Artikel 125a [Fortgeltung von Bundesrecht; Ersetzung durch Landesrecht]
(1) 1 Recht, das als Bundesrecht erlassen worden ist, aber wegen der Änderung des Artikels 74 Abs. 1, der Einfügung des Artikels 84 Abs. 1 Satz 7, des Artikels 85 Abs. 1 Satz 2 oder des Artikels 105 Abs. 2a Satz 2 oder wegen der Aufhebung der Artikel 74a, 75 oder 98 Abs. 3 Satz 2 nicht mehr als Bundesrecht erlassen werden könnte, gilt als Bundesrecht fort. 2 Es kann durch Landesrecht ersetzt werden.
(2) 1 Recht, das auf Grund des Artikels 72 Abs. 2 in der bis zum 15. November 1994 geltenden Fassung erlassen worden ist, aber wegen Änderung des Artikels 72 Abs. 2 nicht mehr als Bundesrecht erlassen werden könnte, gilt als Bundesrecht fort. 2 Durch Bundesgesetz kann bestimmt werden, dass es durch Landesrecht ersetzt werden kann.
(3) 1 Recht, das als Landesrecht erlassen worden ist, aber wegen Änderung des Artikels 73 nicht mehr als Landesrecht erlassen werden könnte, gilt als Landesrecht fort. 2 Es kann durch Bundesrecht ersetzt werden.
I. Allgemeines
Art. 125a wurde durch Gesetz v. 27.10.1994 (BGBl. 1994 I 3146) in das GG eingefügt und im Zuge der Föderalismusreform (BGBl. 2006 I 2034) geändert. Zusammen mit den durch diese Reform geschaffenen Art. 125b und Art. 125c regelt er die Auswirkungen von Veränderungen im Kompetenzgefüge des GG auf bereits erlassene Rechtsvorschriften. Dabei trifft Art. 125a eine Fortgeltungsanordnung für Vorschriften des Bundes- (Art. 125a I und II) und des Landesrechts (Art. 125a III), deren kompetenziellen Grundlagen wegen Änderung, Aufhebung oder Einfügung bestimmter verfassungsrechtlicher Normen weggefallen sind. Die Vorschrift des Art. 125a dient der Rechtssicherheit, indem sie anordnet, unter welchen Bedingungen gesetzliche Bestimmungen weitergelten und durch wen sie ersetzt werden können (Starck/Schwarz, Föderalismusreform, 2007, Rn. 116).
II. Bundesrecht nach Art. 125a I
1. Anwendungsbereich
Art. 125a I erfasst Recht, das als Bundesrecht erlassen worden ist, aber wegen der Änderung des Art. 74 I, der Einfügung der Art. 84 I 7, 85 I 2, 105 IIa 2 oder der Aufhebung der Art. 74a, 75, 98 III 2 nicht mehr als Bundesrecht, sondern nur noch als Landesrecht erlassen werden könnte. Obwohl Art. 75 nur unter den aufgehobenen Vorschriften genannt wird, erfasst Art. 125a I auch Regelungen, die auf der Grundlage des 1994 geänderten Art. 75 ergangen sind und danach nicht mehr als Bundesrecht hätten erlassen werden können (BT-Drs. 16/813, 20). Das Schicksal von Gesetzen, die auch nach Aufhebung des Art. 75 als Bundesrecht erlassen werden könnten, richtet sich nicht nach Art. 125a I, sondern nach Art. 125b I. Vorkonstitutionelles Recht scheidet aus dem Anwendungsbereich des Art. 125a I aus, weil es nicht „als Bundesrecht erlassen worden ist“. In den Anwendungsbereich des Art. 125a I fallen zB die „allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens“ nach Art. 75 I Nr. 1a aF, mit Ausnahme allerdings der nunmehr in Art. 74 I Nr. 33 enthaltenen Bereiche Hochschulzulassung und -abschlüsse (Art. 125b Rn. 1).
2. Rechtsfolge
Zur Vermeidung eines Regelungsvakuums ordnet Art. 125a I 1 das zeitlich unbefristete Fortgelten des von ihm erfassten Rechts als Bundesrecht an. Die Fortgeltungsanordnung schließt das Recht des Bundesgesetzgebers ein, das Regelungswerk – solange es nicht ersetzt worden ist (Rn. 4 f.) – aufzuheben (BT-Drs. 16/813, 20; zu Art. 125a II: BVerfGE 111, 10 (30 f.)). Auch eine Verlängerung der Geltungsdauer einer Regelung ist dem Bundesgesetzgeber erlaubt (BVerfGE 155, 310 (347)). Um eine Versteinerung des fortgeltenden Rechts zu vermeiden, sind Berichtigungen, kleinere Anpassungen sowie Aktualisierungen zulässig (BVerfGE 155, 310 (346 f.)). Derartige Abrundungen einer bereits zugewiesenen Aufgabe stellen die wesentlichen Inhalte und Strukturen der bisherigen bundesrechtlichen Regelung nicht infrage. Eine Neukonzeption ist dem Bundesgesetzgeber dagegen verwehrt (BVerfGE 155, 310 (347); MKS/Wolff GG Art. 125a Rn. 23; BeckOK GG/Seiler Art. 125a Rn. 4; BK/Wollenschläger Art. 125a Rn. 62).
Das fortgeltende Recht ist vollwertiges Bundesrecht und löst die Rechtsfolge des Art. 31 aus (Kirchhoff NVwZ 2009, 754 (755)). In Ausnahme zu Art. 72 I, der seine Sperrwirkung nicht entfalten soll, berechtigt Art. 125a I 2 die Länder allerdings dazu, fortgeltendes Bundesrecht durch Landesrecht zu ersetzen (Ersetzungsbefugnis). Die landesrechtliche Neuregelung verdrängt das Bundesrecht dann nach der Regel lex posterior derogat legi priori. Das Ersetzen des Bundesrechts durch Landesrecht erfordert, dass der Landesgesetzgeber die Materie in eigener Verantwortung regelt. Eine Ersetzung iSd Art. 125a I 2 liegt auch vor, wenn sich die landesrechtliche Neuregelung auf die inhaltliche Übernahme (zu Art. 125a II: BVerfGE 111, 10 (30)) oder die bloße Aufhebung (DHS/Uhle Art. 125a Rn. 30) fortgeltenden Bundesrechts beschränkt.
Zu partikularem Bundesrecht kann es kommen, wenn nur einzelne Länder von ihrer Ersetzungsbefugnis Gebrauch machen oder ein Land Bundesrecht nur teilweise ersetzt. Ein teilw. Ersetzen bundesrechtlicher Regelungen ist allerdings nur möglich, sofern es sich um einen abgrenzbaren Teilbereich einer Gesamtregelung handelt (BVerfGE 111, 10 (30)) und die verbleibende sowie die neue Regelung insgesamt sinnvoll bleiben (MKS/Wolff Art. 125a Rn. 28). Verwehrt ist es den Ländern, bei Fortbestand der bundesrechtlichen Regelung lediglich einzelne Vorschriften zu ändern (BVerfGE 111, 10 (29)). Um ein dauerhaftes Nebeneinander von Landes- und partiellem Bundesrecht zu vermeiden, kann der Bundesgesetzgeber die bundesrechtliche Regelung aufheben (BT-Drs. 16/813, 20).
III. Bundesrecht nach Art. 125a II
Art. 125a II regelt die Auswirkungen von veränderten Anforderungen an die Ausübung eines Kompetenztitels der konkurrierenden Gesetzgebung. Die Vorschrift erfasst bis zum 15.11.1994 erlassenes, nachkonstitutionelles Recht, für das gem. der bis dahin geltenden Fassung von Art. 72 II ein Bedürfnis für eine bundesgesetzliche Regelung bestanden hatte (Art. 72 Rn. 13), das nach Änderung des Art. 72 II jedoch mangels Erforderlichkeit nicht mehr hätte erlassen werden können.
Wie Art. 125a I ordnet auch Art. 125a II das zeitlich unbefristete Fortgelten ihm unterfallender Rechtsvorschriften als vollwertiges Bundesrecht an (Rn. 3 ff.). Auch hier steht dem Bundesgesetzgeber die Befugnis zu, Berichtigungen, kleinere Anpassungen sowie Aktualisierungen vorzunehmen, um eine Versteinerung des fortgeltenden Rechts zu vermeiden. Eine Neukonzeption ist dem Bundesgesetzgeber dagegen verwehrt (BK/Wollenschläger Art. 125a Rn. 100). Im Gegensatz zu Art. 125a II besteht eine Ersetzungsbefugnis der Länder allerdings – abgesehen von dem Sonderfall des Art. 93 II 2 (Art. 93 Rn. 67) – nur, wenn dies durch Bundesgesetz bestimmt wird. Ob der Bundesgesetzgeber eine Freigaberegelung trifft, steht in seinem Ermessen (Art. 72 Rn. 23). Eine Ermessensreduktion kann sich ergeben, wenn dem Bundesgesetzgeber die fehlende Erforderlichkeit positiv bewusst ist (BT-Drs. 16/813, 21) oder er eine Neukonzeption für notwendig hält, sie aber selbst – mangels Kompetenz – nicht durchführen kann (BVerfGE 111, 10 (31); Starck/Schwarz, Föderalismusreform, 2007, Rn. 123). Auch hier kann es, wenn nur einige Länder von einer ihnen eingeräumten Ersetzungsbefugnis Gebrauch machen, zu partikularem Bundesrecht kommen (Rn. 5).
IV. Landesrecht nach Art. 125a III
Art. 125a III enthält eine Fortgeltungsanordnung für Landesrecht, das wegen der Änderung des Art. 73 nicht mehr als Landesrecht, sondern ausschließlich als Bundesrecht erlassen werden könnte. Solches Landesrecht gilt – spiegelbildlich zur Regelung in Art. 125a I (BT-Drs. 16/813, 21) – zeitlich unbegrenzt als Landesrecht fort, kann aber durch Bundesrecht ersetzt werden. Betroffen sind die Materien des früheren Art. 75 I Nr. 5 und 6 (Melde- und Ausweiswesen, Kulturgüterschutz), die in die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes überführt worden sind (Art. 73 I Nr. 3 und 5a).