Artikel 84 [Länderverwaltung und Bundesaufsicht]
(1) 1 Führen die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus, so regeln sie die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren. 2 Wenn Bundesgesetze etwas anderes bestimmen, können die Länder davon abweichende Regelungen treffen. 3 Hat ein Land eine abweichende Regelung nach Satz 2 getroffen, treten in diesem Land hierauf bezogene spätere bundesgesetzliche Regelungen der Einrichtung der Behörden und des Verwaltungsverfahrens frühestens sechs Monate nach ihrer Verkündung in Kraft, soweit nicht mit Zustimmung des Bundesrates anderes bestimmt ist. 4 Artikel 72 Abs. 3 Satz 3 gilt entsprechend. 5 In Ausnahmefällen kann der Bund wegen eines besonderen Bedürfnisses nach bundeseinheitlicher Regelung das Verwaltungsverfahren ohne Abweichungsmöglichkeit für die Länder regeln. 6 Diese Gesetze bedürfen der Zustimmung des Bundesrates. 7 Durch Bundesgesetz dürfen Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben nicht übertragen werden.
(2) Die Bundesregierung kann mit Zustimmung des Bundesrates allgemeine Verwaltungsvorschriften erlassen.
(3) 1 Die Bundesregierung übt die Aufsicht darüber aus, daß die Länder die Bundesgesetze dem geltenden Rechte gemäß ausführen. 2 Die Bundesregierung kann zu diesem Zwecke Beauftragte zu den obersten Landesbehörden entsenden, mit deren Zustimmung und, falls diese Zustimmung versagt wird, mit Zustimmung des Bundesrates auch zu den nachgeordneten Behörden.
(4) 1 Werden Mängel, die die Bundesregierung bei der Ausführung der Bundesgesetze in den Ländern festgestellt hat, nicht beseitigt, so beschließt auf Antrag der Bundesregierung oder des Landes der Bundesrat, ob das Land das Recht verletzt hat. 2 Gegen den Beschluß des Bundesrates kann das Bundesverfassungsgericht angerufen werden.
(5) 1 Der Bundesregierung kann durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, zur Ausführung von Bundesgesetzen die Befugnis verliehen werden, für besondere Fälle Einzelweisungen zu erteilen. 2 Sie sind, außer wenn die Bundesregierung den Fall für dringlich erachtet, an die obersten Landesbehörden zu richten.
I. Allgemeines
Art. 84 gestaltet die Verwaltungsform der landeseigenen Verwaltung als einen der drei im GG geregelten Grundtypen des Vollzugs von Bundesgesetzen (Art. 83 Rn. 2) näher aus und stellt eine Konkretisierung der Regelung des Art. 83 dar. Geregelt werden die Organisationsgewalt der Länder sowie die Einwirkungsmöglichkeiten des Bundes auf die Landesverwaltung.
Art. 84 I hat durch die Föderalismusreform des Jahres 2006 (BGBl. 2006 I 2034) eine erhebliche Änderung erfahren. Die frühere Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen zur Regelung der Behördeneinrichtung und des Verwaltungsverfahrens gem. Art. 84 I aF ist gestrichen worden. Der Bund ist seither gem. Art. 84 I 2 Hs. 1 zu einer gesetzlichen Regelung ohne Zustimmung des BRats befugt. Allerdings ist den Ländern im Gegenzug das Recht der Abweichungsgesetzgebung gem. Art. 84 I 2 Hs. 2 eingeräumt worden. Dieses Abweichungsrecht kann der Bundesgesetzgeber bei einem besonderen Bedürfnis nach bundeseinheitlicher Regelung jedoch mit Zustimmung des BRats gem. Art. 84 I 5, 6 ausschließen.
II. Landeseigene Verwaltung
1. Anwendungsbereich
Bundesgesetze werden gem. Art. 83 im Regelfall von den Ländern als eigene Angelegenheit ausgeführt. Etwas anderes gilt nur, sofern das GG eine andere Form des Vollzugs, dh entweder eine Auftragsverwaltung der Länder oder eine bundeseigene Verwaltung, ausdrücklich vorschreibt oder sie zulässt und von dieser Ermächtigung Gebrauch gemacht worden ist. Art. 84 gilt für die Ausführung von Bundesgesetzen, dh für den Bereich der gesetzesakzessorischen Verwaltung. Auf die Ausführung von unmittelbar anwendbarem EU-Recht findet Art. 84 analoge Anwendung. Voraussetzung dafür ist, dass dem Bund die Gesetzgebungskompetenz für die unionsrechtlich geregelte Materie innerstaatlich zusteht und dass eine dem Unionsrecht entspr. bundesgesetzliche Regelung von den Ländern im Wege der landeseigenen Verwaltung auszuführen wäre (BeckOK GG/Suerbaum Art. 84 Rn. 14).
2. Organisationsgewalt der Länder
Gem. Art. 84 I 1 regeln die Länder die Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren. Diese beiden Aspekte der Länderbefugnis werden unter dem Begriff der Organisationsgewalt zusammengefasst. Tatsächlich reicht die Befugnis der Länder jedoch weiter und erstreckt sich umfassend auf alle im Zusammenhang mit dem landeseigenen Vollzug auftretenden Fragen (v. Münch/Kunig/Broß/Mayer Art. 84 Rn. 7). Die Nennung von Behördeneinrichtung und Verwaltungsverfahren in Art. 84 I 1 dient allein der Begrenzung der Befugnisse des Bundes, der nur insoweit Abweichendes gem. Art. 84 I 2 Hs. 1 regeln darf.
3. Einwirkungsbefugnisse des Bundes
a) Befugnisse des Bundesgesetzgebers
aa) Regelung der Behördenorganisation und des Verwaltungsverfahrens
Gem. Art. 84 I 2 Hs. 1 kann der Bund in Abweichung von der umfassenden Organisationsgewalt der Länder Regelungen betr. die Behördenorganisation und das Verwaltungsverfahren erlassen, ohne dass es insoweit der Zustimmung des BRats bedarf. Art. 84 I 2 Hs. 1 begründet jedoch keine Gesetzgebungskompetenz des Bundes (so wohl auch SHH/Henneke Art. 84 Rn. 22; Dreier/Hermes Art. 84 Rn. 22; aA MKS/Trute Art. 84 Rn. 20; DHS/F. Kirchhof Art. 84 Rn. 13; Sachs/Winkler Art. 84 Rn. 5; Jarass/Pieroth/Kment Art. 84 Rn. 4). Die Kompetenz des Bundes ergibt sich vielmehr als Annexkompetenz aus der ihm jew. zustehenden materiellen Gesetzgebungskompetenz.
Die Einrichtung der Behörden meint deren Errichtung und innere Organisation sowie die Festlegung des näheren Aufgabenkreises (v. Münch/Kunig/Broß/Mayer Art. 84 Rn. 10). Die Behördeneinrichtung ist jedoch nicht betroffen bei einer nur quantitativen Vermehrung bereits bestehender Aufgaben (BVerfGE 75, 108 (150 ff.); 105, 313 (331)). Behörden sind alle amtlichen Stellen auf Landesebene (BVerfGE 10, 20 (48)), wobei sowohl die unmittelbare als auch die mittelbare Landesverwaltung erfasst wird (BVerfGE 39, 96 (109); 114, 196 (223 f.)).
Das Verwaltungsverfahren betrifft die Einzelheiten des Verwaltungsablaufs, dh die Art und Weise der Ausführung eines Gesetzes einschließlich der dabei zur Verfügung stehenden Handlungsformen, die Form der behördlichen Willensbildung, die Art der Prüfung und Vorbereitung der Entscheidung, deren Zustandekommen und Durchsetzung sowie verwaltungsinterne Mitwirkungs- und Kontrollvorgänge (BVerfGE 37, 363 (385, 390); 105, 313 (331); 114, 196 (224)). Nicht zum Verwaltungsverfahren gerechnet werden Regelungen über zwischenbehördliche Akteneinsichts- und Auskunftsrechte (BVerfGE 10, 20 (49)) sowie das dem gerichtlichen Verfahren zugeordnete Widerspruchsverfahren (BVerfGE 35, 65 (75); Sachs/Winkler Art. 84 Rn. 11; aA Jarass/Pieroth/Kment Art. 84 Rn. 9). Die Kompetenz des Bundes, in die Organisationsgewalt der Länder einzubrechen, ist durch Art. 84 I 7 begrenzt. Danach darf durch ein Bundesgesetz keine Aufgabenübertragung auf kommunale Behörden erfolgen (vgl. Ingold DÖV 2010, 134 ff.; Meßmann DÖV 2010, 726 ff.). Dieses Durchgriffsverbot soll jedoch keine bundesgesetzlichen Regelungen ausschließen, die die kommunale Selbstverwaltungsgarantie ausgestalten (BeckOK GG/Suerbaum Art. 84 Rn. 29).
b) Abweichungsbefugnis der Länder
Gem. Art. 84 I 2 Hs. 2 können die Länder abweichende Regelungen von bundesgesetzlichen Regelungen der Behördeneinrichtung oder des Verwaltungsverfahrens treffen (sog. prozedurale Abweichungsbefugnis; zur materiellen Abweichungsbefugnis des Art. 72 III Art. 72 Rn. 24). Der Begriff der Abweichung ist wie bei Art. 72 III zu verstehen (Art. 72 Rn. 27). Ausreichend ist also, dass überhaupt eine Landesregelung vorliegt, auch wenn sie inhaltlich mit der bundesrechtlichen Regelung übereinstimmt (Maurer JuS 2010, 945 (950); aA Sachs/Winkler Art. 84 Rn. 22). Auch im Übrigen ist die Abweichungsbefugnis des Art. 84 I strukturell an Art. 72 III angelehnt. Bundesgesetze, die abweichende Landesgesetze überregeln, treten gem. Art. 84 I 3 frühestens sechs Monate nach ihrer Verkündung in Kraft, soweit nicht durch Bundesgesetz mit Zustimmung des BRats etwas anderes bestimmt ist. Im Verhältnis von Bundes- und Landesrecht erklärt Art. 84 I 4 die lex-posterior-Regel des Art. 72 III 3 für anwendbar (Art. 72 Rn. 30 f.).
c) Abweichungsfeste Regelung des Verwaltungsverfahrens
Bzgl. des Verwaltungsverfahrens kann der Bund nach Art. 84 I 5 und 6 durch Gesetz mit Zustimmung des BRats die Abweichungsbefugnis der Länder ausschließen. Diese Befugnis des Bundes ist gem. Art. 84 I 5 auf Ausnahmefälle beschränkt, ohne dass jedoch konkretisiert wird, in welchen Fällen eine Ausnahme anzunehmen ist. Laut Begründung des Gesetzesentwurfes sollen Regelungen des wirtschaftsrelevanten Umweltverfahrensrechts regelmäßig eine solche Ausnahme darstellen (BT-Drs. 16/813, 15). Im Übrigen darf der Bund nicht in einer Weise von seiner Befugnis Gebrauch machen, die zu einer Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses führen würde (Sachs/Winkler Art. 84 Rn. 28).
Ein gesetzlicher Ausschluss der Abweichungsmöglichkeit der Länder ist nur zulässig, sofern ein besonderes Bedürfnis nach bundeseinheitlicher Regelung besteht. Die Formulierung lehnt sich an die bis 1994 geltende Regelung in Art. 72 II an (Art. 72 Rn. 13), verlangt jedoch anders als die frühere Bedürfnisklausel ein „besonderes“ Bedürfnis. Daher trifft den Bundesgesetzgeber, der von der Möglichkeit nach Art. 84 I 5 Gebrauch machen will, eine erhöhte Begründungslast (Sachs/Winkler Art. 84 Rn. 31; Kahl NVwZ 2008, 710 (715)).
In verfahrensrechtlicher Hinsicht bedürfen die abweichungsfesten Gesetze gem. Art. 84 I 6 der Zustimmung des BRats. Hierdurch soll der Kompetenzverlust der Länder durch die Regelung nach Art. 84 I 5 kompensiert werden. Hat der Bund die Abweichungsmöglichkeit der Länder im Hinblick auf das Verwaltungsverfahren nicht gesetzlich ausgeschlossen, bedürfen Gesetze nach Art. 84 I 2 keiner Zustimmung des BRats (BVerfGE 128, 1 (35)).
d) Befugnisse der Bundesregierung
aa) Allgemeine Verwaltungsvorschriften
Art. 84 II ermächtigt die BReg, mit Zustimmung des BRats allg. Verwaltungsvorschriften zu erlassen. Die BReg ist hier als Kollegialorgan zu verstehen; die Ermächtigung eines einzelnen Ministers ist – auch durch Bundesgesetz – nicht zulässig (MKS/Trute Art. 84 Rn. 68; Sachs/Winkler Art. 84 Rn. 38). Allg. Verwaltungsvorschriften sind Regelungen, die für eine abstrakte Vielheit von Sachverhalten des Verwaltungsgeschehens verbindliche Aussagen treffen, ohne auf eine unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet zu sein (BVerfGE 100, 249 (258)).
bb) Einzelweisungen
Durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des BRats bedarf, kann gem. Art. 84 V 1 der BReg als Kollegium die Befugnis eingeräumt werden, in besonderen Fällen Einzelweisungen zu erteilen. Einzelweisungen treffen für konkrete Sachverhalte rechtsverbindliche Aussagen ohne Außenwirkung (BVerfGE 49, 24 (49)). Die Ermächtigung umfasst aber auch mildere Formen der Einwirkung, wie etwa Zustimmungs-, Einvernehmens- und Anhörungserfordernisse (BVerwGE 42, 279 (284); BVerfGE 67, 173 (175 f.)). Einzelweisungen müssen – im deutlichen Unterschied zur normalen Lage des Gesetzesvollzugs – besondere Fälle betreffen (BeckOK GG/Suerbaum Art. 84 Rn. 56; Jarass/Pieroth/Kment Art. 84 Rn. 27). Weisungsadressaten sind gem. Art. 84 V 2 die obersten Landesbehörden, dh die Ministerien. In den von der BReg als dringend erachteten Fällen können Einzelweisungen auch an nachgeordnete Behörden gerichtet werden. Die Feststellung der Dringlichkeit muss durch die BReg als Kollegium erfolgen.
III. Bundesaufsicht
1. Gegenstand und Maßstab der Aufsicht
Art. 84 III und IV regeln die Bundesaufsicht über die Länder bei der Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder als eigene Angelegenheit. Ausgeübt wird die Aufsicht gem. Art. 84 III 1 durch die BReg als Kollegialorgan. Die Bundesaufsicht betrifft die Ausführung der Bundesgesetze. Sie erstreckt sich entspr. auf unmittelbar anwendbare Normen des EU-Rechts, sofern deren Vollzug durch die Länder als eigene Angelegenheit zu erfolgen hat (Rn. 3).
Die Bundesaufsicht gem. Art. 84 III 1 ist Rechtsaufsicht, keine Fachaufsicht. Maßstab ist das geltende Recht, dh Bundes-, Europa- und Völkerrecht (Sachs/Winkler Art. 84 Rn. 46; MKS/Trute Art. 84 Rn. 82 f.). Auch Verwaltungsvorschriften gem. Art. 84 II (Rn. 12) und Einzelweisungen gem. Art. 84 V (Rn. 13) sind geltendes Recht iSv Art. 84 III 1.
2. Aufsichtsinstrumente
a) Entsendung von Beauftragten
Als vorbereitende Maßnahme der Rechtsaufsicht (Dreier/Hermes Art. 84 Rn. 103) kann die BReg als Kollegium gem. Art. 84 III 2 Beauftragte zu den obersten Landesbehörden entsenden. Mit deren Zustimmung oder ersatzweise mit Zustimmung des BRats kann die Entsendung auch zu den nachgeordneten Behörden geschehen. Bei den Beauftragten handelt es sich um Hilfsorgane der BReg (Sachs/Winkler Art. 84 Rn. 47), die insbes. Akteneinsicht nehmen und Vernehmungen durchführen, nicht aber Weisungen erteilen dürfen (Dreier/Hermes Art. 84 Rn. 103; BeckOK GG/Suerbaum Art. 84 Rn. 60).
b) Mängelrüge
Die Mängelrüge gem. Art. 84 IV 1, dh die Feststellung der BReg, dass eine Rechtsverletzung bei der Ausführung eines Bundesgesetzes vorliegt, ist das wichtigste Mittel der Bundesaufsicht. Beseitigt das betroffene Land den Mangel nicht, kann die BReg oder das betroffene Land eine Entscheidung des BRats beantragen. Gegenstand der Prüfung des BRats ist die Frage, ob das Land tatsächlich das Recht verletzt hat.
Bestätigt der BRat den Mangel, ist das Verfahren beendet, sobald das Land den Mangel beseitigt. Gem. Art. 84 IV 2 kann das Land gegen den bestätigenden Beschluss des BRats aber auch das BVerfG in einem Bund-Länder-Streitverfahren nach Art. 93 I Nr. 3 anrufen (Art. 93 Rn. 21 ff.). Beseitigt das Land den Mangel nicht und lässt es die Frist zur Anrufung des BVerfG verstreichen, kann die BReg Bundeszwang nach Art. 37 durchführen oder ihrerseits das BVerfG gem. Art. 93 I Nr. 3 anrufen. Bestätigt der BRat den Mangel nicht, kann die BReg ebenfalls ein Bund-Länder-Streitverfahren nach Art. 93 I Nr. 3 einleiten.