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Artikel 136 WRV [Religionsunabhängigkeit von Rechten und Pflichten]

(1) Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt.

(2) Der Genuß bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte sowie die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis.

(3) 1 Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren. 2 Die Behörden haben nur so weit das Recht, nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft zu fragen, als davon Rechte und Pflichten abhängen oder eine gesetzlich angeordnete statistische Erhebung dies erfordert.

(4) Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden.

I. Bedeutung der Norm

Art. 136 WRV stellt eine nähere Ausgestaltung der in Art. 4 GG geregelten individuellen Bekenntnisfreiheit dar, geht inhaltlich aber nicht über die Gewährleistungen von Art. 4 GG hinaus (BVerfGE 53, 366 (400); 70, 138 (167)). Art. 136 WRV überschneidet sich auch mit Art. 3 III GG; mit Art. 33 III GG ist Art. 136 II WRV sogar zT textlich deckungsgleich, was für eine parallele Anwendung spricht (DHS/Korioth WRV Art. 136 Rn. 6; aA Jarass/Pieroth/Jarass WRV Art. 136 Rn. 3). Wegen dieses inhaltlichen Gleichlaufs kommt Art. 136 WRV nur geringe Bedeutung zu (MKS/Unruh WRV Art. 136 Rn. 4 f.). Die Vorschrift entfaltet keine unmittelbare Drittwirkung (Dreier/Morlok WRV Art. 136 Rn. 14). Sofern sie nicht ausnahmsweise als Träger von Staatsgewalt tätig werden, sind die Religionsgesellschaften keine Verpflichtungsadressaten. Deshalb greift Art. 136 I, II WRV schon tatbestandlich nicht ein, wenn zB die Vergabe kirchlicher Kindergartenplätze von der Religion abhängig gemacht wird (Sachs/Ehlers WRV Art. 136 Rn. 1).

II. Geltung der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten

Art. 136 I, II WRV sichert gemeinsam mit Art. 137 I die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates (Art. 137 Rn. 2) und enthält ein spezielles Diskriminierungsverbot wegen Ausübung oder Nichtausübung der Glaubensfreiheit iSd Art. 4 I, II GG (DHS/Korioth WRV Art. 136 Rn. 33 f.). Unzulässig sind auch mittelbare Diskriminierungen (DHS/Korioth WRV Art. 136 Rn. 36). Die Unterscheidung von bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechten ist ohne aktuelle Bedeutung (MKS/Unruh WRV Art. 136 Rn. 3). Der Begriff erfasst alle Rechtspositionen im bürgerlichen wie im öffentlichen Recht (v. Münch/Kunig/Mager Art. 140 Rn. 11). Keine staatsbürgerliche Pflicht idS stellt die Kirchensteuerpflicht dar (BVerfGE 19, 206 (220)); diese hat in Art. 137 VI WRV ihre Grundlage.

Aus Art. 136 I, II WRV kann kein Gesetzesvorbehalt hergeleitet werden (BeckOK GG/Germann Art. 140 Rn. 11; aA Sachs/Ehlers WRV Art. 136 Rn. 4). Zum einen bildet die in der Norm festgeschriebene Gleichbehandlung keinen Eingriffsgrund in die Religionsfreiheit; durch eine solche Lesart würde die Norm in ihr Gegenteil verkehrt (Dreier/Morlok WRV Art. 136 Rn. 20). Zum anderen wird Art. 136 WRV durch den vorbehaltlos garantierten Art. 4 GG überlagert (BVerfGE 33, 23 (31)). Für die Bekenntnisschule ist Art. 7 V GG einschlägig (DHS/Korioth WRV Art. 136 Rn. 66). Zu konfessionsgebundenen Staatsämtern vgl. Jarass/Pieroth/Jarass Art. 33 Rn. 38 f.

III. Schweigerecht

Art. 136 III WRV schützt das Recht, das religiöse oder weltanschauliche Bekenntnis nicht öffentlich offenbaren zu müssen (BVerfGE 12, 1 (4)). Es stellt einen Teilaspekt der negativen Glaubensfreiheit iSd Art. 4 I, II GG dar (MKS/Unruh WRV Art. 136 Rn. 34) und ist zudem Ausprägung der (negativen) Meinungsfreiheit sowie des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (BVerfGE 65, 1 (41 ff.); Sachs/Ehlers WRV Art. 136 Rn. 7). Art. 136 III WRV wird grds. durch jede verpflichtende Frage beeinträchtigt (DHS/Korioth WRV Art. 136 Rn. 78). An der Beeinträchtigung fehlt es aber, wenn die Glaubhaftmachung von jemandem verlangt wird, der eine Religionsförderung beantragt (BVerwGE 9, 97 (99 ff.); 109, 40 (52)).

Ausnahmen von Art. 136 III WRV können aufgrund kollidierenden Verfassungsrechts (Jarass/Pieroth/Jarass WRV Art. 136 Rn. 5; aA DHS/Korioth WRV Art. 136 Rn. 103) sowie nach S. 2 gerechtfertigt sein. S. 2 erlaubt aber nur die Frage nach der Religionszugehörigkeit, das Schweigerecht in Bezug auf die subjektive religiöse Überzeugung gilt schrankenlos. Die von S. 2 angesprochenen Rechte und Pflichten müssen durch Gesetz, das insbes. die Verhältnismäßigkeit wahrt, festgelegt werden (DHS/Korioth WRV Art. 136 Rn. 91). Zulässig ist die Angabepflicht für Zwecke des Lohnsteuerabzugs (BVerfGE 49, 375 (376); Dreier/Morlok WRV Art. 136 Rn. 21; vgl. auch EGMR NVwZ 2011, 1503 (1505 f.)). Hinsichtlich der so erlangten Kenntnisse ist der Staat aber zur Vertraulichkeit verpflichtet (BVerwGE 109, 40 (50)), weshalb die Weitergabe der Daten an den Arbeitgeber bedenklich sein kann (DHS/Korioth WRV Art. 136 Rn. 92; aA EGMR NVwZ 2011, 1503 (1505)). Der Offenbarungszwang im Rahmen der Volkszählung wurde vom BVerfG (BVerfGE 65, 1 (39)) für zulässig gehalten. Im Fall einer nicht gerechtfertigten Frage hat der Betroffene das Recht zur Lüge (DHS/Korioth WRV Art. 136 Rn. 75). Die Frage nach der Religionszugehörigkeit bei der Aufnahme in ein staatliches Krankenhaus zum Zweck der Erleichterung des Rechts der Religionsgesellschaft auf seelsorgerische Betreuung (→ WRV Art. 141 Rn. 1) ist zulässig, wenn auf die Freiwilligkeit der Antwort hingewiesen wird und die Beantwortung unter zumutbaren Voraussetzungen abgelehnt werden kann (BVerfGE 46, 266 (267 f.)).

IV. Unzulässigkeit von Religionszwang

Auch Art. 136 IV WRV schützt einen Teil der negativen Glaubensfreiheit (Art. 4 Rn. 5), nämlich die Freiheit vor staatlichem Zwang zu religiösen Handlungen, und zwar unabhängig davon, ob diese von einer Religionsgemeinschaft organisiert sind oder nicht (BVerfGE 108, 282 (302)). Der Regelungsgehalt von Art. 136 IV WRV ist bereits vollständig in Art. 4 I, II GG enthalten und wird von diesem überlagert (Dreier/Morlok WRV Art. 136 Rn. 22). Eine Beschränkung von Art. 136 IV WRV durch kollidierendes Verfassungsrecht ist praktisch nicht denkbar; so dürfte der Befehl „Helm ab zum Gebet“ bei der Bundeswehr unzulässig sein (DHS/Korioth WRV Art. 136 Rn. 126; aA MKS/Unruh WRV Art. 136 Rn. 43).