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Artikel 63 [Wahl des Bundeskanzlers]

(1) Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage ohne Aussprache gewählt.

(2) 1 Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt. 2 Der Gewählte ist vom Bundespräsidenten zu ernennen.

(3) Wird der Vorgeschlagene nicht gewählt, so kann der Bundestag binnen vierzehn Tagen nach dem Wahlgange mit mehr als der Hälfte seiner Mitglieder einen Bundeskanzler wählen.

(4) 1 Kommt eine Wahl innerhalb dieser Frist nicht zustande, so findet unverzüglich ein neuer Wahlgang statt, in dem gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält. 2 Vereinigt der Gewählte die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich, so muß der Bundespräsident ihn binnen sieben Tagen nach der Wahl ernennen. 3 Erreicht der Gewählte diese Mehrheit nicht, so hat der Bundespräsident binnen sieben Tagen entweder ihn zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen.

I. Allgemeines: Kanzlerwahl – „Kanzlerdemokratie“– Parteiendominanz

Vor 1949 wurde der Kanzler vom Staatsoberhaupt (Art. 15 I RV 1871: Kaiser; Art. 53 WRV: Reichspräsident) ernannt. Nach Art. 63 muss er nun vor dieser Ernennung durch den BPräsidenten stets vom BT gewählt werden. Darin wird eine (neue) Form der „Kanzlerdemokratie“ gesehen, iVm Art. 65 S. 1, 67, 68 (zu dem nicht unproblematischen Begriff vgl. MKS/Schröder Art. 63 Rn. 12 f.). Konkrete Folgerungen ergeben sich aber aus ihm nicht. Art. 63 findet nur auf die Wahl des BKanzlers und nur bei Vakanz von dessen Amt Anwendung.

Die Kanzlerwahl steht politisch-faktisch unter Parteiendominanz (rechtlich zurückh. BVerfGE 52, 63 (83)). Politische Gruppierungen bereiten allerdings idR die Wahl vor, meist durch „Koalitionen“. Koalitionsvereinbarungen sind jedoch nach hL (BGHZ 29, 187 (192); MKS/Schröder Art. 63 Rn. 18 ff.) rechtlich unverbindlich, nicht nur nicht einklagbar. – Art. 63 ist strikt nach rechtlichen Kategorien auszulegen. Politische Einschätzungen und politologische Bewertungen sind nur in deren Rahmen von Bedeutung.

II. Die erste Wahlalternative

Der erste Wahlgang (Art. 63 I) findet nur über einen Ein-Personen-Vorschlag des BPräsidenten statt, der dazu verpflichtet ist. Erfolgswahrscheinlichkeiten eines Kandidaten überprüft er politisch, er kann sich von möglichen Kandidaten Versprechungen machen lassen, die aber rechtlich unverbindlich sind. Wann der Vorschlag dem BTags-Präsidenten zugeleitet wird, steht ebenfalls in freier, nicht fristgebundener Entscheidung des BPräsidenten; der bisherige BKanzler muss auf sein Ersuchen die Geschäfte weiterführen (Art. 69 III). Nur unbegründbare Vorschlagsverzögerung hat Rechtsfolgen (Art. 61 I 1).

Vorschlagsfähig und wählbar ist nach verbreiteter Auffassung jede natürliche Person, welche die Wählbarkeitsvoraussetzungen nach dem BWG (vgl. Art. 38 II 2, 54 I 2 GG) erfüllt. Dies ergibt sich allerdings nicht zweifelsfrei aus dem GG. Eine ergänzende Klarstellung wäre mit Blick auf EU-Recht wünschenswert. Nicht wählbar ist dagegen, wer nach Gerichtsentscheidung, auch nach Art. 18, ein öffentliches Amt nicht bekleiden kann.

Im Wahlverfahren ist zunächst die Beschlussfähigkeit festzustellen (§ 45 GeschOBTag); das Gegenteil lässt sich aus einem „Zügigkeitserfordernis“ nicht ableiten. Das Verfahren läuft sodann ohne Aussprache (Art. 63 I) geheim ab (§§ 4 I, 49 I GeschOBTag); dies ist durch die Geschäftsordnungsautonomie des BTags gedeckt (Art. 40 I 2). Ein – nicht allg. geltendes – Transparenzgebot steht nicht entgegen. Andere Namen auf den Stimmzetteln als der des Vorgeschlagenen gelten als NEIN-Stimmen. „Gewählt“ ist „nur“ der Vorgeschlagene, wenn er die Stimmen der Mehrheit der BTags-Mitglieder (Art. 121) erhält (Kanzlermehrheit) und die Wahl annimmt. Lehnt er sie ab, so ist der Wahlvorschlag des BPräsidenten erledigt; es kommt dann zur zweiten Wahlalternative.

Der Gewählte ist vom BPräsidenten zu ernennen, innerhalb von sieben Tagen, wenn das Verfahren fehlerfrei war und Wählbarkeit vorliegt. Ein weiterer Vorschlag ist nicht zulässig. Gegenzeichnung ist nicht vorgesehen.

III. Die zweite Wahlalternative nach Abs. 3

Ein zweiter Wahlgang muss – nicht: kann – bei Erfolglosigkeit des ersten binnen 14 Tagen nach diesem stattfinden (Art. 63 II), denn ein BKanzler muss gewählt werden (arg. Art. 69 III). Über das Vorschlagsrecht ist in der Verfassung nichts bestimmt; § 4 S. 2 GeschOBTag verlangt dafür die Unterschrift von 1/4 der gesetzlichen Mitglieder des BTags oder einer mindestens ebenso starken Fraktion. Dies ist problematisch und jedenfalls nicht durch die – angeblich – höhere Wahrscheinlichkeit des Erreichens der Mehrheit gedeckt; Art. 63 II schließt Überraschungserfolge nicht aus.

Für die Wählbarkeit, das geheime Verfahren und die Ernennung des Gewählten gelten auch hier, Rn. 4, 5, 6. Bis ein Vorgeschlagener die nötige Mehrheit erreicht und die Wahl annimmt, können – immer innerhalb von 14 Tagen – beliebig viele Wahlgänge stattfinden. Ein Ausspracheverbot besteht nicht mehr.

IV. Die dritte Wahlalternative nach Abs. 4

Führt auch diese zweite Wahlalternative nicht zur Wahl, so kann diese nur mehr in einem dritten Wahlgang erfolgen (Art. 63 IV). Er hat sobald wie objektiv möglich (unverzüglich) stattzufinden. Art. 39 gilt nicht. Beschlussfähigkeit ist erforderlich. Für das Vorschlagsrecht gilt Rn. 7, für die Wählbarkeit und das Verfahren gelten Rn. 4 f. Ein Wahlvorschlag ist auch hier nicht erforderlich (Rn. 7); jeder Abgeordnete kann aber einen Wahlvorschlag machen; §§ 42 und 76 GeschOBTag gelten nicht.

Wird ein Wählbarer mit der Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl (§ 2 II GeschOBT) gewählt, so muss ihn der BPräsident innerhalb von 7 Tagen nach der Wahl ernennen (Art. 63 IV 3). Vereinigt er nur die meisten abgegebenen Stimmen (Art. 42 II) auf sich (relative Mehrheit), so kann der BPräsident ihn binnen 7 Tagen ernennen oder den Bundestag innerhalb dieser Frist auflösen. In dieser Entscheidung ist der BPräsident frei, eine (voraussichtliche) politische Handlungsfähigkeit des Gewählten beurteilt er allein; rechtlich gebunden ist er nur in der formellen Überprüfung der Ordnungsmäßigkeit der Wahl sowie darin, ein der alternativen Entscheidungen zu treffen (vgl. auch Hölscheidt/Mundil DVBl 2019, 73; Austermann DÖV 2013, 865).

Lehnt der so Gewählte die Wahl ab oder kommt es zu Stimmengleichheit, so finden ein oder mehrere weitere Wahlgänge (noch „ein neuer Wahlgang“) statt.

Der BPräsident kann – alternativ – den BT auflösen, wenn er den mit relativer Mehrheit Gewählten nicht ernennen will. Insoweit besteht für ihn ein Wahlrecht, Einer Begründung dieser unnachprüfbaren Entscheidung bedarf es nicht. Es amtiert dann ein „Minderheitskanzler“.