Artikel 115g [Stellung des Bundesverfassungsgerichts]
1 Die verfassungsmäßige Stellung und die Erfüllung der verfassungsmäßigen Aufgaben des Bundesverfassungsgerichtes und seiner Richter dürfen nicht beeinträchtigt werden. 2 Das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht darf durch ein Gesetz des Gemeinsamen Ausschusses nur insoweit geändert werden, als dies auch nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Gerichtes erforderlich ist. 3 Bis zum Erlaß eines solchen Gesetzes kann das Bundesverfassungsgericht die zur Erhaltung der Arbeitsfähigkeit des Gerichtes erforderlichen Maßnahmen treffen. 4 Beschlüsse nach Satz 2 und Satz 3 faßt das Bundesverfassungsgericht mit der Mehrheit der anwesenden Richter.
I. Bedeutung der Norm
Art. 115g sichert die institutionelle Bestands- und Funktionsfähigkeit des BVerfG für den Verteidigungsfall. Das BVerfG soll gerade auch in Notzeiten als oberstes Gericht Garant der Rechtsstaatlichkeit und Hüter der Verfassung bleiben (MKS/Grote Art. 115g Rn. 1, 3). Auch andere Vorschriften über das BVerfG (insbes. Art. 93) sehen keine Einschränkungen der Tätigkeit des Gerichts im Verteidigungsfall vor.
Sämtliche Rechtsakte, die auf Art. 115a–115l beruhen, können vom BVerfG auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft werden. Auch im äußeren Notstand gibt es keine verfassungsgerichtsfreien Räume (MKS/Grote Art. 115a Rn. 39). Der besonderen Bedeutung des BVerfG zur Sicherung der grundgesetzlichen Bestimmungen im Verteidigungsfall steht nicht entgegen, dass das BVerfG bei seiner Rspr. in Notstandssituationen auf eine Evidenz- und Missbrauchskontrolle beschränkt ist (SHH/Wittenberg Art. 115g Rn. 4).
II. Sicherstellung der Bestands- und Funktionsfähigkeit
Art. 115g S. 1 begründet eine umfassende Bestandsgarantie der Institution des BVerfG im Verteidigungsfall (Dreier/Heun Art. 115g Rn. 5). Die Norm untersagt jede (gesetzgeberische oder verwaltungsmäßige) Beeinträchtigung der verfassungsrechtlichen Stellung und Aufgaben des Gerichts oder von dessen Richtern (Sachs/Robbers Art. 115g Rn. 6 f.). Die einfachgesetzliche Strukturierung ist indes nicht unantastbar (Dreier/Heun Art. 115g Rn. 7; Rn. 5). Das Beeinträchtigungsverbot des Art. 115g S. 1 richtet sich an sämtliche Staatsorgane des Bundes und der Länder (MKS/Grote Art. 115g Rn. 5). Eine weitere Sonderregelung zum Schutz der Funktionsfähigkeit des BVerfG findet sich in Art. 115h I 3.
III. Schranken für den Gemeinsamen Ausschuss
Art. 115g S. 2 betrifft nur die Notgesetzgebungskompetenz des GA und tritt zu den in Art. 115e II genannten Beschränkungen hinzu. Anders als bei Art. 115e II wird jedoch nicht die Gesetzgebungsbefugnis des GA ausgeschlossen, sondern nur an die Zustimmung des BVerfG gebunden. Dabei darf der GA das BVerfGG erst ändern, wenn das BVerfG zuvor festgestellt hat, dass es selbst nicht mehr arbeitsfähig ist; die nachträgliche Befassung des BVerfG ist nicht ausreichend (Sachs/Robbers Art. 115g Rn. 8). Der GA ist an die Auffassung des BVerfG gebunden (MKS/Grote Art. 115g Rn. 8); hier findet eine Durchbrechung des Gewaltenteilungsprinzips statt (Dreier/Heun Art. 115g Rn. 9). Hingegen bleiben die Gesetzgebungsbefugnisse durch BT und BR – auch im vereinfachten Verfahren nach Art. 115d – unberührt (v. Münch/Kunig/Fremuth Art. 115g Rn. 14).
IV. Notkompetenz des Bundesverfassungsgerichts
Kann der Gesetzgeber die erforderlichen legislativen Maßnahmen nicht rechtzeitig treffen, so ist das BVerfG gem. Art. 115g S. 3 im Wege einer außerordentlichen Notkompetenz befugt, das zur Erhaltung der Arbeits- und Handlungsfähigkeit Erforderliche einstweilen – bis zum Erlass eines entspr. Gesetzes (BT-Drs. V/1879, 29) – selbst zu veranlassen. Das Gericht kann etwa vorläufig die Richterzahl pro Senat verändern oder den Gerichtssitz verlegen (DFGH SicherheitsR-HdB/Hoppe/Risse, § 3 Rn. 100). Unzulässig ist aber eine Erweiterung der Kompetenzen durch Einführung neuer Verfahren (Sachs/Robbers Art. 115g Rn. 14). Beschlüsse nach Art. 115g S. 2, 3 fasst das Gericht gem. Art. 115g S. 4 mit der Mehrheit der anwesenden Richter, und zwar der Richter beider Senate. Eine Mindestzahl für die Beschlussfähigkeit ist nicht vorgeschrieben, um ein Tätigwerden des Gerichts nicht zu blockieren (Benda, Die Notstandsverfassung, 1968, 119).