Artikel 123 [Fortgeltung des alten Rechts]
(1) Recht aus der Zeit vor dem Zusammentritt des Bundestages gilt fort, soweit es dem Grundgesetze nicht widerspricht.
(2) Die vom Deutschen Reich abgeschlossenen Staatsverträge, die sich auf Gegenstände beziehen, für die nach diesem Grundgesetze die Landesgesetzgebung zuständig ist, bleiben, wenn sie nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen gültig sind und fortgelten, unter Vorbehalt aller Rechte und Einwendungen der Beteiligten in Kraft, bis neue Staatsverträge durch die nach diesem Grundgesetze zuständigen Stellen abgeschlossen werden oder ihre Beendigung auf Grund der in ihnen enthaltenen Bestimmungen anderweitig erfolgt.
I. Allgemeines
Art. 123, 124 und Art. 125 betreffen das Fortgelten des vom GG angetroffenen Rechtsbestandes (BVerfGE 6, 309 (346)) und ergänzen damit die Anordnung des Art. 122 I, wonach Gesetze vom ersten Zusammentritt des BTags an ausschließlich von den im GG anerkannten gesetzgebenden Gewalten beschlossen werden dürfen (Art. 122 Rn. 1). Während Art. 123 regelt, ob eine vorkonstitutionelle Norm überhaupt fortgilt, weisen die Art. 124 und Art. 125 eine nach Art. 123 fortgeltende Norm dem Bundes- oder Landesrecht zu (BVerfGE 6, 309 (342 f.)).
II. Fortgeltung früheren Rechts
Recht iSd Art. 123 sind Normen grds. jedes Ranges (BVerfGE 28, 119 (133)). Neben förmlichen Gesetzen – auch in Form von Ermächtigungs- (Art. 129 Rn. 4) und Vertragsgesetzen (Rn. 8) – fallen also auch RVOen, Satzungen und Gewohnheitsrecht in den Anwendungsbereich. Nicht erfasst sind verfassungsrechtliche Vorschriften (Jarass/Pieroth/Jarass Art. 123 Rn. 5; aA OLG Jena StAZ 2016, 114 (115)). Den reichsverfassungsrechtlichen Normenbestand hat das GG nicht angetroffen, sondern ersetzt (ebenso BVerfGE 15, 167 (195)). Verwaltungsvorschriften werden mangels Normcharakters nicht erfasst. Kein vorkonstitutionelles Recht iSd Art. 123 ist das Recht der DDR (BVerfGE 98, 117 (124)).
Es muss sich um Recht handeln, das von deutschen Stellen erlassen wurde. Die Fortgeltung von Besatzungsrecht bestimmt sich daher nicht nach Art. 123 I (BVerfGE 3, 368 (375)). Unmittelbares von den Besatzungsbehörden erlassenes Besatzungsrecht galt weder als Bundes- noch als Landesrecht fort, sondern als Besatzungsrecht (vgl. den Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen v. 26.5.1952 in der Fassung des „Pariser Protokolls“ über die Beendigung des Besatzungsregimes in der Bundesrepublik Deutschland v. 23.10.1954, BGBl. 1955 II 405). Soweit es sich jedoch um mittelbares Besatzungsrecht handelte, das formal von deutschen Organen im Auftrag der Besatzungsbehörden erlassen worden war, fiel es in den Anwendungsbereich von Art. 123 I (BVerfGE 2, 181 (199 ff.)).
Art. 123 ordnet die Fortgeltung von Recht über den Zeitpunkt des Zusammentritts des BTags hinaus an ( Fortgeltungsanordnung; vgl. Haratsch ZG 1999, 346 (351 f.)). Erfasst werden daher nur Normen, die zu diesem Zeitpunkt – dem 7.9.1949 – Gültigkeit besaßen. Diese Voraussetzung erfüllen nur Normen, die im Zeitpunkt ihres Erlasses den formellen und materiellen Vorgaben höherrangigen Rechts entsprochen und ihre Geltungskraft auch später nicht verloren hatten.
Vorkonstitutionelles Recht gilt nur fort, soweit es dem GG nicht widerspricht (zu Ausnahmen vgl. Art. 117 und Art. 139). Erforderlich ist die inhaltliche, nicht die formelle Übereinstimmung mit dem GG. Vorkonstitutionelles Recht muss den grundgesetzlichen Vorschriften über Form und Verfahren nicht entsprechen. Die Wahl des Wortes „soweit“ lässt erkennen, dass auch eine teilweise Fortgeltung möglich ist. Der fortgeltende Teil muss aber für sich genommen eine sinnvolle Regelung darstellen (BVerfGE 7, 29 (37)).
Erfüllt eine Norm die Voraussetzungen des Art. 123, so gilt sie in dem Rang fort, den sie zum Zeitpunkt ihres Erlasses besaß (BVerfGE 52, 1 (16 f.)). Gesetzesrang haben damit auch gesetzesvertretende RVOen sowie sog. Regierungsgesetze, die auf der Grundlage des Ermächtigungsgesetzes v. 24.3.1933 ergangen waren.
Die Fortgeltungsansordnung ist nicht befristet. Art. 123 hindert die nach dem GG zuständigen Stellen aber auch nicht daran, fortgeltendes Recht aufzuheben oder abzuändern.
III. Fortgeltung früherer Staatsverträge
Art. 123 II enthält eine Sonderregelung für Staatsverträge, die vom Deutschen Reich abgeschlossen worden waren, nach dem GG jedoch Gegenstände der Landesgesetzgebung betreffen. Art. 123 II hebt einen an sich nach Tatbestand und Rechtsfolge schon der Regelung des Art. 123 I unterliegenden Fall aus Klarstellungsgründen besonders hervor. Für Vertragsgesetze, die Gegenstände der Bundesgesetzgebung betreffen, gilt unmittelbar Art. 123 I (BVerfGE 6, 309 (345)).
Art. 123 II regelt allein die innerstaatliche Fortgeltung des jew. Vertragsgesetzes. Die Vorschrift behandelt nicht die rein völkerrechtlich zu beurteilende Frage der int. Wirksamkeit von Staatsverträgen. Voraussetzung für die Fortgeltung des innerstaatlichen Vertragsgesetzes ist zum einen, dass das Gesetz inhaltlich mit dem GG vereinbar ist und gem. Art. 123 I fortgilt, und zum anderen, dass der Staatsvertrag, auf den es sich bezieht, nach völkerrechtlichen Grundsätzen im Außenverhältnis gültig geblieben ist.
Den Vollzug des Vertrages seitens der Länder kann der Bund jedoch nicht erzwingen. Den Ländern steht es überdies frei, den innerstaatlichen Anwendungsbefehl, der wegen Art. 123 II iVm Art. 124 f. als Landesrecht fortgilt, abzuändern oder aufzuheben (BVerfGE 6, 309 (342 ff.)).
IV. Fortgeltung von Recht der DDR
Art. 123 findet keine Anwendung auf Recht der DDR. Einschlägig ist hierfür Art. 9 des EinigungsV zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR (BGBl. 1990 II 889). Dort wird eine Fortgeltungsanordnung für eine Reihe von Rechtsnormen der DDR getroffen. Voraussetzung der Fortgeltung ist, dass das Recht mit dem GG und mit dem EU-Recht vereinbar ist. Sofern DDR-Recht als Landesrecht fortgilt, muss es auch mit dem Bundesrecht vereinbar sein.