für neue Bundesländer und Ost-Berlin]
(1) 1 Recht in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrags genannten Gebiet kann längstens bis zum 31. Dezember 1992 von Bestimmungen dieses Grundgesetzes abweichen, soweit und solange infolge der unterschiedlichen Verhältnisse die völlige Anpassung an die grundgesetzliche Ordnung noch nicht erreicht werden kann. 2 Abweichungen dürfen nicht gegen Artikel 19 Abs. 2 verstoßen und müssen mit den in Artikel 79 Abs. 3 genannten Grundsätzen vereinbar sein.
(2) Abweichungen von den Abschnitten II, VIII, VIIIa, IX, X und XI sind längstens bis zum 31. Dezember 1995 zulässig.
(3) Unabhängig von Absatz 1 und 2 haben Artikel 41 des Einigungsvertrags und Regelungen zu seiner Durchführung auch insoweit Bestand, als sie vorsehen, daß Eingriffe in das Eigentum auf dem in Artikel 3 dieses Vertrags genannten Gebiet nicht mehr rückgängig gemacht werden.
I. Allgemeines
Der heutige Art. 143 ist im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands – auf der Grundlage der Art. 59 II, 79 iVm Art. 23 S. 2 aF (dazu BVerfGE 82, 316 (320 f.); 84, 90 (118 f.)) – durch Art. 1 S. 1 des EinigungsvertragsG v. 23.9.1990 iVm Art. 4 Nr. 5 des Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR über die Herstellung der Einheit Deutschlands, den EinigungsV v. 31.8.1990 (BGBl. 1990 II 889) mit Wirkung zum 3.10.1990 in das GG eingefügt worden. Art. 143 I, II erlaubte im Beitrittsgebiet innerhalb bestimmter Übergangszeiten Abweichungen vom GG, um den beigetretenen Teilen Deutschlands die Möglichkeit zu einer schrittweisen Anpassung an die vom GG geforderte Rechtsordnung zu ermöglichen. Art. 143 III soll hingegen die Nichtrückgängigmachung von Eigentumseingriffen vor allem durch die sowjetische Besatzungsmacht zwischen 1945 und 1949 verfassungsrechtlich auf Dauer absichern.
II. Übergangsregelungen
Unbeschadet des in dem beigetretenen Teil Deutschlands in möglichst kurzer Zeit anzustrebenden voll verfassungsrechtlichen Zustandes erlaubte Art. 143 I, II für bestimmte Übergangszeiten Abweichungen vom GG. Dem Gesetzgeber sollte auf diese Weise der notwendige Spielraum eingeräumt werden, um im Beitrittsgebiet geltendes Recht schrittweise in die vom GG geforderte Rechtsordnung überzuleiten (BVerfGE 107, 218 (236)).
Art. 143 I, II erlaubte Abweichungen vom GG in dem in Art. 3 des EinigungsV genannten Gebiet. Es handelt sich dabei um das Gebiet der Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie um den Ostteil Berlins.
Art. 143 I, II erlaubte ein generelles Abweichen von Rechtsnormen im Beitrittsgebiet von den Vorgaben des GG. Es konnte sich dabei um Rechtsnormen jeder Art handeln, deren Geltung sich auf den beigetretenen Teil Deutschlands beschränkte (Dreier/Wieland Art. 143 Rn. 19). Unerheblich war, ob es sich um Recht der DDR oder übergeleitetes Bundesrecht handelte (BT-Drs. 11/7760, 359). Die Abweichungsbefugnis war inhaltlich doppelt begrenzt. Sie galt nur, soweit und solange eine völlige Anpassung nicht erreicht werden konnte (BVerfGE 100, 1 (53)), und gestattete keine Verstöße gegen Art. 79 III und Art. 19 II. Die Regelung des Art. 143 I, II lehnte sich damit an die Rspr. des BVerfG zum Saarstatut an, die schrittweise Annäherungen an die vom GG geforderte Rechtslage entspr. Schranken unterworfen hatte (BVerfGE 4, 157 (169 f.)).
Die Abweichungsbefugnis war gem. Art. 143 I bis zum 31.12.1992 befristet. Von den in Art. 143 II genannten Bestimmungen des GG (Art. 20–37, Art. 83–115 und Art. 116–142) konnte bis zum 31.12.1995 abgewichen werden. Mit Ablauf dieser Fristen ist vom GG abweichendes Recht im Beitrittsgebiet, soweit es nicht von Art. 143 III erfasst wird, verfassungswidrig geworden. Seine Weitergeltung über die Fristen des Art. 143 I, II hinaus darf vom Gesetzgeber nicht angeordnet werden (vgl. BVerfGE 88, 203 (208 ff.); 86, 390 (394 ff.)).
III. Ausschluss der Rückgängigmachung von Enteignungen
Art. 143 III bezweckt – in formell und materiell verfassungsgemäßer Weise (BVerfGE 112, 1 (39); 94, 12 (34); 84, 90 (118 ff.)) – die verfassungsrechtliche Immunisierung der in und auf Grund von Art. 41 des EinigungsV getroffenen Regelungen. Sie sollen vor dem GG, insbes. vor Art. 14, insoweit Bestand haben, als sie die Rückgängigmachung von im Beitrittsgebiet erfolgten Eigentumseingriffen ausschließen.
Die Vorschrift hat im Wesentlichen zwei Regelungen zum Gegenstand. Sie sichert zum einen den verfassungsrechtlichen Bestand von Art. 41 I, III EinigungsV iVm Nr. 1 der Gemeinsamen Erklärung der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vom 15.6.1990 (Anlage III zum EinigungsV, BGBl. 1990 II 1237). Diese Regelung verbietet es, Enteignungen im Beitrittsgebiet, die nach dem 8.5.1945 durch die sowjetische Besatzungsmacht oder in Einklang mit deren Willen durch deutsche Stellen vorgenommen wurden, als nichtig zu behandeln, und schließt es darüber hinaus aus, ihre Folgen durch eine Rückgabe der enteigneten Objekte zu bereinigen (BVerfGE 84, 90 (113 f. u. 121); BVerwGE 96, 183 (185)). Von dem Verbot erfasst sind nach Gründung der DDR am 7.10.1949 erfolgte Enteignungen nur, wenn sie objektiv der Verantwortung der Besatzungsmacht zuzurechnen sind (BVerwGE 98, 1 (4)). Regelungen über einen vermögenswerten Ausgleich der erlittenen Beeinträchtigungen bleiben gem. Nr. 1 S. 4 der Gemeinsamen Erklärung dem Gesetzgeber vorbehalten, dessen Ermessen allerdings durch Art. 3 I reduziert ist (BVerfGE 84, 90 (128 f.)).
Art. 143 III sichert zum anderen den Bestand von Art. 41 II des EinigungsV, der die Rückgängigmachung sonstiger – dh der Staatsgewalt der DDR zuzurechnender – Enteignungen im Beitrittsgebiet ausschließt, soweit die Enteignungsobjekte für dringende Investitionszwecke benötigt werden. Anders als Art. 41 I, III des EinigungsV sieht Art. 41 II EinigungsV eine Entschädigung nach Maßgabe gesetzlicher Ausgestaltung obligatorisch vor.
Dem Anwendungsbereich des Art. 143 III unterfallende Vorschriften sind von den Anforderungen einfachen Verfassungsrechts freigestellt. Die Freistellung gilt jedoch anders als nach Art. 143 I, II auf Dauer. Art. 143 III entbindet Eigentumseingriffe dagegen nicht von den Bindungen des Art. 79 III (BK/Meixner Art. 143 Rn. 69; Dreier/Wieland Art. 143 Rn. 28; MKS/Schwarz Art. 143 Rn. 43).