Artikel 72 [Konkurrierende Gesetzgebung des Bundes]
(1) Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat.
(2) Auf den Gebieten des Artikels 74 Abs. 1 Nr. 4, 7, 11, 13, 15, 19a, 20, 22, 25 und 26 hat der Bund das Gesetzgebungsrecht, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht.
(3) 1 Hat der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit Gebrauch gemacht, können die Länder durch Gesetz hiervon abweichende Regelungen treffen über:
- das Jagdwesen (ohne das Recht der Jagdscheine);
- den Naturschutz und die Landschaftspflege (ohne die allgemeinen Grundsätze des Naturschutzes, das Recht des Artenschutzes oder des Meeresnaturschutzes);
- die Bodenverteilung;
- die Raumordnung;
- den Wasserhaushalt (ohne stoff- oder anlagenbezogene Regelungen);
- die Hochschulzulassung und die Hochschulabschlüsse;
- die Grundsteuer.
2 Bundesgesetze auf diesen Gebieten treten frühestens sechs Monate nach ihrer Verkündung in Kraft, soweit nicht mit Zustimmung des Bundesrates anderes bestimmt ist. 3 Auf den Gebieten des Satzes 1 geht im Verhältnis von Bundes- und Landesrecht das jeweils spätere Gesetz vor.
(4) Durch Bundesgesetz kann bestimmt werden, daß eine bundesgesetzliche Regelung, für die eine Erforderlichkeit im Sinne des Absatzes 2 nicht mehr besteht, durch Landesrecht ersetzt werden kann.
I. Allgemeines
Art. 72 bestätigt das Prinzip der grds. Zuständigkeit der Länder gem. Art. 30 und formuliert die Gesetzgebungskompetenz des Bundes als Ausnahme. Art. 72 enthält eine Definition der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz, einer von mehreren Arten von Gesetzgebungskompetenzen des Bundes (Art. 70 Rn. 12). Die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz ist eine Vollkompetenz des Bundes, die zur Regelung sämtlicher zu einem Sachgebiet gehörenden Fragen ermächtigt. Den Ländern, die im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung ebenfalls zur Gesetzgebung befugt sind, wird der Erlass von gesetzlichen Regelungen verwehrt, sofern und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht hat.
Art. 72, der im Zuge der Föderalismusreform 2006 (BGBl. 2006 I 2034; Art. 70 Rn. 2) erhebliche Änderungen erfahren hat, nimmt innerhalb der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz weitere Differenzierungen vor. Dabei lassen sich drei Kompetenzbereiche unterscheiden, die jew. unterschiedliche Voraussetzungen haben: die Kernkompetenz des Bundes gem. Art. 72 I (Rn. 4 ff.), die Bedarfskompetenz des Bundes gem. Art. 72 II (Rn. 12 ff.) und die Abweichungskompetenz der Länder gem. Art. 72 III (Rn. 24 ff.). Im Bereich der konkurrierenden Kompetenz des Bundes ist dessen Gesetzgebungsbefugnis – anders als vor der Föderalismusreform – nur noch bzgl. bestimmter Sachgebiete an die Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 II gebunden. Durch die Föderalismusreform neu eingeführt wurde in Art. 72 III auch eine Abweichungsbefugnis der Länder für bestimmte Bereiche. Danach dürfen sie auch dann eigene Regelungen erlassen, wenn der Bund von seinem konkurrierenden Gesetzgebungsrecht bereits Gebrauch gemacht hat.
Der Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung umfasst zum einen die in Art. 74 I aufgelisteten Sachgebiete. Der Katalog des Art. 74 I ist jedoch nicht abschließend; konkurrierende Gesetzgebungskompetenzen können sich auch aus anderen Bestimmungen des GG ergeben. Konkurrierende Gesetzgebungskompetenzen werden dem Bund auch durch ungeschriebene Kompetenzen (Art. 70 Rn. 16) zugewiesen. Knüpft eine Kompetenz kraft Sachzusammenhangs an eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes an, besitzt der Bund eine konkurrierende Sachzusammenhangskompetenz. Entsprechendes gilt für Annexkompetenzen des Bundes.
II. Konkurrierende Kernkompetenz des Bundes
1. Begriff und Anwendungsbereich
Aus der Systematik von Art. 72 ergibt sich, dass der konkurrierenden Kernkompetenz des Bundes alle Sachbereiche unterfallen, die weder unter die Bedarfskompetenz des Bundes nach Art. 72 II noch unter die Abweichungskompetenzen der Länder nach Art. 72 III fallen. Der Gesetzgeber kann auf dem Gebiet der Kernkompetenzen allein aufgrund der Zuweisung eines Kompetenztitels tätig werden. Weitere Voraussetzungen müssen nicht vorliegen. Der Prüfung der im Rahmen der Bedarfskompetenz nach Art. 72 II nachzuweisenden Erforderlichkeit einer bundeseinheitlichen Regelung (Rn. 13 ff.) bedarf es hier nicht (BT-Drs. 16/813, 11).
Der Kernkompetenz unterstehen die Gegenstände gem. Art. 74 I Nr. 1–3, 6, 9–10, 12, 14, 16–19, 21, 23, 24 und 27. Von den Gegenständen gem. Art. 74 I Nr. 28–33 gehören nur die gem. Art. 72 III 1 von der Abweichungskompetenz der Länder ausgenommenen zur Kernkompetenz. Da somit die meisten der bedeutsameren Gesetzgebungsmaterien des Art. 74 I der nicht an die Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 II gebundenen Kernkompetenz des Bundes zugeordnet werden, scheint das Ziel einer Stärkung der Länderkompetenzen durch die Föderalismusreform insoweit kaum erreicht worden zu sein (Degenhart NVwZ 2006, 1209 (1220)).
2. Sperrwirkung bei Gebrauchmachen
Hat der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht nach Art. 72 I Gebrauch gemacht, sind die Länder von der Gesetzgebung ausgeschlossen. Es kommt also zu einer Sperrwirkung für den Erlass von Landesgesetzen; dennoch erlassene Landesgesetze sind nichtig (BVerfGE 138, 261 (283)).
In zeitlicher Hinsicht („solange“) beginnt die Sperrwirkung mit der Verkündung der jew. bundesrechtlichen Regelung (BT-Drs. 12/6000, 33; Rybak/Hofmann NVwZ 1995, 230; Sachs/Degenhart Art. 72 Rn. 35; aA Jarass NVwZ 1996, 1041 (1044) – Inkrafttreten; Sannwald ZG 1994, 134 (138) – letzter Beschl. von BTag oder BRat). Sie endet mit der Aufhebung der bundesrechtlichen Regelung.
Inhaltlich reicht die Sperrwirkung, „soweit“ der Bundesgesetzgeber eine Materie geregelt hat. Ein bloßes Sperrgesetz, dh ein Vorbehalt der künftigen Regelung durch den Bund unter gleichzeitiger Aussperrung der Länder, ist keine inhaltliche Regelung einer Materie und kann daher keine Sperrwirkung entfalten (BVerfGE 34, 9 (28)). Bei der erschöpfenden Regelung einer Materie durch den Bundesgesetzgeber sind die Länder von eigener Gesetzgebung in diesem Bereich vollständig ausgeschlossen (BVerfGE 20, 238 (319 ff.); 32, 319 (327)). Inwieweit bundesgesetzliche Regelungen erschöpfend sind, kann nur anhand der einschlägigen Bestimmungen und des jew. Sachbereichs im Wege der Auslegung festgestellt werden (BVerfGE 98, 265 (300 f.); 109, 190 (229); 113, 348 (371)). Bei einem nur teilweisen Gebrauchmachen verbleibt die Regelungskompetenz für den nicht geregelten Teil bei den Ländern (BVerfGE 138, 261 (279)).
Der Bund macht von seiner Kompetenz nicht nur dann Gebrauch, wenn er eine positive Regelung getroffen hat. Vielmehr kann auch das absichtsvolle Unterlassen einer Regelung eine Sperrwirkung für die Länder erzeugen (BVerfGE 32, 319 (327 f.); 98, 265 (300); 113, 348 (371); 163, 1 (15 f.)). Dies setzt allerdings voraus, dass der Bund zumindest einen Teilbereich einer bestimmten Materie selbst geregelt hat, sowie einen erkennbaren Willen des Bundesgesetzgebers, zusätzliche Regelungen auszuschließen (BVerfGE 113, 348 (371)). An ein solches „beredtes Schweigen“ des Bundesgesetzgebers (BVerwGE 109, 272 (283)) sind allerdings hohe Anforderungen zu stellen. Die Länder sind nicht berechtigt, eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz dort in Anspruch zu nehmen, wo sie eine – abschließende – Bundesregelung für unzulänglich und deshalb reformbedürftig halten (BVerfGE 36, 193 (211 f.); 98, 265 (300); 109, 190 (230)).
Das BVerfG hält es für möglich, dass der Bundesgesetzgeber auch von seinen ungeschriebenen Gesetzgebungskompetenzen, etwa von einer Kompetenz kraft Sachzusammenhangs, durch bewusste Nichtregelung Gebrauch macht (BVerfGE 98, 265 (300 ff.)). Diese Rspr. unterliegt jedoch durchgreifenden Bedenken aufgrund der Natur der ungeschriebenen Gesetzgebungskompetenzen. So setzt eine Kompetenz kraft Sachzusammenhangs voraus, dass eine dem Bund ausdrücklich zugewiesene Materie verständlicherweise nicht geregelt werden kann, ohne dass eine nicht ausdrücklich zugewiesene Materie mitgeregelt wird (BVerfGE 3, 407 (421); 106, 62 (115)). Der Bundesgesetzgeber greift dadurch ausnahmsweise in einen Kompetenzbereich ein, der vom GG an sich den Ländern zur Regelung überlassen ist. Ein solches Übergreifen kann allenfalls durch eine positive Regelung, nicht jedoch durch Unterlassen erfolgen. Das Ausmaß des Übergreifens in den Gesetzgebungsbereich der Länder muss aus Gründen der Rechtssicherheit nach Ausmaß und Intensität hinreichend bestimmt sein. Eine Nichtregelung kann diesen rechtsstaatlichen Anforderungen nicht gerecht werden (vgl. auch die abw. Meinung v. Papier, Graßhof und Haas BVerfGE 98, 265 (329, 352 ff.)).
Die Sperrwirkung tritt ein, wenn der Bund von seiner Kompetenz „durch Gesetz“ Gebrauch gemacht hat. Damit sind sowohl materielle als auch formelle Bundesgesetze gemeint (aA SHH/Sannwald Art. 72 Rn. 21). Nicht ausreichend sind bloße Verwaltungsvorschriften. Die Sperrwirkung bei VO-Ermächtigungen tritt grds. Nicht bereits mit der Verkündung des ermächtigenden Bundesgesetzes ein (Jarass/Pieroth/Kment Art. 72 Rn. 12; aA Ossenbühl DVBl 1996, 19 (20); Sachs/Degenhart Art. 72 Rn. 28). Nach der Rspr. des BVerfG reicht es nämlich nicht aus, dass der Bundesgesetzgeber ein Sperrgesetz erlässt, ohne selbst eine inhaltliche Regelung zu treffen (BVerfGE 34, 9 (28)). Bei einer VO-Ermächtigung hat der Gesetzgeber jedoch meist keine inhaltliche Regelung getroffen, sondern eine solche der ermächtigten Exekutive vorbehalten. Nur soweit die gesetzliche VO-Ermächtigung selbst materielle Regelungen enthält, tritt eine Sperrwirkung ein. Im Übrigen setzt das Eintreten der Sperrwirkung den Erlass der RVO durch den Delegatar voraus.
III. Konkurrierende Bedarfskompetenz des Bundes
1. Begriff und Anwendungsbereich
Anders als bei der konkurrierenden Kernkompetenz des Bundes ist die Gesetzgebungsbefugnis des Bundes durch die Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 II an eine weitere materielle Voraussetzung geknüpft (BVerfGE 106, 62 (135)). Die bloße Zuweisung einer konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz an den Bund ist allein nicht ausreichend, um auf Bundesebene gesetzgeberisch tätig werden zu können. Art. 72 II normiert auf den Gebieten des Art. 74 I Nr. 4, 7, 11, 13, 15, 19a, 20, 22, 25 und 26 das zusätzliche Erfordernis der Erforderlichkeit einer bundeseinheitlichen Regelung. Ist eine Erforderlichkeit nicht gegeben, verbleibt die Befugnis zur Gesetzgebung bei den Ländern.
2. Erforderlichkeit einer bundeseinheitlichen Regelung
a) Erforderlichkeit
Der Bund hat auf den genannten Rechtsgebieten nur dann das Gesetzgebungsrecht, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht. Das Kriterium der Erforderlichkeit hat die – bis zum Jahr 1994 geltende – schwächere „Bedürfnisklausel“ ersetzt (BGBl. 1994 I 3146), um der fortschreitenden Zurückdrängung der Länderkompetenzen im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung entgegenzuwirken (BT-Drs. 12/6000, 33). Das BVerfG hatte das „Bedürfnis“ iSv Art. 72 aF als nur in begrenztem Umfang einer Überprüfung zugänglich angesehen (BVerfGE 1, 264 ff.; 2, 213 (224 f.)). Diese Rspr. hatte der Bestimmung im Ergebnis praktisch keine begrenzende Funktion zugewiesen, sondern sie vielmehr zu einem Motor der Vereinheitlichung gemacht. Die Fortgeltung von Recht, das auf der Grundlage von Art. 72 II in der bis 1994 geltenden Fassung erlassen worden war, regelt Art. 125a II (Art. 125a Rn. 6 f.). Während mit dem Wechsel von der Bedürfnisklausel hin zur Erforderlichkeitsklausel im Jahr 1994 eine Sicherung der Länderkompetenzen erreicht werden sollte, hat die Föderalismusreform des Jahres 2006 den Anwendungsbereich der Erforderlichkeitsklausel eingeschränkt und so die Befugnisse des Bundes auf bestimmten Sachgebieten wieder gestärkt (vgl. Stern/Sodan/Möstl/Uhle § 42 Rn. 52).
Die Erforderlichkeitsklausel ist Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips (Jarass NVwZ 1996, 1041 (1042); SHH/Sannwald Art. 72 Rn. 52). Das Merkmal der Erforderlichkeit ist dabei in Anlehnung an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu verstehen. Bei gleicher Eignung von Regelungen zur Erfüllung der grundgesetzlichen Zielvorgaben räumt das GG grds. den Ländern den Vorrang ein. Art. 72 II verweist den Bund damit auf den geringst möglichen Eingriff in das Gesetzgebungsrecht der Länder (BVerfGE 106, 62 (149)). Erforderlich ist eine bundesgesetzliche Regelung nur dann, wenn die Erreichung der in Art. 72 II formulierten Ziele, also der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse und der Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit, andernfalls nicht oder nicht hinlänglich erreicht werden könnte. Dabei muss dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative für Konzept und Ausgestaltung des Gesetzes verbleiben (BVerfGE 111, 226 (255)). Eine Bundeskompetenz besteht nicht, wenn landesrechtliche Regelungen zum Schutz der in Art. 72 II genannten gesamtstaatlichen Rechtsgüter ausreichen. Insoweit ist eine Aufwertung der Länderautonomie zu verzeichnen. Die Länder können den Bund, insbes. durch wirksame Maßnahmen der Selbstkoordination im Rahmen von Staatsverträgen, an der Wahrnehmung seiner Gesetzgebungskompetenzen hindern. Die bloße Möglichkeit gleich lautender Ländergesetze schließt eine Bundeskompetenz jedoch nicht aus, da die konkurrierende Bedarfskompetenz des Bundes ansonsten leer liefe (BVerfGE 106, 62 (150); 125, 141 (154)).
b) Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet
Das Erfordernis der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet, gemeint ist im gesamten Bundesgebiet, ist nicht bereits dadurch erfüllt, dass eine bundeseinheitliche Regelung in Kraft gesetzt wird. Auch eine Verbesserung der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet ist für sich allein genommen nicht ausreichend, einen Eingriff in das grds. bestehende Gesetzgebungsrecht der Länder zu rechtfertigen. Vielmehr müssen sich „die Lebensverhältnisse in den einzelnen Ländern in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinanderentwickelt haben, oder es muss sich eine solche Entwicklung konkret abzeichnen“ (BVerfGE 106, 62 (144); 112, 226 (244); ähnl. BVerfGE 140, 65 (80 f.)).
c) Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit
Die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse betrifft unmittelbar institutionelle Voraussetzungen des Bundesstaates und nur mittelbar die Lebensverhältnisse der Bürger. Die Gesetzesvielfalt auf Länderebene rechtfertigt ein rechtsvereinheitlichendes Bundesgesetz zur Wahrung der Rechtseinheit nur dann, wenn sie „eine Rechtszersplitterung mit problematischen Folgen darstellt, die im Interesse sowohl des Bundes als auch der Länder nicht hingenommen werden kann“ (BVerfGE 106, 62 (145); vgl. auch BVerfGE 125, 141 (155); 138, 136 (176 f.); 140, 65 (87 f.)). Dies ist erst dann der Fall, wenn durch die unterschiedliche rechtliche Behandlung desselben Sachverhalts unter Umständen erhebliche Rechtsunsicherheiten und damit unzumutbare Behinderungen für den länderübergreifenden Rechtsverkehr erzeugt werden.
Bei der Wahrung der Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse muss es um die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Wirtschaftsraums der Bundesrepublik durch bundeseinheitliche Rechtsetzung gehen. Der Erlass von Bundesgesetzen zur Wahrung der Wirtschaftseinheit steht dann im gesamtstaatlichen, also im gemeinsamen Interesse von Bund und Ländern, „wenn Landesregelungen oder das Untätigbleiben der Länder erhebliche Nachteile für die Gesamtwirtschaft mit sich bringen“ (BVerfGE 106, 62 (147); 112, 226 (249)).
d) Verfassungsgerichtliche Überprüfbarkeit
d) Zwar sind die Merkmale des Art. 72 II unbestimmte Gesetzesbegriffe, gleichwohl unterliegt ihre Auslegung einer umfassenden verfassungsgerichtlichen Kontrolle (BVerfGE 106, 62 (148 f.); 113, 167 (197 f.)). Es besteht insoweit kein von verfassungsgerichtlicher Kontrolle freier gesetzgeberischer Beurteilungsspielraum (BVerfGE 110, 141 (175); 140, 65 (94 f.)). Die Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen des Art. 72 II vollzieht sich nach der Rspr. des BVerfG in zwei Schritten (BVerfGE 106, 62 (149); 113, 167 (197)): Erstens ist zu überprüfen, ob eine Regelung des Bundesgesetzgebers zum Schutz der in Art. 72 II genannten Rechtsgüter zulässig ist („wenn … erforderlich“). Zweitens ist zu untersuchen, wie weit die konkurrierende Gesetzgebungsbefugnis des Bundes reicht („soweit … erforderlich“; (BVerfGE 125, 141 (154)).
Allerdings muss der Bund seine Entscheidungen vielfach aufgrund von Prognosen treffen, die sich im Nachhinein als falsch herausstellen können. Es wird ihm folglich ein gewisser Prognosespielraum einzuräumen sein, der sich der gerichtlichen Kontrolle entzieht (BVerfGE 106, 62 (151 f.)). Das BVerfG prüft dabei, ob der Prognose Sachverhaltsannahmen zugrunde liegen, die sorgfältig ermittelt sind oder sich jedenfalls im Rahmen der gerichtlichen Prüfung bestätigen lassen. Die Prognose muss sich methodisch auf ein angemessenes Prognoseverfahren stützen, und dieses muss konsequent verfolgt worden sein. Das Prognoseergebnis ist daraufhin zu kontrollieren, ob die die prognostische Einschätzung tragenden Gesichtspunkte mit hinreichender Deutlichkeit offengelegt worden sind oder ihre Offenlegung jedenfalls im Normenkontrollverfahren möglich ist und ob in die Prognose keine sachfremden Erwägungen eingeflossen sind (BVerfGE 106, 62 (152 f.)).
Über Meinungsverschiedenheiten, ob ein Gesetz den Voraussetzungen des Art. 72 II entspricht, entscheidet auf Antrag des BRats, einer Landesregierung oder eines Landesparlaments das BVerfG gem. Art. 93 I Nr. 2a.
3. Sperrwirkung nach Gebrauchmachen
Für das Gebrauchmachen des Bundes von seiner Bedarfskompetenz und die daraus folgende Sperrwirkung für die Länder gelten dieselben Grundsätze wie bei der konkurrierenden Kernkompetenz des Bundes (Rn. 6 ff.).
4. Freigabegesetz des Bundes
Die Länder können ihre Gesetzgebungskompetenz zurückerlangen, wenn der Bund ihnen die Gesetzgebungsbefugnis über Art. 72 IV wieder einräumt, weil die Voraussetzungen des Art. 72 II nachträglich entfallen sind. Voraussetzung für die Zurückgewinnung der Gesetzgebungsbefugnis der Länder ist die Erteilung der Freigabe durch Bundesgesetz. Darin ist zu bestimmen, dass eine bundesgesetzliche Regelung durch Landesrecht ersetzt werden kann. Möglich ist auch eine Freigabe für Teile eines Gesetzes. Das Freigabegesetz darf jedoch weder zum Erlass von Gesetzen durch die Länder verpflichten noch den Inhalt vorschreiben. Die Freigabe bewirkt den Wegfall der Sperrwirkung. Die das Bundesgesetz ersetzende landesrechtliche Regelung muss als formelles Gesetz ergehen (MKS/Oeter Art. 82 Rn. 135; Degenhart NVwZ 2006, 1209 (1210); aA DHS/Uhle Art. 72 Rn. 336).
Der Erlass eines entspr. Freigabegesetzes steht grds. im Ermessen des Bundesgesetzgebers (Rybak/Hofmann NVwZ 1995, 230 (232); vgl. BVerfGE 111, 10 (30)). Aus dem im Rahmen der Föderalismusreform mit Art. 93 II eingeführten Kompetenzfreigabeverfahren, das den Ländern ein Instrumentarium zur Verfügung stellt, die Voraussetzungen einer Freigabe überprüfen zu lassen (Art. 93 Rn. 59 ff.), ergibt sich ebenfalls keine Verpflichtung des Bundesgesetzgebers zum Erlass eines Freigabegesetzes bei Wegfall der Erforderlichkeit (DHS/Uhle Art. 72 Rn. 331; aA Klein/Schneider DVBl 2006, 1549 (1555)). Die Entscheidung des BVerfG ersetzt in diesem Fall das Freigabegesetz des Bundes (Klein/Schneider DVBl 2006, 1549 (1556); Zimmermann SächsVBl 2007, 8). Das dem Bund eingeräumte Ermessen kann freilich unter Berücksichtigung des Grundsatzes bundes- und länderfreundlichen Verhaltens (Art. 20 Rn. 17 ff.) eingeschränkt sein. Zeigt sich an einer aufgrund einer Bedarfskompetenz erlassenen bundesrechtlichen Regelung Änderungsbedarf und sind mittlerweile aber die Voraussetzungen des Art. 72 II entfallen, verengt sich der Entscheidungsspielraum des Bundesgesetzgebers dahin gehend, dass er die Länder zur Neuregelung zu ermächtigen hat (vgl. BVerfGE 111, 10 (31); BeckOK GG/Seiler Art. 72 Rn. 18).
IV. Abweichungskompetenz der Länder
1. Begriff und Anwendungsbereich
Gem. Art. 72 III können die Länder sich auf bestimmten Sachgebieten über die Regelungen des Bundes hinwegsetzen. Diese im Zuge der Föderalismusreform neu eingeführte materielle Abweichungsbefugnis der Länder (zur prozeduralen Abweichungsbefugnis nach Art. 84 I 2 Art. 84 Rn. 8) bildet eine Ausnahme von der Sperrwirkung von Bundesgesetzen gegenüber der Landesgesetzgebung. Sie gibt den Ländern eine parallele Vollkompetenz neben der des Bundes. Es steht dabei im Ermessen eines jeden Landes, ob es auf dem Gebiet der Abweichungsgesetzgebung gesetzgeberisch tätig werden möchte oder nicht.
Eine Abweichungskompetenz ist vorgesehen auf den früher der Rahmengesetzgebung des Bundes zugeordneten Sachgebieten. Es handelt sich dabei um das Jagdwesen (ohne das Recht der Jagdscheine) gem. Art. 72 III 1 Nr. 1, um den Naturschutz und die Landschaftspflege (ohne die allg. Grundsätze des Naturschutzes, das Recht des Artenschutzes oder des Meeresnaturschutzes) nach Art. 72 III 1 Nr. 2, um die Bodenverteilung nach Art. 72 III 1 Nr. 3, um die Raumordnung nach Art. 72 III 1 Nr. 4, das Wasserhaushaltsrecht (ohne stoff- oder anlagenbezogene Regelungen) nach Art. 72 III 1 Nr. 5 sowie um die Hochschulzulassung und die Hochschulabschlüsse nach Art. 72 III 1 Nr. 6. Infolge der Ergänzung von Art. 72 III 1 um eine Nr. 7 (BGBl. 2019 I 1546) besteht für die Länder nunmehr auch eine Abweichungskompetenz für Regelungen über die Grundsteuer.
Die Befugnis der Länder zur Abweichungsgesetzgebung ist in zeitlicher Hinsicht gem. Art. 125b I 3 Schranken unterworfen (Art. 125b Rn. 3). Während die Länder in den Bereichen des Jagdwesens (Art. 72 III 1 Nr. 1), der Bodenverteilung (Art. 72 III 1 Nr. 3) und der Raumordnung (Art. 72 III 1 Nr. 4) sofort von etwaigen bundesrechtlichen Regelungen abweichen konnten, gilt die Abweichungsbefugnis im Bereich des Hochschulzulassungs- und -abschlussrechts (Art. 72 III 1 Nr. 6) erst seit dem 1.8.2008. Im Bereich des Naturschutzes und der Landschaftspflege (Art. 72 III 1 Nr. 2) sowie des Wasserhaushaltsrechts (Art. 72 III 1 Nr. 5) gilt sie erst seit dem 1.1.2010. Abweichend von diesen Fristen bestand bereits vorher eine Befugnis zur Abweichungsgesetzgebung, sofern und soweit der Bund in diesen Bereichen ab dem 1.9.2006 von seinem Gesetzgebungsrecht Gebrauch gemacht hatte. Für die Grundsteuer (Art. 72 III 1 Nr. 7) dürfen die Länder gem. Art. 125b III erst ab dem 1.1.2025 abweichende Regelungen treffen (Art. 125b Rn. 5).
Eine „abweichende Regelung“ durch die Länder besteht schon dann, wenn überhaupt ein Landesgesetz vorliegt. Es muss sich dabei um ein formelles Landesgesetz handeln (Degenhart DÖV 2010, 422 (423)). Nicht erforderlich ist, dass dieses inhaltlich vom Bundesrecht abweicht (Ipsen NJW 2006, 2801 (2804); aA DHS/Uhle Art. 72 Rn. 280). Möglich ist also auch, dass die Länder eine gleichlautende Regelung erlassen; in diesem Fall kommt der Bundesgesetzgebung die Funktion einer Modellgesetzgebung zu. Eine abw. Regelung liegt auch vor, wenn ein Land eine Regelung erlässt, die sich darauf beschränkt, ein bestehendes Bundesrecht außer Kraft zu setzen, da auch hier die Rechtslage geändert wird (Jarass/Pieroth/Kment Art. 72 Rn. 30; DHS/Uhle Art. 72 Rn. 281; Hebeler JA 2010, 688 (691); Zsinka, Das Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung, 2017, 95 f.; aA Franzius NVwZ 2008, 492 (494)). Die Abweichungskompetenz ist nicht auf ein einmaliges Gebrauchmachen beschränkt. Machen Bund und Länder von ihren parallelen Gesetzgebungsbefugnissen Gebrauch, kann es zu einer unübersichtlichen Rechtslage kommen, die gerade der angestrebten Entflechtung zuwiderläuft (Häde JZ 2006, 930 (932); Selmer JuS 2006, 1052 (1056)). Die Gefahr, dass Bund und Länder den „Ball der Gesetzgebung“ immer wieder hin und her spielen, wird allein dadurch gemildert, dass Bundesgesetze im Bereich von Art. 72 III erst mit sechsmonatiger Verzögerung in Kraft treten (Rn. 29).
Für bestimmte Teile der in Art. 72 III 1 genannten Gebiete ist festgelegt, dass eine Abweichung der Länder ausgeschlossen ist (sog. abweichungsfeste Kerne, BT-Drs. 16/813, 11). Dies betrifft die in den Klammerzusätzen genannten Sachgebiete („ohne …“), dh gem. Art. 72 III 1 Nr. 1 das Recht der Jagdscheine, gem. Art. 72 III 1 Nr. 2 die allg. Grundsätze des Naturschutzes sowie das Recht des Artenschutzes oder des Meeresnaturschutzes, gem. Art. 72 III 1 Nr. 5 stoff- oder anlagenbezogene Regelungen im Bereich des Wasserhaushaltsrechts. Hier hat der Bund eine konkurrierende Kernkompetenz (Rn. 4 ff.).
2. Karenzzeit
Um kurzfristig wechselnde Rechtsbefehle an den Bürger durch voneinander abw. Bundes- und Landesregelungen zu vermeiden (BT-Drs. 16/813, 11), treten gem. Art. 72 III 2 Bundesgesetze erst mit sechsmonatiger Verzögerung in Kraft. Den Ländern soll damit die Möglichkeit zur gesetzgeberischen Entscheidung gegeben werden, auf dem betr. Gebiet ein Landesgesetz zu schaffen, bestehende Landesgesetze beizubehalten oder anzupassen (BT-Drs. 16/813, 11). Mit Zustimmung des BRats kann in Eilfällen – insbes. zur Wahrung europarechtlich vorgegebener Fristen – ein früheres Inkrafttreten des Bundesgesetzes bestimmt werden. Die Zustimmung des BRats bezieht sich allein auf das frühere Inkrafttreten des Gesetzes, nicht auf seinen Inhalt.
3. Kollisionsregel
Für den Fall, dass Bund und Länder von ihren jew. Gesetzgebungszuständigkeiten Gebrauch gemacht haben, bestimmt Art. 72 III 3, dass im Verhältnis von Bundes- und Landesrecht das jew. später gesetzte vorgeht (lex-posterior-Regel). Ein vom Bundesrecht abw. Landesrecht setzt das Bundesrecht aber nicht außer Kraft, sondern es hat im Geltungsbereich des betr. Landes Anwendungsvorrang („geht vor“; Sachs/Degenhart Art. 72 Rn. 40; Dreier/Wittreck Art. 72 Rn. 40; Hebeler JA 2010, 688 (691)). Wird das abw. Landesrecht aufgehoben, gilt automatisch wieder das Bundesrecht (BT-Drs. 16/813, 11). In den Ländern, die von ihrer Abweichungsbefugnis keinen Gebrauch gemacht haben, gilt die bundesgesetzliche Regelung.
Art. 72 III 3 ist eine Spezialregelung zur generellen Kollisionsregel des Art. 31. Da das Landesrecht hier nicht im eigentlichen Sinne Bundesrecht „bricht“, sondern nur überlagert, liegt keine Durchbrechung des Grundsatzes nach Art. 31 vor. Allerdings dürfte die partielle Überlagerung von Bundes- und Landesrecht kaum dem grdl. Anliegen der Föderalismusreform (Art. 70 Rn. 2) entsprechen, durch die Entflechtung von Kompetenzen eine klarere Verteilung der Verantwortlichkeiten zu erreichen. Zweifel ergeben sich zudem hinsichtlich der Europatauglichkeit der Abweichungsgesetzgebung: Eine vollständige Umsetzung europarechtlicher Vorgaben liegt erst dann vor, wenn alle Bundesländer auf ein Abweichungsrecht verzichtet oder Abweichungsgesetze erlassen haben, so dass es zu erheblichen Verzögerungen und Rechtsunsicherheit kommen kann.