Artikel 142 [Landesgrundrechte]
Ungeachtet der Vorschrift des Artikels 31 bleiben Bestimmungen der Landesverfassungen auch insoweit in Kraft, als sie in Übereinstimmung mit den Artikeln 1 bis 18 dieses Grundgesetzes Grundrechte gewährleisten.
I. Normbedeutung
Grds. werden landesrechtliche Regelungen gem. Art. 31 durch formelles und materielles Bundesrecht verdrängt. Art. 142 nimmt jedoch die Grundrechtsregelungen der Länder aus dem Geltungsbereich des Art. 31 heraus und stellt für die Rechtsbeziehungen zwischen Landes- und Bundesverfassung einen neuen Rechtssatz auf. Der Grundsatz „Bundesrecht bricht Landesrecht“ wird dahin gehend modifiziert, dass er sich nicht auf den Bereich der Grundrechtsbestimmungen der Landesverfassungen bezieht, die mit den Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes inhaltlich übereinstimmen (Stern/Sodan/Möstl/Saurer § 64 Rn. 45). Art. 142 hat nicht zur Folge, dass landesverfassungsrechtliche Grundrechte auf normhierarchischer Ebene mit den Grundrechten des Grundgesetzes gleichziehen. Dies wäre auch mit dem Wortlaut („ungeachtet“) nicht vereinbar. Vielmehr ist Art. 142 Ausdruck des föderalen Gefüges der Bundesrepublik Deutschland. Hiernach ist es den Ländern aufgrund ihrer besonderen Staatsqualität unbenommen, sich eine eigene Verfassung zu geben und so nicht nur Staatsorganisation und Ausübung der Staatsgewalt, sondern darüber hinaus die Grundrechte autonom zu gestalten (vgl. BVerfGE 4, 178 (189); 60, 175 (209); Sodan/Ziekow § 8 Rn. 7 ff.; s. zu den Landesgrundrechten Stern/Sodan/Möstl/Lindner § 97 Rn. 10 ff.). „Den in Art. 142 GG genannten Grundrechten stehen einige an anderer Stelle von der Verfassung gewährleistete Rechte der Qualität nach gleich; dazu gehört unter anderem der Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht. Art. 142 GG muss deshalb auch für derartige in den Landesverfassungen enthaltene Rechte […] gelten, die sich im Grundgesetz nicht im ersten Abschnitt, sondern an anderer Stelle finden“ (BVerfGE 22, 267 (271)).
Vor dem historischen Hintergrund könnte Art. 142 so verstanden werden, dass er sich nur auf diejenigen Grundrechtsartikel der Landesverfassungen bezieht, die zeitlich vor dem Entstehen des Bundesrechts formuliert worden sind. Schließlich gab es zu jener Zeit (die meisten Landesverfassungen stammen aus den Jahren 1946 und 1947) noch kein Bundesrecht, welches als Orientierung hätte dienen können. Das BVerfG machte jedoch deutlich, dass sich das Wort „bleiben“ nicht in zeitlicher Dimension auf vorkonstitutionelle Landesverfassungen bezieht, sondern auf das Verhältnis zu Art. 31 abzielt (BVerfGE 96, 345 (364 f.)). Somit gilt Art. 142 auch für die Verfassungen der 1990 mit dem Beitritt der DDR gebildeten neuen Bundesländer.
Für den Grundrechtsschutz auf Landesebene sind die LVerfGe zuständig. Ihre Jurisdiktion erstreckt sich nur auf Organe des Landes, da Bundesorgane nicht an Landesverfassungen gebunden sind. Die Verfahrensarten weisen einige Parallelen zum Verfassungsprozessrecht des Bundes auf. Jedoch gibt es derzeit in nur zwölf Bundesländern die Möglichkeit, die Verletzung von Landesgrundrechten durch Landesorgane mittels einer Landesverfassungsbeschwerde zu rügen (Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen; s. zu den Rechtsgrundlagen HGR III/Sodan § 84 Rn. 50).
II. Übereinstimmungstatbestand
Die Untersuchung, ob Bundes- und Landesgrundrechte iSd Art. 142 übereinstimmen, erfolgt anhand der anerkannten Auslegungsmethoden. Hierbei ist insbes. auf den sachlichen und personellen Schutzbereich sowie die Einschränkungsmöglichkeiten abzustellen. Soweit beide Grundrechte „einen bestimmten Gegenstand in gleichem Sinne und mit gleichem Inhalt regeln“, sind sie inhaltsgleich und daher übereinstimmend iSv Art. 142 (BVerfGE 96, 345 (365); Sachs/Huber Art. 142 Rn. 11). „Aber auch soweit Landesgrundrechte gegenüber dem Grundgesetz einen weitergehenden Schutz oder auch einen geringeren Schutz verbürgen, widersprechen sie den entsprechenden Bundesgrundrechten als solchen nicht, wenn das jeweils engere Grundrecht als Mindestgarantie zu verstehen ist und daher nicht den Normbefehl enthält, einen weitergehenden Schutz zu unterlassen“ (BVerfGE 96, 345 (365) – ohne die Hervorhebungen). Sobald sich Grundrechtsnormen widersprechen, wird die Rechtsfolge des Art. 31 ausgelöst. Ein Beispiel für einen solchen Widerspruch findet sich in Art. 29 V HessVerf. Die Norm bestimmt, dass Aussperrungen rechtswidrig sind. Die durch Art. 9 III geschützte Tarifautonomie umfasst jedoch grds. auch Aussperrungen (Art. 9 Rn. 23). Art. 29 V HessVerf. kann nicht mit dem Grundgesetz in Übereinstimmung gebracht werden, da die Norm grundrechtliche Rechtspositionen einschränkt und einen ausdrücklichen sowie unabänderlichen Normbefehl enthält (vgl. BAGE 58, 138 (155 f.); Badura D Rn. 74).
Gewährt ein Landesgrundrecht mehr oder weniger Schutz als das entsprechende Bundesgrundrecht, so kann dieses Landesgrundrecht einfachem Bundesrecht widersprechen; dieser Fall liegt etwa vor, wenn das einfache Bundesrecht zwar mit dem engeren Gewährleistungsbereich eines Bundesgrundrechts, nicht jedoch mit dem weiteren eines Landesgrundrechts vereinbar ist (vgl. BVerfGE 96, 345 (365 f.)). Die Berücksichtigung der nach Art. 142 gewährleisteten Landesgrundrechte ist jedoch nur insoweit möglich, als das Bundesrecht der Landesstaatsgewalt Entscheidungsspielräume eröffnet; ist dies nicht der Fall, kollidiert das Bundesgesetz mit dem Landesgrundrecht (BVerfGE 1, 264 (281); 96, 345 (366)). Grds. ist dies aber keine unmittelbare Frage des Übereinstimmungstatbestandes nach Art. 142; vielmehr kommt dann Art. 31 (allerdings in modifizierter Form) zur Anwendung: Das Bundesrecht verdrängt aufgrund seiner Höherrangigkeit lediglich im konkreten Fall die Landesgrundrechte als Maßstabsfunktion für die Landesorgane (Sachs/Huber Art. 142 Rn. 15a).
III. Landesverfassungsgerichtliche Prüfungskompetenzen
Eröffnet das Bundesrecht der Landesstaatsgewalt Entscheidungsspielräume, stellt sich die Frage, inwieweit die Anwendung von Bundesrecht durch die Landesgerichte Gegenstand einer landesverfassungsgerichtlichen Überprüfung sein kann. Bspw. könnte sich ein Bürger durch die Anwendung von Bundesrecht durch Landesorgane in seinen Landesgrundrechten verletzt sehen und Verfassungsbeschwerde erheben. Das BVerfG stellte klar, dass LVerfGe im Verfahren über eine Verfassungsbeschwerde gegen Entscheidungen von Fachgerichten des Landes grds. auch die Anwendung von Bundesverfahrensrecht auf Einhaltung der mit dem Grundgesetz inhaltsgleichen subjektiven Rechte des Landesverfassungsrechts überprüfen können (BVerfGE 96, 345 (366 f.)). Landesgerichte üben nämlich trotz bundesgesetzlicher Verfahrensregelungen Länderstaatsgewalt aus. Das Bundesrecht steht in diesen Fallgestaltungen nicht zur Disposition, sondern lediglich seine Anwendung durch ein Landesorgan, dessen Handeln Gegenstand einer landesverfassungsgerichtlichen Überprüfung unter landesverfassungsrechtlichen Maßstäben sein kann (vgl. VerfGH Bln LVerfGE 1, 44 (52); HGR III/Sodan § 84 Rn. 58). Ein Konflikt aus der gleichzeitigen Bindung des Richters an Landes- und Bundesgrundrechte ist ausgeschlossen, da die Anwendung dieser – inhaltsgleichen – Grundrechte im konkreten Fall zu demselben Ergebnis führen muss.
Ausdrücklich offen ließ das BVerfG jedoch die Frage, „ob ein Landesverfassungsgericht auch berechtigt sein kann, die Anwendung materiellen Bundesrechts durch Landesgerichte auf die Beachtung der von der Landesverfassung inhaltsgleich mit dem Grundgesetz garantierten Grundrechte zu überprüfen“ (BVerfGE 96, 345 (362)). Eine einheitliche Beantwortung dieser Frage durch die LVerfGe lässt sich nicht feststellen. Während der VerfGH Bln (LVerfGE 9, 45 (48 f.); 11, 80 (86 ff.); 13, 42 (50 f.); 14, 74 (78 f.)), das VerfG Bbg (LKV 2011, 124 (125)) und der VerfGH Sachs (LVerfGE 8, 320 ff.; 11.3.2011 – Vf. 25-IV-11 [HS] / Vf. 26-IV-11 [eA], juris Rn. 13; 27.2.2020 – Vf. 6-IV-20, juris Rn. 14) hinsichtlich ihrer Prüfungskompetenz nicht zwischen der Anwendung formellen und materiellen Bundesrechts durch die Fachgerichte des Landes differenzieren, beschränken insbes. der BayVerfGH (BayVerfGHE 53, 157 (159); BayVerfGH BayVBl. 2004, 464; NVwZ-RR 2014, 121 (122); BeckRS 2018, 14738 Rn. 66 f.) und der ThürVerfGH (BeckRS 2007, 142937 Rn. 22 f.) die verfassungsgerichtliche Prüfung auf mögliche Verstöße gegen das Willkürverbot sowie mit dem Grundgesetz inhaltsgleiche verfahrensrechtliche Gewährleistungen der Landesverfassung (Recht auf den gesetzlichen Richter, Recht auf rechtliches Gehör). Eine Sonderregelung enthält das rheinland-pfälzische Landesrecht: Gem. § 44 II 1 RhPfVerfGHG ist eine Verfassungsbeschwerde unzulässig, soweit die öffentliche Gewalt des Landes Bundesrecht ausführt oder anwendet; dies gilt gem. Satz 2 nicht für die Durchführung des gerichtlichen Verfahrens oder wenn die Landesverfassung weiter reichende Rechte als das Grundgesetz gewährleistet (vgl. dazu VerfGH RhPf NJW 2001, 2621).
Es läge jedoch in der Konsequenz des wegweisenden und die Stellung der Landesverfassungsgerichtsbarkeit im föderativen Bundesstaat stärkenden Beschl. des BVerfG v. 15.10.1997 (BVerfGE 96, 345 ff.), wenn die LVerfGe, soweit das Landesrecht wie in Rheinland-Pfalz nicht entgegensteht, ihre – mit Ausnahme des VerfGH Bln, des VerfG Bbg und des VerfGH Sachs – praktizierte Zurückhaltung aufgäben und künftig im Rahmen der Landesverfassungsbeschwerde auch die Auslegung und Anwendung des materiellen Bundesrechts nach den gleichen vom BVerfG aufgezeigten Maßstäben prüften, wie dies für die Anwendung des Bundesprozessrechts bereits üblich ist (Sodan NVwZ-Sonderheft 2005, 8 (12); HGR VIII/Sodan § 247 Rn. 24). Überzeugende Gründe für eine diesbezügliche Differenzierung lassen sich nicht finden (s. etwa Lange FS 50 Jahre BVerfG I, 2001, 289 (300)). So verfängt bspw. das Argument nicht, dass bei der Anwendung materiellen Bundesrechts idR gravierendere Grundrechtsbeeinträchtigungen in Rede stehen als bei der Anwendung verfahrensrechtlicher Vorschriften. Insbes. bei Verfassungsbeschwerden gegen strafprozessuale Entscheidungen von Landesgerichten sind nicht selten erhebliche Eingriffe auch in bedeutsame Landesgrundrechte zu prüfen. Dies gilt etwa für die Freiheit der Person bei Untersuchungshaftentscheidungen, das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung bei Durchsuchungsbeschlüssen oder das Eigentumsgrundrecht bei Beschlagnahmeentscheidungen (vgl. hierzu näher Gärditz AöR 129 [2004], 584). Durch die vom BVerfG vorgegebenen zusätzlichen Sicherungen, insbes. die Beschränkung der Prüfung des LVerfG auf inhaltsgleiche Landesgrundrechte, die Bindung an die Rspr. des BVerfG bei der grundgesetzlichen Inzidentprüfung und die Vorlagepflicht nach Art. 100 III bei beabsichtigter Abweichung hiervon oder von einer entspr. Entscheidung eines anderen LVerfG, ist die Gefahr einer Entstehung partikularen Bundesrechts ausreichend gebannt (Sodan LKV 2010, 440 (448 f.)). Mit der Beachtung der spezifischen Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich zur Fachgerichtsbarkeit ist sichergestellt, dass die LVerfGe nicht im Stile von Revisionsgerichten die einfach-rechtliche Anwendung von Bundesrecht kontrollieren würden (HGR III/Sodan § 84 Rn. 64).