Artikel 15 [Vergesellschaftung]
1 Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. 2 Für die Entschädigung gilt Artikel 14 Abs. 3 Satz 3 und 4 entsprechend.
I. Bedeutung und Funktion
Vor allem aus der Entstehungsgeschichte des Art. 15 (s. hierzu Matz JöR 1951, 154 ff.; vgl. auch Stern/Sodan/Möstl/Sodan § 126 Rn. 75 ff.) folgt die verbreitete Assoziation dieser Norm mit einer Ermächtigung zur Sozialisierung (vgl. BVerfGE 12, 354 (364); s. ferner Peters DÖV 2012, 64 f.). Gleichwohl ist Art. 15 bei genauer Betrachtung alles andere als ein „Einfallstor“ im Grundgesetz für die Etablierung des Sozialismus als Wirtschaftsform, dh einer nicht auf Privat-, sondern Gesellschaftseigentum basierenden Wirtschaftsordnung. Zwar kann der Vorschrift entnommen werden, dass die in ihr benannten Sozialisierungsmaßnahmen (Rn. 2 ff.) nicht von vornherein als unzulässige Eingriffsoptionen, insbes. hinsichtlich der Grundrechte aus Art. 12 und 14 und den dort enthaltenen Gesetzes- bzw. Regelungsvorbehalten, zu qualifizieren sind. Das BVerfG bezeichnete die Sozialisierung als eine der „traditionellen Beschränkungen des Eigentums“ (BVerfGE 22, 387 (422)). Allerdings stellt Art. 15 hierfür hohe materielle Hürden („Schranken-Schranken“) auf (Rn. 6 ff.). Daher ist er weniger eine „Sozialisierungsermächtigung“ als vielmehr eine abwehrrechtlich geprägte „Sozialisierungsvermeidungsnorm“ (Stern IV/1/Dietlein, 2319 f.). Schon gar nicht resultiert aus Art. 15 ein Verfassungsauftrag zur Sozialisierung (BVerfGE 12, 354 (363 f.)). Die Sozialisierung stellt eine weitere Eingriffsart neben der Enteignung dar (Stern IV/1/Dietlein, 2301; vgl. auch DHS/Durner Art. 15 Rn. 5; Waldhoff/Neumeier LKV 2019, 385 (394)): Eine Enteignung geht typischerweise einher mit einer anderweitigen Verwendung des vom Staat entzogenen Gutes bspw. im Rahmen eines Bau- oder Infrastrukturprojekts; die Vergesellschaftung zielt demgegenüber als sozial- oder wirtschaftspolitisch intendierte Maßnahme regelmäßig auf eine Fortsetzung der vorher privat unternommenen wirtschaftlichen Nutzung in kollektivistischer Organisationsform ab (dazu eindrücklich Waldhoff/Neumeier LKV 2019, 385 (392); vgl. Kloepfer NJW 2019, 1656 (1658)). Von Art. 15 haben bisher weder der Bundes- noch die Landesgesetzgeber Gebrauch gemacht. Daher ist die Norm bis heute in der Praxis bedeutungslos geblieben (Sachs/Wendt Art. 15 Rn. 2). Jedoch könnte die im Land Berlin von einer Initiative angestrebte Sozialisierung von Wohnungsbeständen großer Wohnungsunternehmen, welche in einem Volksentscheid v. 26.9.2021 die erforderliche Mehrheit gefunden hat, zu einer praktischen Bedeutung von Art. 15 führen.
II. Überführung in Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft
Gegenstand von Art. 15 sind Maßnahmen zur Überführung bestimmter Güter in Formen der Gemeinwirtschaft. Der Begriff „Gemeinwirtschaft“ bildet den Gegenbegriff zur „Privatwirtschaft“ (oder auch: „Erwerbswirtschaft“). Während Privatwirtschaft durch eine grds. erwerbswirtschaftliche Ausrichtung gekennzeichnet, dh auf Gewinnerzielung durch privatnützigen und wirtschaftlich rationellen Einsatz des zum Wirtschaften eingesetzten Privateigentums angelegt ist, zielt Gemeinwirtschaft unter Abkehr von einer streng rationellen Ausrichtung auf eine unmittelbare und optimale Bedürfnisbefriedigung der Allgemeinheit (s. etwa MKS/Depenheuer/Froese Art. 15 Rn. 16). Für die Privatwirtschaft ist die (Fremd-)Bedarfsdeckung lediglich Mittel zum Zweck der Gewinnmaximierung, also nur sekundäres Ziel. Für die Gemeinwirtschaft hingegen ist sie das primäre, unmittelbare Ziel, sodass sie ihrer ganzen Ausrichtung nach gemeinnützig motiviert ist. „Überführung“ in Gemeinwirtschaft bedeutet dabei, dass gemeinwirtschaftliche Strukturen unter staatlichem Zugriff auf bis dato privatwirtschaftlich strukturierte Bedarfsdeckungseinheiten zwangsweise etabliert werden. Mit der in Art. 15 geregelten Sozialisierung hat demnach „klassisches Gedankengut des Sozialismus Eingang in das Grundgesetz gefunden“ (Stern IV/1/Dietlein, 2301; vgl. auch DHS/Durner Art. 15 Rn. 5; Waldhoff/Neumeier LKV 2019, 385 (394)).
Ausdrücklich als Form der Gemeinwirtschaft benannt ist nur das Gemeineigentum, dh die Innehabung des Eigentums durch eine überindividuelle, sich im Staat, in den Kommunen oder in Selbstverwaltungskörperschaften konstituierende Gesamtheit unter Nutzung im Interesse der Gesamtheit oder der Allgemeinheit (vgl. BK/Schliesky Art. 15 Rn. 47). Eine Umverteilung von Eigentum unter Privaten wie im Falle einer „Bodenreform“ ist daher keine Überführung in „Gemeineigentum“ (Sachs/Wendt Art. 15 Rn. 6).
Was zu den anderen Formen der Gemeinwirtschaft zählt, ist bisher nicht abschließend geklärt. Gekennzeichnet sind sie jedenfalls durch das – zumindest formale – Fortbestehen des Privateigentums bei gleichzeitiger Beschränkung der privaten Nutzungsbefugnisse, um die gemeinwirtschaftliche Produktionsweise zu gewährleisten, mithin durch eine Sozialisierung der beherrschenden Nutzungsbefugnisse (s. etwa Püttner, Gemeinwirtschaft im deutschen Verfassungsrecht, 1980, 20 f.). Da unter „Gemeinwirtschaft“ nicht eine bestimmte Organisationsform, sondern ein bestimmtes Wirtschaftsprinzip zu verstehen ist (vgl. Rn. 2), kann eine solche Sozialisierung der Nutzungsbefugnisse nicht nur durch organisationsrechtlich bewirkte Mitbeteiligungen oder Einflussnahmemöglichkeiten der öffentlichen Hand oder gesellschaftlicher Gruppen erfolgen, sondern auch allein durch gesetzliche, die gemeinwirtschaftliche Erbringungsweise sicherstellende Bindungen der privaten Nutzungsbefugnisse (BeckOK GG/Axer Art. 15 Rn. 13). Daher können im Extremfall auch exzessiv wirtschaftslenkende Maßnahmen die Grenze zur Sozialisierung überschreiten, sofern sie die Privatwirtschaftstypik in einem hierfür hinreichenden Maße beseitigen (str., wie hier etwa Bäumler GewArch 1980, 287 (290); MKS/Depenheuer/Froese Art. 15 Rn. 9, 29). Keine Sozialisierung liegt indes in Mitbestimmungsregelungen, solange durch sie die prinzipiell gewinnorientierte, privatnützige Wirtschaftsweise nicht beseitigt wird (MKS/Depenheuer/Froese Art. 15 Rn. 24).
III. Sozialisierungsfähige Güter
Sozialisierungsfähige Güter sind Grund und Boden, Naturschätze sowie Produktionsmittel. Umstr. ist hier vor allem, ob der Begriff „Produktionsmittel“ über Betriebe zur Gütererzeugung hinaus auch Dienstleistungsbetriebe erfasst. Das Schrifttum geht zu Recht überwiegend davon aus, dass Handel, Banken, Versicherungen, Verkehrs- und Transportwesen sowie alle anderen Dienstleistungsbetriebe einer Sozialisierung nicht zugänglich sind (BeckOK GG/Axer Art. 15 Rn. 17; Stern IV/1/Dietlein, 2314 ff.; Sachs/Wendt Art. 15 Rn. 9 ff. mwN). Denn Art. 156 I 1 WRV erstreckte die Möglichkeit einer Vergesellschaftung auf hierfür „geeignete private wirtschaftliche Unternehmungen“. Art. 15 knüpft hingegen gerade nicht an Unternehmungen, sondern an Produktionsmittel an. Zudem fand eine vorgeschlagene Erweiterung auf „wirtschaftliche Unternehmen und ganze Wirtschaftszweige“ in den Beratungen des Parlamentarischen Rates keine Gefolgschaft (s. dazu Stern/Sodan/Möstl/Sodan § 126 Rn. 77). Es zeigt sich also eine Beschränkung von Art. 15 auf solche Unternehmungen, die Güter produzieren. Da aus Grundstücken und Wohnimmobilien, deren Vergesellschaftung derzeit politisch immer noch diskutiert wird, keine gegenständlichen Produkte hervorgehen, stellen sie keine Produktionsmittel dar; sie sind auch nicht als Grund und Boden sozialisierungsfähige Güter, weil die Zulässigkeit der Sozialisierung von Grund und Boden für diejenigen Fälle einzuschränken ist, in denen die auf den Grundstücken errichteten Gebäude das eigentliche Ziel der Sozialisierung und einer Sozialisierung als Produktionsmittel nicht zugänglich sind (s. dazu auch Sodan/Ferlemann LKV 2019, 193 (194 f.)). Hierfür sprechen die im Rahmen einer systematischen Auslegung zu berücksichtigenden Grundsätze der Einheit der Verfassung und der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung. Denn die Beschränkung des Grundgesetzes auf bestimmte Produktionsmittel – und damit im Ergebnis auf bestimmte Formen unternehmerischen Handelns – liefe leer, wenn staatlicherseits über den Grund und Boden, zu dessen Bestandteilen nach § 94 I und II BGB auch Wohnimmobilien gehören, auf diese zugegriffen werden könnte. Deshalb ist nach vielfach vertretener Ansicht insgesamt die Zulässigkeit einer Vergesellschaftung von Grund und Boden einzuschränken für diejenigen Fälle, in denen das eigentliche Ziel der Vergesellschaftung die auf den Grundstücken errichteten Gebäude sind und diese einer Vergesellschaftung als Produktionsmittel nicht zugänglich sind (so auch BeckOK GG/Axer Art. 15 Rn. 15; MKS/Depenheuer/Froese Art. 15 Rn. 40; Sachs/Wendt Art. 15 Rn. 7; aA Stern IV/1/Dietlein, 2313 f.). Der Begriff „Naturschätze“ dürfte wenig problembehaftet sein. Namentlich erfasst dieses Tatbestandsmerkmal als Oberbegriff (s. dazu DHS/Durner Art. 15 Rn. 35) neben den „klassischen“ Bodenschätzen wie etwa Stein- und Braunkohle auch Wasser- und Atomkraft (Stern IV/1/Dietlein, 2314 mwN).
IV. Sozialisierungsvoraussetzungen
Jedwede Überführung in eine Form der Gemeinwirtschaft darf nur durch ein Gesetz erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt (Junktimklausel); Administrativsozialisierungen sind unzulässig (v. Münch/Kunig/Bryde Art. 15 Rn. 23; MKS/Depenheuer/Froese Art. 15 Rn. 44; DHS/Durner Art. 15 Rn. 79). Da an ein vergesellschaftendes Gesetz selbst weitere Anforderungen gestellt werden, handelt es sich bei Art. 15 um einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt (vgl. Waldhoff/Neumeier LKV 2019, 385 (388)). Hinsichtlich der Höhe der Entschädigung verweist Art. 15 S. 2 auf Art. 14 III 3 und 4. Somit ist auch bei der Vergesellschaftung zumindest eine Orientierung am Verkehrswert verfassungsrechtlich geboten (Kloepfer NJW 2019, 1656 (1659); Schede/Schuldt ZRP 2019, 78 (80 f.)). In Bezug auf die Vergesellschaftung besteht insofern die Besonderheit, dass im Rahmen der Abwägung nicht lediglich die Interessen eines Privaten, sondern die vielfach gleichgerichteten Interessen mehrerer Privater Berücksichtigung finden müssen. Deshalb liegt es nahe, dass die Abwägung bei einer Enteignung zu anderen Ergebnissen führen kann als diejenige bei einer Vergesellschaftung (v. Münch/Kunig/Bryde Art. 15 Rn. 25). Wie bei der Enteignung muss aber auch bei einer verfassungsgemäßen, also insbes. verhältnismäßigen Vergesellschaftung gelten, dass sich die Bestandsgarantie der Eigentumsfreiheit in eine Wertgarantie umwandelt. Deshalb gebietet die Entschädigung grds. einen äquivalenten Ausgleich für den Rechtsverlust (MKS/Depenheuer/Froese Art. 15 Rn. 46; BK/Schliesky Art. 15 Rn. 59; Sachs/Wendt Art. 15 Rn. 18; anders: v. Münch/Kunig/Bryde Art. 15 Rn. 25; Thiel DÖV 2019, 497 (506)). „Das Sozialisierungsziel erlaubt keinen entschädigungslosen Zugriff auf den Vermögenswert der Sozialisierungsobjekte, insbesondere keine Konfiskation wegen angeblich sozialschädlicher Eigentumsnutzung“ (DHS/Durner Art. 15 Rn. 86).
Der Terminus „zum Zwecke der Vergesellschaftung“ hat keinen eigenständigen, über den Inhalt von „Gemeinwirtschaft“ hinausgehenden Gehalt, sondern dient lediglich der deutlichen Fixierung des verfassungsmäßigen Überführungsziels einer unmittelbar gemeinwohlorientierten Bedarfsdeckung (Stern IV/1/Dietlein, 2311) und ihrer langfristigen Absicherung (Sachs/Wendt Art. 15 Rn. 15). Andere Überführungsziele, etwa rein fiskalische, sind daher ausgeschlossen.
Die zur Sozialisierung vorgesehenen Unternehmen müssen eine Sozialisierungseignung aufweisen, also insbes. eine hinreichende wirtschaftliche Bedeutung und Größe für die mittels ihrer erstrebten gemeinwirtschaftlichen Bedarfsdeckung haben (MKS/Depenheuer/Froese Art. 15 Rn. 40 f.). Die durch sie bereitgestellten Produkte wiederum müssen sozialisierungsreif sein, dh es muss insoweit einer gemeinwirtschaftlichen Bedarfsdeckung überhaupt bedürfen. Dies ist nur bei elementar notwendigen Gütern der Fall (etwa Nahrung, Wohnraum, Energie), nicht hingegen bei reinen Luxusgütern. Schlüsselindustrien oder wirtschaftliche Großunternehmen sollen die Voraussetzung der Sozialisierungsreife regelmäßig erfüllen (MKS/Depenheuer/Froese Art. 15 Rn. 40).
Umstr. ist, ob Sozialisierungen an dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen sind. So wird vereinzelt vertreten, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip bei der Anwendung des Art. 15 weitgehend dispensiert werde (v. Münch/Kunig/Bryde Art. 15 Rn. 13; Thiel DÖV 2019, 497 (504)). Diesen methodisch fragwürdigen Überlegungen lässt sich jedoch entgegenhalten: Der aus dem Rechtsstaatsprinzip sowie dem Wesen der Grundrechte selbst herzuleitende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genießt Verfassungsrang (Vor Art. 1 Rn. 61) und kann wegen seiner rechtsstaatlichen Komponente dem unveränderlichen Verfassungskern des Art. 79 III zugeordnet werden (Schede/Schuldt ZRP 2019, 78 (80)). Aufgrund der also zumindest bestehenden Ranggleichheit des Verhältnismäßigkeitsgebotes mit der Bestimmung des Art. 15 S. 1 liegt ein Dispens des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit fern. Wenn Art. 15 eine Eingriffsmöglichkeit in das Grundrecht der Eigentumsfreiheit normiert, dann muss sich der Eingriff – wie bei anderen Grundrechtsbeschränkungen auch – an dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit messen lassen. Überzeugender ist es deshalb, mit der weit überwiegenden Ansicht in der Literatur eine Vergesellschaftung am Verhältnismäßigkeitsgebot zu messen und die insoweit allgemein anerkannten Voraussetzungen zu prüfen (MKS/Depenheuer/Froese Art. 15 Rn. 40; Stern IV/1/Dietlein, 2317; Ipsen NVwZ 2019, 527 (528 f.); im Grundsatz auch Kloepfer NJW 2019, 1656 (1660); Sachs/Wendt Art. 15 Rn. 14; aA v. Münch/Kunig/Bryde Art. 15 Rn. 13; Thiel DÖV 2019, 497 (504)). Bei dieser Prüfung ist als legitimer Zweck nicht an die Vergesellschaftung als Selbstzweck anzuknüpfen, sondern an den hinter der Sozialisierung stehenden Zweck, der den Eingriff in die Eigentumsfreiheit rechtfertigen muss (s. dazu ausführl. Stern/Sodan/Möstl/Sodan § 126 Rn. 96 ff.).